Gary Jennings
Der Greif
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S:
Ginevra
C&L:
CasimYr
Frei wie sein Adler will er sein, der Gote Thorn, ein
Hermaphrodit, der in einer streng nach Männern und Frauen geteilten Welt immer ein Fremder sein wird. Das Kloster im Burgund, wo er als Findelkind aufwuchs, muß er verlassen, und der Weg zu den Ostgoten nach Vindobona, dem heutigen Wien, wird für ihn zu einer abenteuerlichen Schule des Lebens: Er ist Waldläufer, Händler und Krieger; er sieht Pracht und
Verwüstungen und ist verwickelt in unzählige Liebeshändel; er wird mit dem Tod bedroht und nimmt selbst anderen das Leben.
Nach der listenreichen Belagerung Singidunums steigt Thom auf zum Berater und Freund Theuderichs, des Königs der Ostgoten. In Konstantinopel gelingt es ihm, seinem Herrn das neue Reich zu sichern, und Theoderich wird zum Rex Italia ernannt. So hat der klug agierende Thom dem König die Macht gegeben, doch am Ende wird er ihm auch den Tod bringen.
ISBN 3-570-02129-7
Titel d. Originalausgabe: »Raptor«
1. Auflage 1993 bei C. Bertelsmann GmbH, München
Schutzumschlag: Manfred Waller unter Verwendung des
Mosaiks »Palast des Theoderich« in Ravenna und eines
kolorierten Holzstichs aus dem 19. Jahrhundert / Archiv für Kunst und Geschichte
Nous revenons toujours à nos premiers amours
Für Joyce
ANMERKUNG DES ÜBERSETZERS
Thorns Erzählung beginnt mit dem traditionellen Anruf der Goten - »Lest diese Runen!« -, aber sie ist in Wirklichkeit fast ganz in fließendem, gut verständlichem Latein verfaßt.
Nur hin und wieder hat Thorn einen Namen, ein Wort oder eine Redensart in der »alten Sprache« der Goten oder in einer anderen Sprache eingefügt. Da die lateinische Schrift der damaligen Zeit keine Möglichkeit vorsah, Laute wie das gotische »ch« zu transkribieren, hat Thorn diese Wörter in gotischer Schrift geschrieben, die zum Teil von den alten Runen abgeleitet ist. Ich habe diese Wörter in die heutige lateinische Schrift übertragen und bin dabei in einer Art und Weise vorgegangen, von der ich hoffe, daß sie dem Leser ermöglicht, sich eine gewisse Vorstellung der ursprünglichen Aussprache zu machen.
Ich habe Thorns fortlaufende, nicht durch Absätze und
Zwischenräume gegliederte Schilderung in Abschnitte und Kapitel eingeteilt, die mir sinnvoll erschienen. Um das Lesen noch mehr zu erleichtern, habe ich gelegentlich Absätze eingefügt und von der Interpunktion Gebrauch gemacht,
Hilfsmittel, die in Manuskripten aus jener Zeit nur selten und eher willkürlich eingesetzt werden. Außerdem habe ich mir eine größere Freiheit erlaubt. An vielen Stellen, an denen Thorn das lateinische Wort barbarus
oder das
entsprechende gotische Äquivalent gasts gebraucht, habe ich »Ausländer« übersetzt. Zu Thorns Zeiten betrachtete praktisch jeder Staat und jeder Stamm andere Staaten und Stämme als »barbarisch«, doch haftete der Bezeichnung im Gegensatz zur heutigen Zeit für gewöhnlich nicht jener Beigeschmack des Rohen und Primitiven an - es sei denn, sie wurde unmittelbar als Schimpfwort benutzt. In den
meisten Fällen der vorliegenden Schilderung ist »Ausländer«
die treffendere Formulierung.
Als Thorn im 5. Jahrhundert n. Chr. geboren wurde, bot die europäische Landkarte ein verwirrendes Bild. Die
Grenzen verschoben sich unablässig durch
Völkerwanderungen, Kriege zwischen den Staaten und den Aufstieg und Niedergang einzelner Länder. Doch braucht der Leser nur zu wissen, daß die Goten die mächtigsten der verschiedenen germanischen Völker - sich damals in die Westgoten im Westen Europas und die Ostgoten im Osten
aufteilten. Ähnlich zerfiel das Römische Reich geographisch in einen westlichen und einen östlichen Teil, von denen jeder unter der Herrschaft eines selbständigen Kaisers stand. Der Kaiser des östlichen Teils residierte im »neuen Rom«, in Konstantinopel.
Es ist unbekannt, wieviele Jahre Thorn für die
Niederschrift dieser Chronik benötigte, doch endet sie im Jahr 526 n. Chr. Viele der in ihr erwähnten größeren und kleineren Städte und Gebiete existieren heute noch unter modernen Namen. Viele andere sind natürlich
verschwunden. Ich habe mich daher entschlossen, die
Ortsnamen so zu belassen, wie Thorn sie kannte. Zur
Orientierung des Lesers zeigen die Karten des Buches die Lage und die Namen, welche die heute noch bestehenden
Orte inzwischen tragen.
Aus Neugier begab ich mich selbst auf die Suche nach
jenem ersten Ort Balsan Hrinkhen, »Ring des Balsam«, der im Text erwähnt wird und der laut Thorn im Königreich
Burgund zwischen Vesontio und Lugdunum lag, dem
heutigen Besangen und Lyon im heutigen Frankreich. Ich fand das Tal auch tatsächlich im Juragebirge, unweit der Schweizer Grenze. Erstaunlicherweise unterscheidet sich das Tal mit seinen Steilwänden und Wasserfällen, der
labyrinthartigen Höhle, dem kleinen Dorf und den beiden Klöstern nach nunmehr fünfzehnhundert Jahren kaum von
Thorns Beschreibung. Noch erstaunlicher ist, daß der Ort auf französisch immer noch denselben Namen trägt: le
Cirque de Baume.
Das Tal ist auch immer noch die Heimat jenes
Raubvogels, den Thorn so sehr bewunderte - jenes
Juikabloth genannten Greifs, der in anderen Teilen
Frankreichs l'aigle brunâtre genannt wird. Die Bevölkerung des Cirque de Baume dagegen nennt ihn l'aigle Jean-Blanc -
und ich halte dies für eine umgangssprachliche
Verballhornung des gotischen juikabloth. Der Vogel wird dort sehr geschätzt, da er, wie Thorn berichtet, hauptsächlich Jagd auf Reptilien, einschließlich der giftigen Viper, macht.
Eingedenk Thorns eigener ungewöhnlicher und paradoxer
Natur interessierte es mich sehr zu erfahren, daß die
Bevölkerung des Cirque de Baume in einer Frage geteilter Meinung ist: ob nämlich der männliche oder der weibliche Adler der erbarmungslosere Räuber ist.
G.J.
Balsan Hrinkhen
1
Lest diese Runen! Aufgeschrieben hat sie Thorn
Mannamawi, und nicht nach dem Diktat eines Herrn schrieb Thorn, sondern in eigenen Worten.
Hört mir zu, die ihr lebt und diese Seiten lest, welche ich schrieb, als ich lebte wie ihr. Dies ist die wahre Geschichte einer vergangenen Zeit. Vielleicht hat sich inzwischen viel Staub angesammelt auf diesen Seiten, und ihr kennt die alten Tage nur noch aus den Liedern eurer Sänger. Leider!
Verändert doch jeder Sänger die Geschichte, von der er singt. Er stutzt sie zurecht und schmückt sie aus, um seine Zuhörer zu betören oder seinem Herrn, Herrscher oder Gott zu schmeicheln oder dessen Feinde zu schmähen, bis die Wahrheit hinter einem Schleier von Lobhudelei und Lügen verschwindet. Damit die Wahrheit dessen, was zu meiner Zeit geschah, bekannt sein möge, schreibe ich sie hier nieder, ohne Ausschmückung, Parteinahme oder Furcht vor Rache.
Doch am besten erzähle ich euch zunächst von mir, von
etwas ganz Bestimmtem, von dem zu meiner Zeit nur sehr wenige wußten. Ihr, die ihr diese Seiten lest, ob Mann, Frau oder Eunuch, müßt wissen, daß ich anders war als ihr.
Wüßtet ihr dies nicht, so könntet ihr vieles von dem, wovon ich später erzählen werde, nicht verstehen. Lange habe ich darüber nachgedacht, wie ich erklären kann, warum ich so anders war - wie ich es erklären kann, ohne daß ihr voller Abscheu zurückschreckt oder verächtlich lacht -, aber es gibt keine Möglichkeit, der Wahrheit auszuweichen. Damit ihr deshalb versteht, warum ich anders war als alle anderen Menschen, halte ich es für das Beste, wenn ich berichte, wie ich es selbst feststellte.
Es geschah, als ich noch ein Kind war und in jenem
großen, runden Tal lebte, das man Balsan Hrinkhen nennt.
Ich mag zwölf gewesen sein und arbeitete als Küchenjunge in der Klosterküche, und ein gewisser Bruder Petrus war damals Küchenmeister. Bruder Petrus stammte aus Burgund und hatte in der Welt draußen Willaume Robei geheißen. Er war mittleren Alters und stämmig, sein Atem ging pfeifend, und sein Gesicht war so rot, daß man die weiße Tonsur
inmitten seiner grau werdenden roten Haare für ein leinenes Käppchen hätte halten können. Da er erst vor kurzem zu uns gekommen war, war er in der Rangfolge der Mönche der
Abtei St. Damian des Märtyrers der geringste, und man hatte ihn deshalb zum Küchenmeister bestimmt, eine Arbeit, die bei den anderen Mönchen besonders unbeliebt war. Bruder Petrus wußte, daß seine Mitbrüder keinen Fuß in die Küche setzten, wenn er dort kochte, aus Furcht, gleich für
irgendeinen Dienst angestellt zu werden. Er wähnte sich deshalb vor Überraschungen und unliebsamen Störungen
sicher, als er meine Kutte hinten lüpfte, mir liebevoll den nackten Hintern tätschelte und mit seinem harten
burgundischen Akzent sagte: »Was hast du für ein reizendes Hinterteil, Bürschchen. Und du hast, offen gesagt, auch ein ganz hübsches Gesicht, wenn es sauber ist.«
Ich war verwirrt über die intime Berührung, aber vor allem kränkten mich seine Worte. Natürlich machte ich mich bei meiner Arbeit als Küchenjunge mit Ruß, Dreck und Asche schmutzig, aber da ich mich oft an einem nahegelegenen Wasserfall vergnügte und dabei als einziger Bewohner des ganzen Tales alle Kleider zugleich ablegte, war ich im allgemeinen viel sauberer als Petrus oder die anderen
Brüder, mit Ausnahme vielleicht des Abtes.
»Der Teil von dir auf jeden Fall ist sauber«, sagte Petrus, und er tätschelte mir noch einmal den nackten Hintern.
»Komm, ich zeig dir was. Mein letzter Junge Terentius hat viel von mir gelernt. Hier, Bürschchen, schau dir das an.«
Ich drehte mich um und sah, daß er seine Kutte aus
grobem Sackleinen vorne hochgehoben hatte. Was er mir
zeigte, war mir nicht neu. Sechs Monate alter menschlicher Urin ist der beste Dünger für Weinstöcke und Obstbäume, deshalb gehörte zu meinen Pflichten das Leeren der Latrine hinter dem Schlafsaal zweimal im Jahr, und dabei hatte ich gesehen, wie andere Brüder Wasser ließen. Noch nie hatte ich freilich das Glied eines Mannes so groß und steif
abstehen sehen wie jetzt bei Petrus.
Petrus langte in den irdenen Topf mit Gänsefett, der in der Küche aufbewahrt wird, und murmelte: »Zuerst das geweihte Salböl.« Er schmierte sich damit ein, bis das steife Ding glänzend rot war. Eingeschüchtert und durcheinander ließ ich zu, daß Petrus mich zu dem schweren Eichenblock zog, der dem Küchenmeister als Hackklotz diente, und mich
vornüber beugte, bis ich mit dem Bauch auf dem Block lag.
»Was tut Ihr da, Bruder?« fragte ich, als er mir die Kutte über den Kopf zog.
»Still, Junge. Ich zeige dir eine neue Art zu beten. Stell dir vor, du kniest auf dem Betstuhl.«
Seine Hände glitten eilig hierhin und dorthin, und eine drang tiefer zwischen meine Beine ein. Offensichtlich
erschrak Petrus über das, was er dort vorfand.
»Wie? Verdammt soll ich sein!«
Sein Wunsch hat sich sicher erfüllt. Er ist jetzt schon lange tot, und wenn der Gott, dem zu dienen er vorgab, gerecht ist, schmort er seither in der Hölle.
»Du durchtriebener kleiner Schwindler«, sagte er mit dem Mund an meinem Ohr. Dann lachte er grob. »Aber was für eine schöne Überraschung! So brauche ich nicht die Sünde der Sodomie zu begehen.« Er lachte noch einmal. »Ist es denn möglich, daß kein anderer Bruder je herausgefunden hat, daß wir eine kleine Schwester unter uns haben? Bin ich der erste? Ja, tatsächlich! Mein Gott, das Häutchen ist noch intakt! Noch keiner hat von der Frucht genascht!«
Obwohl das Gänsefett sein Eindringen erleichterte, fühlte ich einen stechenden Schmerz, und ich tat einen schrillen Schrei.
»Pst... pst...«, keuchte er. Er lag jetzt auf mir und stieß mit dem Unterkörper immer wieder an die Rückseite meiner
Schenkel. »Du lernst jetzt... eine neue Art der... heiligen Kommunion...«
Ich überlegte, daß ich die alte Art bei weitem bevorzugte.
»Hoc est enim corpus meum...«, deklamierte Petrus
zwischen keuchenden Stößen. »Caro corpore Christi...
aaah! Nimm hin!« Ein Zittern durchlief ihn. Ich fühlte etwas Warmes in mir und glaubte zuerst, er habe in mir Wasser gelassen. Doch kein Wasser kam heraus, als er sich
zurückzog. Erst als ich mich aufrichtete, fühlte ich etwas Nasses die Innenseite meiner Schenkel entlanglaufen. Als ich mich mit einem Lappen säuberte, sah ich, daß es sich -
von einigen Tropfen Blut abgesehen, die von mir stammten -
um eine dickflüssige, perlweiße Substanz handelte, als ob Bruder Petrus tatsächlich eine Hostie in mir zurückgelassen hätte, die sich aufgelöst hatte. Ich hatte also keinen Grund, an der Wahrheit seiner Worte zu zweifeln. Ich war nur etwas erstaunt, als er sagte, ich dürfe darüber zu niemandem sprechen.
»Paß auf«, sagte er streng, als er wieder ruhiger atmete und seine Kutte geordnet hatte. »Also, Bürschchen - ich werde dich weiterhin Bürschchen nennen -, du hast es durch betrügerische Mittel irgendwie verstanden, dir hier unter den Brüdern von St. Damian ein gemütliches Nest zu schaffen.
Jetzt willst du natürlich, daß alles so bleibt - daß du nicht entdeckt und hinausgeworfen wirst.«
Er machte eine Pause, und ich nickte.
»Also gut. Ich sage niemandem etwas von deinem
Geheimnis, du Betrüger. Aber!« Warnend hob er einen
Finger. »Du darfst niemandem von unseren privaten
Andachtsübungen erzählen. Wir machen damit weiter, aber außerhalb dieser Küche kein Wort davon! Einverstanden, Thorn? Mein Schweigen gegen dein Schweigen.«
Zwar war mir nicht ganz klar, für was ich mein Schweigen und mein Einverständnis eintauschte, aber Bruder Petrus schien zufrieden, als ich murmelte, ich würde mit
niemandem über unsere privaten Andachten sprechen. Und ich hielt Wort. Nie habe ich einem Mönch oder dem Abt
erzählt, was zwei- bis dreimal pro Woche in der Küche vor sich ging, wenn Petrus mit dem Kochen der mittäglichen Mahlzeit - der einzigen warmen Mahlzeit am Tag fertig war und bevor er und ich die Speisen zu den im Speisesaal
versammelten Mönchen hineintrugen.
Nachdem wir die Prozedur ein- oder zweimal wiederholt
hatten, empfand ich keine Schmerzen mehr, und die
Andachten erregten bei mir jetzt denselben Körperteil wie bei Bruder Petrus, und er stellte sich auch bei mir steif auf.
Außerdem empfand ich noch etwas anderes, ein
drängendes Verlangen, eine Art Hunger, allerdings nicht auf Speisen.
Ich teilte oder besser ertrug die Andachtsübungen das
ganze Frühjahr und den größten Teil des Sommers. Dann, im Spätsommer, wurden Petrus und ich erwischt, und zwar vom Abt persönlich.
Als Dom Clemens an jenem Tag kurz vor der mittäglichen Mahlzeit die Küche betrat, stand Petrus mit gespreizten Beinen über mir. »Liufs Guth!« schrie der Abt, was auf Gotisch soviel heißt wie »Lieber Gott!« Petrus ließ von mir ab und machte einen Satz. »Inwisan unsar heiwagudei!«
klagte der Abt laut, was soviel heißt wie: »Und das in unserem gottesfürchtigen Haus!« Dann donnerte er:
»Kalkinassus Sodomiza!« Ich verstand damals nicht, was das bedeutete, obwohl ich mich erinnerte, eines dieser Worte von Bruder Petrus gehört zu haben. Verwundert,
warum der Abt über unsere Andachtsübungen so empört
sein sollte, blieb ich liegen, wo ich war, die Kutte bis zum Hals hinaufgeschoben.
»Ne, ne!« heulte Bruder Petrus entsetzt auf. »Nist, Nonnus Clemens, nist Sodomiza! Ni allis!«
»Im ik blinda, niu?« rief der Abt.
»Nein, Dom Clemens, Ihr seid nicht blind, und deshalb
flehe ich Euch an, seht, was ich Euch zeige. Es war nicht Sodomie, Nonnus. Weh mir, ich habe gesündigt, ja. Ich bin der Versuchung erlegen, ja. Aber seht doch, Nonnus
Clemens, das heimtückisch verborgene Ding, das mich
versucht hat.«
Der Abt funkelte ihn zornig an, trat dann aber aus meinem Gesichtsfeld hinter mich, und ich kann nur vermuten, was Petrus ihm zeigte, denn Dom Clemens stöhnte erneut auf:
»Liufs Guth!«
Petrus nickte zerknirscht und fügte fromm hinzu: »Und ich danke dem lieben Gott, daß nur ich es war, der
nichtswürdige Neuling und Diener, den dieser falsche
Knabe, diese heuchlerische Eva mit ihrer verbotenen Frucht versucht hat. Ich danke dem lieben Gott, daß er nicht einen meiner würdigeren Mitbrüder versucht hat oder gar -«
»Slaváith!« brüllte der Abt, »schweig!« Mit einem Ruck zog er mir die Kutte über den nackten Hintern, denn von den lauten Rufen angezogen, hatten sich an der Tür zur Küche einige Mönche versammelt und starrten neugierig herein.
»Geh in den Schlafsaal, Petrus, und warte bei deinem
Strohsack; mit dir rede ich später. Bruder Babylas und Bruder Stephanos, ihr deckt im Speisesaal den
Tisch.« Er wandte sich zu mir. »Thorn, mein Sohn - äh, mein Kind - du kommst mit mir.«
Dom Clemens' Wohnung bestand nur aus einem Raum,
der zwar vom gemeinschaftlichen Schlafsaal der Mönche
getrennt lag, aber genauso karg und asketisch eingerichtet war wie dieser. Der Abt schien so verwirrt, daß er nicht wußte, was er zu mir sagen sollte, deshalb betete er zuerst lange Zeit mit mir und wartete dabei wahrscheinlich auf eine Eingebung. Schließlich stand er schwerfällig auf, bedeutete mir, gleichfalls aufzustehen, und stellte mir verschiedene Fragen. Dann sagte er, was er jetzt, da mein »Geheimnis«
offenbar sei, mit mir tun wolle. Seine Worte betrübten uns beide, denn wir hatten einander sehr lieb gehabt.
Am nächsten Tag wurde ich zum Schwesterkloster von St.
Damian auf der anderen Seite des Tals gebracht, zur Abtei St. Pelagia der Büßerin, einem Nonnenkloster, in dem
Jungfrauen und Witwen ein klösterliches Leben führten.
Dom Clemens persönlich geleitete mich und half mir meine geringe Habe tragen.
Dom Clemens stellte mich der alten Äbtissin Domina
Aetherea vor, die einen tüchtigen Schreck bekam, denn sie hatte mich oft bei der täglichen Arbeit auf den Feldern von St. Damian gesehen. Der Abt bat sie, uns in eine Kammer zu führen, in der wir ungestört waren. Dort mußte ich mich nach vorn beugen, wie Bruder Petrus es mir so oft befohlen hatte, und mit abgewendeten Augen schlug Dom Clemens
meine Kutte hoch und entblößte meinen Unterleib vor der Äbtissin. Sie tat einen spitzen Schrei und zog die Kutte eilends wieder herunter. Dann unterhielten sie und der Abt sich erregt auf Latein; sie sprachen allerdings so leise, daß ich nichts verstand. Das Gespräch endete mit meiner
Aufnahme in den Konvent unter denselben Bedingungen wie in St. Damian: als Oblate und Postulant und als Junge oder besser Mädchen für alles.
Von meiner Zeit in St. Pelagia werde ich später noch mehr berichten. Hier mag genügen zu sagen, daß ich viele
Wochen lang arbeitete, betete und lernte, bis mich eines warmen Tages im Frühherbst ein Mitglied des Konvents in derselben Absicht wie Bruder Petrus ansprach.
Diesmal war es allerdings kein stämmiger burgundischer Mönch, der meine wohlgestalte Figur bewunderte und
dessen Hand unter meine Kutte schlüpfte und mein Hinterteil liebkoste. Schwester Deidamia stammte zwar auch aus
Burgund, aber sie war eine hübsche Novizin von
einnehmendem Wesen und nur wenige Jahre älter als ich, und ich hatte sie selbst seit einiger Zeit aus der Ferne bewundert. Deshalb machte es mir überhaupt nichts aus, als Deidamia mich streichelte und dann wie zufällig ihre Hand tiefer gleiten ließ, bis ein Finger sanft in die längliche Öffnung sank, die Petrus benutzt hatte. Entzückt sagte Deidamia: »Oh, du sehnst dich nach Liebe, kleine
Schwester? Du bist ja ganz warm und feucht.«
Wir befanden uns im Stall der Abtei. Ich hatte gerade die vier Kühe von der Weide zum Melken hereingebracht, und Schwester Deidamia hielt einen Melkeimer in der Hand. Ich fragte nicht, ob man sie an diesem Tag geschickt hatte, mir beim Melken zu helfen, denn es schien vielmehr so, als habe sie den Eimer nur mitgebracht, um ihren Besuch zu rechtfertigen und um ungestört mit mir reden zu können.
Langsam ging sie um mich herum und trat dann vor mich
hin. Vorsichtig hob sie meine Kutte ein kleines Stück und sagte, als wolle sie um Erlaubnis bitten: »Ich habe noch nie eine andere Frau ohne Kleider gesehen.«
»Ich auch nicht«, sagte ich mit belegter Stimme.
Schüchtern hob sie meine Kutte ein Stück höher. »Zeig du mir dich zuerst.«
Ich habe bereits berichtet, welche verwirrende physische Veränderung die Aufmerksamkeiten von Bruder Petrus
manchmal bei mir auslösten. Ich muß gestehen, daß die
zarte Berührung von Schwester Deidamias Hand bereits zu demselben Anschwellen und Aufrichten geführt hatte. Es war mir ein wenig peinlich, sie das sehen zu lassen, obwohl ich nicht wußte warum. Bevor ich jedoch Einspruch erheben konnte, hatte sie die Kutte ganz hochgehoben.
»Gudisks Himins!« entfuhr es ihr auf Gotisch, »ach du
lieber Himmel!« Sie riß die Augen auf. Also hatte ich recht gehabt zu zögern - jetzt hatte ich das Mädchen erschreckt.
Das hatte ich wirklich, aber aus einem Grund, den ich nicht wissen konnte. »O weh! Ich hatte immer den Verdacht, daß ich keine richtige Frau bin. Jetzt weiß ich es.«
»Wie?« sagte ich.
»Ich hatte gehofft, wir könnten... du und ich... so schöne Dinge miteinander tun, wie ich das bei Schwester Agnes und Schwester Thaïs gesehen habe. Ich habe ihnen
nachspioniert. Sie küssen sich mit den Lippen, streicheln sich überall mit den Händen und reiben ihre... na ja, diesen Teil eben... aneinander, und sie stöhnen und lachen und schluchzen, weil ihnen das viel Spaß macht. Ich habe oft darüber nachgedacht, wie genau sie das anstellen, aber ich konnte es nie sehen. Sie ziehen sich nie ganz aus.«
»Schwester Thaïs ist viel schöner als ich«, würgte ich heraus. Meine Kehle war wie zugeschnürt. »Warum hast du nicht sie gefragt statt mich?« Ich versuchte angestrengt, ganz ruhig zu bleiben, aber das war schwierig. Deidamia hielt immer noch meine Kutte hoch und starrte mich an. Ich spürte die Luft kühl auf meiner nackten Haut, aber noch mehr spürte ich die pulsierende Wärme dort, wo Deidamia hinstarrte.
»Was?« rief sie. »Ich soll unverschämt zu Schwester
Thaïs sein? Nein, das könnte ich nicht. Sie ist älter und eine Nonne... und ich bin nur eine unerfahrene Novizin. Auf jeden Fall kann ich mir jetzt, wo ich dich sehe, vorstellen, was sie und Schwester Agnes nachts tun. Wenn alle anderen
Frauen so ein Ding haben...«
»Hast du denn keins?« fragte ich heiser.
»Ni allis«, sagte sie traurig. »Kein Wunder, daß ich mich immer minderwertig gefühlt habe.«
»Laß mich sehen.«
Jetzt war sie es, die zögerte, aber ich erinnerte sie an unsere Verabredung: »Ich zuerst, hast du gesagt, große Schwester, und ich habe dir gezeigt, was du sehen wolltest.
Jetzt bist du dran.«
Sie ließ meine Kutte los und löste mit zitternden Fingern den Strick, der ihr als Gürtel diente. Ihr sackleinenes Gewand fiel auf. Wenn der Teil, der steif von mir abstand, noch größer werden konnte, dann tat er das jetzt.
»Siehst du«, sagte sie schüchtern, »zumindest hier bin ich normal. Fühle mal.« Und sie ergriff meine Hand und führte sie. »Aber hier habe ich nur diesen kleinen Knubbel. Er steht auch aufrecht, wie deiner, aber er ist so dürftig, nicht größer als die Warze auf Nonna Aethereas Kinn. Überhaupt nicht wie deiner. Man sieht ihn kaum.« Sie schniefte.
»Dafür habe ich keine Haare um meinen«, sagte ich, um
sie zu trösten. »Und die da habe ich auch nicht.« Ich zeigte auf ihre Brüste, auf denen gleichfalls rosa Knubbel keck abstanden.
»Ach die«, sagte sie verächtlich. »Die hast du nur deshalb nicht, weil du noch ein Kind bist, Schwester Thorn. Ich wette, du hast noch nicht einmal deine erste Regel gehabt. Du bist sicher eine Frau, noch bevor du so alt bist wie ich.«
»Was meinst du damit?«
»Daß du eine Frau wirst? Du bekommst Brüste. Was die
Regel ist, wirst du merken, wenn du sie bekommst. Aber du hast schon jetzt das da« - sie berührte es, und ich zuckte heftig zusammen -»und das werde ich nie haben. Es ist, wie ich befürchtet habe, ich bin keine vollständige Frau.«
»Ich würde mich gern an dir reiben«, sagte ich, »wenn du glaubst, daß dir das wie den anderen Schwestern Freude macht.«
»Würdest du das?« fragte sie eifrig. »Du bist lieb.
Vielleicht kann ich Freude empfinden, wenn ich sie schon nicht geben kann. Hier ist sauberes Stroh. Legen wir uns hin. Das tun Thaïs und Agnes auch.«
Wir streckten uns also auf dem Stroh aus, und nachdem
wir ungeschickt verschiedene Positionen ausprobiert hatten, berührten sich endlich unsere nackten Unterkörper, und ich begann, jenen Teil von mir an ihr zu reiben.
»Aaaaah«, entfuhr es ihr, und sie begann wie Petrus zu keuchen. »Das ist - das ist wunderbar.«
»Ja«, sagte ich schwach.
»Steck ihn... steck ihn rein.«
»Ja.«
Er fand seinen Weg ohne mein Dazutun von selbst.
Deidamia gab unzusammenhängende Laute von sich. Ihr
Körper wand und krümmte sich, und sie klammerte sich mit den Händen wild an mich. Dann schien plötzlich in ihr, in mir, in uns beiden alles auf einen Punkt zusammenzuströmen, und es kam zu einer Explosion. Wir taten beide einen
ausgelassenen Schrei, und dann trat an die Stelle des
überwältigenden Glücksgefühls ein wunderbarer Frieden, der fast genauso schön war.
Erst als wir uns beide vollkommen beruhigt hatten, sagte Deidamia mit zitternder Stimme: »Danke... tausend Dank, kleine Schwester. Es war unvorstellbar schön.«
»Nein, nein... ich danke euch, Schwester Deidamia«,
sagte ich. »Es war auch für mich wunderbar.«
»Liufs Guth!« rief sie plötzlich und kicherte. »Ich bin ja viel nässer als vorher.« Sie befühlte sich und dann mich an derselben Stelle. »Du bist nicht annähernd so naß wie ich.
Was läuft da aus mir heraus?«
Schüchtern sagte ich: »Ich glaube, daß ist die heilige Hostie, große Schwester, nur eben flüssig. Und man hat mir gesagt, daß das, was wir soeben getan haben, lediglich eine private Form der heiligen Kommunion ist.«
»Wirklich? Das ist ja wunderbar! Das ist ja viel besser als altbackenes Brot und saurer Wein. Kein Wunder, daß
Schwester Thaïs und Schwester Agnes es so oft machen.
Sie sind sehr fromm. Und das kam aus dir heraus, kleine Schwester?« Mit einem Mal verdüsterte sich ihre Miene. »Da hast du es wieder. Ich kann das nicht. Mir fehlt da etwas. Ja, für dich muß das Vergnügen doppelt so groß gewesen
sein...«
Um zu verhindern, daß sie erneut anfing, sich wegen ihrer Mängel zu bemitleiden, wechselte ich rasch das Thema.
»Wenn dir diese Art der Kommunion so gut gefällt,
Schwester Deidamia, warum machst du es dann nicht
einfach mit einem Mann? Männer haben sogar ein noch
größeres...«
»Niemals!« unterbrach sie mich. »Den weiblichen Körper kannte ich bisher nicht, weil es in meiner Familie keine anderen Mädchen gab und meine Mutter bei meiner Geburt starb und ich keine Spielkameradinnen hatte. Aber Brüder hatte ich, und ich habe sie nackt gesehen. Igitt! Ich sage dir, Schwester Thorn, Männer sind häßlich. Sie haben überall Haare und Muskeln und eine ledrige Haut, wie der große wilde Auerochse. Natürlich stimmt es, daß dieses Teil bei ihnen ziemlich groß ist. Aber es sieht roh und abstoßend aus. Und darunter hängt ein häßlicher, runzliger Ledersack.
Igitt!«
»Stimmt«, sagte ich, »das habe ich bei Männern auch
gesehen, und ich habe überlegt, ob mir auch noch so etwas wächst.«
»Dir nie«, versicherte sie mir. »Ein paar Haare da unten, ja, und zwei schöne Brüste da oben, aber nicht dieser
schreckliche Sack.« Nach einer Pause sagte sie: »Ein
Eunuch hat so einen Sack auch nicht, genausowenig wie wir Frauen.«
»Das wußte ich nicht«, sagte ich. »Was ist ein Eunuch?«
»Ein Mann, dem man den Sack abgeschnitten hat, meist
schon als Kind.«
»Du lieber Gott!« rief ich aus. »Abgeschnitten? Warum
denn das?«
»Damit er kein richtiger Mann mehr ist. Einige lassen es absichtlich mit sich machen, auch noch als erwachsene
Männer. Es heißt, der große Kirchenlehrer Origines habe sich selbst entmannt, damit ihn die Frauen und Nonnen, die er unterrichtete, nicht in Versuchung führen konnten. Viele männliche Sklaven werden von ihren Herren zu Eunuchen
gemacht, damit sie den Frauen des Hauses dienen können, ohne deren Keuschheit zu gefährden.«
»Liegt eine Frau denn nie mit einem Eunuchen
zusammen?«
»Natürlich nicht. Wozu? Aber ich würde mich auch nie im Leben zu einem Mann legen. Selbst wenn ich die Übelkeit überwinden könnte, die schon beim bloßen Gedanken daran in mir hochsteigt, ich dürfte es ja gar nicht. Wenn ich mit dir liege, kleine Schwester, ist das die heilige Kommunion. Mit einem Mann zu liegen, hieße meine Unschuld beflecken,
und die habe ich allein Gott geweiht, damit ich eine richtige Nonne werden kann, wenn ich vierzig bin. Nein, nie werde ich mich zu einem Mann legen.«
»Dann bin ich froh, daß ich eine Frau bin«, sagte ich.
»Sonst hätte ich dich nicht kennengelernt.«
»Und du hättest erst recht nicht mit mir
zusammengelegen.« Sie lächelte entrückt. »Wir müssen das öfter tun, Schwester Thorn.«
Und das taten wir, wieder und wieder, und wir lehrten
einander viele und verschiedene Arten, die Andacht zu
verrichten. Wir waren so vernarrt ineinander, daß wir
beklagenswert sorglos wurden. Eines Tages kurz vor
Winteranbruch befanden wir uns in solchen Wonnen der
Ekstase, daß wir nicht bemerkten, wie sich eine gewisse Schwester Elissa näherte, die für ihre Neugier bekannt war.
Wir bemerkten sie erst, als sie, vermutlich nachdem sie uns eine Weile mit offenem Mund beobachtet hatte, mit der
Äbtissin zurückkehrte. Die beiden fanden uns noch immer ineinander verflochten vor.
»Seht ihr, Nonna?« sagte Schwester Elissa hämisch.
»Liufs Guth!« kreischte Domina Aetherea. »Kalkinassus!«
Ich wußte inzwischen, daß dieses Wort Unzucht bedeutete, eine Todsünde. Hastig schlüpfte ich in meine Kutte und kauerte verängstigt am Boden. Deidamia dagegen kleidete sich ruhig an.
»Kalkinassus war es nicht, Nonna Aetherea. Vielleicht war es unrecht, die heilige Kommunion während der Arbeitszeit zu feiern, aber...«
»Die heilige Kommunion?! «
»... aber eine Sünde haben wir nicht begangen. Wenn eine Frau mit einer anderen Frau zusammenliegt, gefährdet das ihre Keuschheit nicht. Ich bin so jungfräulich, wie ich immer war, und dasselbe gilt für Schwester Thorn.«
»Slaváith!« donnerte Domina Aetherea. »Wie kannst du es wagen, so zu sprechen? Er und Jungfrau?«
»Er?« wiederholte Deidamia verwirrt.
»Ich sehe den Betrüger zum erstenmal von vorne«, sagte die Äbtissin eisig. »Aber du scheinst mit diesem Anblick wohlvertraut, meine Tochter. Willst du bestreiten, daß das einem Mann gehört?« Sie hob einen Zweig vom Boden auf
und hob damit, ohne mich zu berühren, den Saum meiner
Kutte. Alle drei Frauen betrachteten meine Schamteile, und auf ihren Gesichtern spiegelten sich unterschiedliche
Gefühle. Nur Gott weiß, was für einen Ausdruck mein
Gesicht hatte.
»Ganz klar ein Mann«, sagte Schwester Elissa mit einem dümmlichen Grinsen.
»Aber«, stotterte Schwester Deidamia, »aber Thorn hat
keine äh... äh...«
»Er hat genug, um zweifelsfrei ein Mann zu sein!« sagte die Äbtissin barsch. »Und um aus dir dummem Huhn eine
dreckige Hure zu machen.«
»O weh, Nonna Aetherea, es ist noch schlimmer als das!«
heulte die arme Deidamia in aufrichtiger Verzweiflung. »Ich bin eine Menschenfresserin! Dieser Betrüger hat mich dazu verführt, das Fleisch von Kindern zu essen!«
Die anderen beiden Frauen starrten Deidamia fassungslos an. Bevor Deidamia ihre Worte jedoch näher ausführen
konnte, sank sie ohnmächtig zu Boden. Ich wußte, was sie meinte, aber trotz meiner Angst hatte ich die
Geistesgegenwart, zu schweigen. Nach einem Augenblick
des Schweigens sagte Schwester Elissa: »Wenn
I diese - diese Person ein Mann ist, wie kommt er dann hierher nach St. Pelagia?«
»Das frage ich mich auch«, sagte die Äbtissin grimmig.
So kam es, daß ich wieder einmal meine wenige Habe zu
einem Bündel schnüren mußte und durch das breite Tal
nach St. Damian zurückgebracht wurde. Die Äbtissin wies einen Mönch an, mich in einem Nebengebäude
einzusperren, denn ich sollte nicht hören, wie sie den Abt zur Rede stellte. Doch der Mönch hatte anderes zu tun und ließ mich allein. Ich stahl mich aus dem Gebäude, kauerte mich unter das Fenster der Abtwohnung und lauschte. Die beiden stritten sich laut, und da sie sich unbelauscht glaubten, sprachen sie diesmal nicht Lateinisch, sondern Gotisch.
»... kannst du es wagen, mir so etwas zu bringen und zu sagen, es sei ein Mädchen?« rief die Äbtissin wütend.
»Du hast es für ein Mädchen gehalten«, erwiderte der Abt etwas weniger laut. »Du hast alles gesehen, was ich
gesehen habe, und du bist eine Frau. Kann man mir
Vorwürfe machen, weil ich mein Keuschheitsgelübde ernst nehme? Weil ich ein Priester bin, der keine illegitimen Kinder gezeugt hat? Weil ich nackte Frauen nur auf dem
Krankenbett oder dem Totenlager gesehen habe?«
»Gut, jetzt kennen wir beide die Wahrheit, Clemens, und wir wissen, was zu tun ist. Schicke einen Mönch, um es zu holen.«
Ich eilte zu dem Nebengebäude zurück, um mich dort
abholen zu lassen. In meiner völligen Verwirrung konnte ich nur einen klaren Gedanken fassen. Im letzten Jahr hatte ich verschiedene Namen gehabt, aber jetzt hatte mich zum
erstenmal jemand »es« genannt.
So kam es, daß ich aus beiden Klöstern verbannt wurde
und man mir befahl, Balsan Hrinkhen zu verlassen und nie wieder zurückzukehren. Ich würde wegen meiner Sünden
verbannt, sagte Dom Clemens in einem Gespräch unter vier Augen zu mir, kurz bevor ich ging. Er mußte freilich
zugeben, daß er selbst nicht genau sagen konnte, um
welche Sünden im kirchlichen Sinn es sich handelte. Meine persönliche Habe durfte ich behalten, aber der Abt verbot mir, Dinge mitzunehmen, die dem Kloster gehörten. Zum
Abschied drückte er mir freilich gütig eine Münze in die Hand, einen ganzen silbernen Solidus.
Außerdem sagte er mir mit unglücklicher Miene noch, wer ich war. Ich sei ein Geschöpf jener Art, die auf Gotisch Mannamawi genannt werden, »Mannfrau«. Ich sei kein
Junge und kein Mädchen, sondern beides und deshalb
weder das eine noch das andere. Ich glaube, daß ich in diesem Augenblick aufhörte, ein Kind zu sein, ob nun Junge oder Mädchen.
Als ich ging, nahm ich trotz der Mahnung des Abtes zwei Dinge mit, die strenggenommen nicht mir gehörten. Ich
werde später erzählen, um was es sich handelte. Nichts von dem, was ich mitnahm, sollte sich jedoch für mich als von so großem und dauerhaftem Wert erweisen wie das Wissen,
daß ich in meinem künftigen Leben nie das Opfer der Liebe zu einem anderen Menschen sein würde. Da ich kein Mann war, konnte und würde ich nie eine Frau wirklich lieben. Und da ich keine Frau war, konnte und würde ich nie einen Mann wirklich lieben. Ich würde für immer frei sein von den Fesseln, den zärtlichen Schwächen und der demütigenden Tyrannei der Liebe.
Ich war Thorn Mannamawi, und kein Mann und keine Frau
der Welt würden für mich je etwas anderes sein als meine Beute.
2
Ich weiß nicht, wann oder wo genau ich zur Welt kam. Für einen, der so weit reisen sollte wie ich, der so viele verschiedene Länder und Völker kennenlernen und so vielen Ereignissen beiwohnen sollte, die den Lauf der
menschlichen Geschichte nachhaltig beeinflußt haben, und der eines Tages an der rechten Seite des bedeutendsten Mannes unserer Zeit stehen würde, war ich von
bescheidener, um nicht zu sagen schimpflicher Herkunft.
Über meine Herkunft weiß ich nur, daß die Mönche der
Abtei St. Damian des Märtyrers eines Morgens auf ihrer Türschwelle einen Säugling fanden. Dies geschah um das Jahr 1208 nach der Gründung Roms und während der
kurzen Herrschaft des Kaisers Avitus, im Jahre des Herrn 455 oder 456, ein oder zwei Jahre nach der Geburt des
Mannes, der zum größten Staatsmann unserer Zeit werden sollte. Ich mag damals einige Tage, Wochen oder Monate alt gewesen sein, ich weiß es nicht. Bei mir befand sich weder eine Nachricht noch irgendein Hinweis auf meine Identität -
bis auf den Buchstaben »Thorn«, der mit Kreide auf das Tuch aus grobem Hanf gemalt war, in das man mich
gewickelt hatte.
Das gotische Runenalphabet wird Futhark genannt, weil es mit den Buchstaben F, U und so weiter anfängt - wie das lateinische Alphabet mit A, B und C. Der dritte Buchstabe dieses Runenalphabets heißt Thorn; er steht für den Laut th.
Wenn das Zeichen auf dem Wickeltuch überhaupt eine
Bedeutung hatte, dann könnte es der Anfangsbuchstabe
eines Namens wie Thrasamund oder Theudebert gewesen
sein, was wiederum hieße, daß ich ein Kind aus Burgund oder Franken, ein Gepide, Thüringer, Schwabe oder
Vandale oder der Angehörige irgendeines anderen Stammes germanischen Ursprungs gewesen wäre. Allerdings
benutzen von allen Völkern, die das Gotische sprechen, nur noch die Ostgoten und die Westgoten die alten Runen für ihren Schriftverkehr. Also nahm der damalige Abt von St.
Damian den mit Kreide geschriebenen Buchstaben als
Beweis für meine Abstammung von diesen Goten. Aber
anstatt mich auf einen gotischen Namen zu taufen, der mit th beginnt - er hätte mir dann entweder einen männlichen oder einen weiblichen Namen geben müssen -, nannte er mich
einfach Thorn.
Man könnte jetzt annehmen, ich hätte meiner Mutter, wer immer sie auch gewesen sein mag, nie verziehen, mich
fremden Menschen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu haben. Doch nein, ich verachte oder verurteile diese Frau keineswegs: Ich war ihr im Gegenteil stets dankbar für das, was sie getan hat - denn sonst wäre ich jetzt nicht am Leben.
Hätte sie ihre Stammesgenossen nach meiner Geburt
über mein Anderssein aufgeklärt, hätten diese natürlich sofort geglaubt, meine Mutter müsse ein so entartetes Kind an einem Sonntag oder sonst einem Feiertag empfangen
haben (man wußte, daß Geschlechtsverkehr an solchen
Tagen schlimme Folgen hatte) oder mit einem Skohl
gezeugt haben, einem Waldgeist der alten Religion. Oder sie sei aus irgendeinem Grund Opfer eines msandjis geworden, eines bösen Fluchs, der von einer haljoruna ausgesprochen wird, wie wir sie auf Gotisch nennen, einer alten Hexe, die der alten Religion anhängt und die schrecklichen Runen Haijas, der alten Göttin der Unterwelt, schreiben und
aussprechen kann.
Nur wenn ein Volk durch Krieg, Krankheit, Hungersnot
oder anderes Unheil stark geschwächt ist, läßt es manchmal verkrüppelte, schwächliche, geisteskranke und andere
unerwünschte Kinder am Leben, zumindest eine Zeitlang, bis man sieht, ob sie der Gemeinschaft irgendwie nützen können. Wollen die Eltern das Kind aus Scham nicht
aufziehen, bezahlen manchmal die Ältesten der
Gemeinschaft eine gewisse Summe dafür, daß das
mißgestaltete Kind bei kinderlosen und bedürftigen
Stiefeltern aufwächst. Zum Zeitpunkt meiner Geburt jedoch herrschte Frieden in Burgund. Der kriegslüsterne Attila war unlängst gestorben, und der Rest seiner räuberischen
Hunnen hatte sich wieder gen Osten nach Sarmatien
zurückgezogen. Und in einem Land, das sich eines
verhältnismäßigen Friedens und Wohlstands erfreut, wird ein Säugling, der verkrüppelt oder irgendwie mißgestaltet zur Welt kommt oder einfach nur ein Mädchen ist, zum Wohl des Volkes für »ungeboren geboren« erklärt und getötet oder dem Hungertod ausgesetzt.
Meine Mutter erkannte also wahrscheinlich bald, daß sie einem Wesen das Leben geschenkt hatte, das noch weniger wert war als ein Mädchen und noch monströser als das Kind eines Skohl. Daß sie mich entgegen dem Brauch der
gesamten zivilisierten Welt nicht im Wald aussetzte, den Wölfen zum Fraß, muß man ihr hoch anrechnen - das ist
jedenfalls meine Meinung, schließlich verdanke ich diesem Umstand mein Leben. Meine Mutter hatte ein weiches Herz und legte mein Schicksal in die Hände der Brüder von St.
Damian.
Der damalige Abt und der Wundarzt des Klosters
untersuchten den Findling natürlich. Sie fanden also bald heraus, welch ungewöhnliche Kreatur ich war; daher mein seltsam bedeutungsloser Taufname. Der Abt beschloß wie meine Mutter, mich leben zu lassen, vielleicht aus Neugier.
Außerdem entschied er, mich als Jungen aufzuziehen. Er muß diese Entscheidung aus aufrichtigem Mitleid getroffen haben; sollte ich je das Alter eines Erwachsenen erreichen, würde ich die Privilegien und Rechte eines Mannes
genießen, die in den Ländern der Christenheit selbst Frauen vornehmster Abstammung vorenthalten sind.
So wurde ich in die Abtei aufgenommen - wie ein
gewöhnlicher
Junge, der von seinen Eltern fürs Kloster bestimmt worden ist. Im Dorf fand man eine Amme für mich, bis ich alt genug war, entwöhnt zu werden. Es ist kaum zu glauben, aber
offensichtlich bewahrten die drei Menschen, die die Wahrheit über mich wußten, darüber Stillschweigen. Als ich ungefähr vier Jahre alt war, suchte eine Pest das ganze Königreich von Burgund heim. Zu den Einwohnern von Balsan
Hrinkhen, die der Seuche zum Opfer fielen, gehörten jener Abt, der Wundarzt und auch die Amme, so daß ich mich
später kaum noch an diese drei Menschen erinnern konnte.
Bischof Patiens von Lugdunum benannte bald einen
neuen Abt für St. Damian: Dom Clemens, vormals Lehrer
am Seminar in Condatus. Wie ich selbst und die anderen Mönche und Dorfbewohner, die von der Pest verschont
geblieben waren, nahm auch Dom Clemens
selbstverständlich an, ich sei ein Junge. Und so geschah es, daß meine Doppelnatur während der nächsten acht Jahre
von niemandem bemerkt oder auch nur vermutet wurde
mich selbst eingeschlossen -, bis der lüsterne Bruder Petrus sie zu seiner Freude zufällig für sich entdeckte.
Das Klosterleben war nicht einfach, aber auch nicht
übermäßig beschwerlich; St. Damian hielt sich nicht an die strengen Gesetze der Askese und der Abstinenz, wie es die viel älteren klösterlichen Gemeinschaften in Afrika, Ägypten und Palästina taten. Das strenge nördliche Klima und die körperliche Arbeit, die wir verrichteten, berechtigten uns Mönche von St. Damian dazu, uns besser zu ernähren und uns im Winter an Wein zu erwärmen und im Sommer mit Ale und Bier zu erfrischen. Da die Ländereien der Abtei im Überfluß die verschiedensten Speisen und Getränke
lieferten, sahen der Abt und der Bischof keinen Grund, uns deren Genuß vorzuenthalten.
Die meisten Mönche von St. Damian kamen aus Burgund,
aber es gab bei uns auch zahlreiche Franken und Vandalen, einige Schwaben und Vertreter anderer germanischer Völker und Stämme. Beim Eintritt in die Abtei legten sie ihre germanischen Namen ab und übernahmen lateinische oder
griechische Namen von Heiligen, Propheten, Märtyrern oder ehrwürdigen Bischöfen der Vergangenheit. So wurde aus
Kniva dem Schielenden Bruder Commodian, aus Avilf dem
Starken Bruder Addian, und so fort.
Wie ich bereits erzählte, hatte jeder Mönch eine tägliche Arbeit zu verrichten, und Dom Clemens tat sein Bestes, jedem eine Arbeit zuzuweisen, die er aus seinem Leben
außerhalb der Klostermauern kannte. Unser Wundarzt
Bruder Hormisdas war früher Medicus einer adligen Familie in Vesontio gewesen. Bruder Stephanus, der einst ein
großes Gut verwaltet hatte, war nun unser Kellermeister und Herr über unsere Vorräte.
Mönche, die des Lateins mächtig waren, wurden
Präzeptoren, Lehrer, und kopierten Schriftrollen und Bücher im Skriptorium der Abtei, während andere, die künstlerisch begabt waren, die Texte mit Bildern schmückten. Brüder, die Gotisch lesen und schreiben konnten, arbeiteten im
Chartularium, in dem alle Schriftstücke des Klosters sowie die Hochzeits-, Geburts-und Todesurkunden und
gegenseitigen Pachtverträge der im Tal wohnenden Laien aufbewahrt wurden. Bruder Paulus, der in beiden Sprachen meisterhaft zu schreiben verstand, war Dom Clemens'
persönlicher Schreiber. Er kratzte die vom Abt diktierten Briefe so schnell, wie sie gesprochen wurden, auf
Wachstafeln, um sie anschließend in Schönschrift auf
Pergament zu schreiben.
Zu den Ländereien der Abtei gehörten Krauter- und
Gemüsegärten und Höfe und Scheuern mit Geflügel,
Schweinen und Milchkühen, die von Mönchen versorgt
wurden, die früher Bauern gewesen waren. Außerdem
besaß die Abtei innerhalb und außerhalb des Tales weite Felder, Weinberge, Obstgärten und Weiden für Schafe und Rinder. In St. Damian gab es im Gegensatz zu vielen
anderen Mönchsklöstern keine Sklaven; statt dessen stellte man einheimische Bauern an, den Boden zu pflügen und die Herden zu beaufsichtigen.
Selbst der einfältigste unserer Klosterbrüder - ein armer Kerl, dessen Kopf wie ein Kegel nach oben spitz zulief -
erhielt einige einfache Aufgaben zugewiesen, welche er mit großem Stolz und großer Selbstzufriedenheit erfüllte. Dieser Bursche hatte früher Nethla Johannes geheißen - vermutlich wegen der Form seines Kopfes, denn der Name bedeutete
»Nadel, Johannes' Sohn« -, aber jetzt hatte er den noch lächerlicheren Namen Bruder Joseph angenommen.
Lächerlich deshalb, weil kein Mönch oder Priester, kein Kloster und keine Kirche sich jemals nach dem heiligen Joseph nannte, der, wenn überhaupt, lediglich als
Schutzpatron der betrogenen Ehemänner galt. An
Sonntagen und anderen Feiertagen hatte Bruder Joseph die Aufgabe, laute hölzerne Rasseln zu schütteln und so die Leute in Tal und Dorf zum Gottesdienst in der Klosterkapelle zusammenzurufen. An anderen Tagen stand er als
Vogelscheuche auf einem Acker und rasselte, um die Vögel fernzuhalten.
Meine Pflichten als Kind waren fast genauso anspruchslos wie die von Bruder Joseph, aber wenigstens waren sie so abwechslungsreich, daß mir nicht langweilig wurde. So half ich etwa im Skriptorium, frischen Pergamentbögen den
letzten Glanz zu verleihen - man benutzt dazu das Fell eines Maulwurfs, weil es die Eigenschaft hat sich anzuschmiegen, egal in welche Richtung man reibt; anschließend rauhte ich die Oberfläche der Bögen mit Bimsstein auf, damit die
Präzeptoren mit ihren Federkielen gut darauf schreiben konnten. Meist war ich sogar derjenige, der zuvor die
Maulwürfe mit einer Schlinge gefangen hatte, der die
Galläpfel sammelte, aus denen Tinte hergestellt wurde, und der beim Rupfen der Schwäne das schmerzhafte Stechen
der Federkiele aushalten mußte.
An anderen Tagen sammelte ich auf den Feldern Myrte,
aus der unser Bruder Medicus einen kräftigen Tee braute, oder Distelwolle, mit der Bruder Schneider seine Kissen füllte; die Gänse und Schwäne versorgten uns zwar reichlich mit weichen Flaumfedern, doch war ein solcher Luxus im Schlafsaal eines Klosters unvorstellbar. An wieder anderen Tagen zog ich ein verzweifelt gackerndes und flatterndes Huhn durch sämtliche Rauchfänge der Abtei, um sie zu
säubern. Den Ruß brachte ich dann unserem Bruder Färber, der ihn mit Bier aufkochte und eine braune Tinktur zum-Färben der Mönchskutten daraus herstellte.
Mit zunehmendem Alter wurden mir verantwortungsvollere Pflichten übertragen, etwa bei Bruder Sebastian in der Molkerei. Bruder Sebastian goß Sahne in zwei Korbfässer, die über den Rücken unseres alten Zugpferdes hingen, und sagte feierlich: »Sahne ist die Tochter der Milch und die Mutter der Butter.« Dann setzte er mich auf die Stute und hieß mich, im Hof so lange im Schrittempo mit ihr
herumzureiten, bis sich die Sahne wie von Zauberhand in Butter verwandelt hatte.
Nun gut. Von frühester Jugend an mußte ich hart arbeiten und lernen, und nur selten kam ich aus dem von steilen Felswänden eingeschlossenen Tal hinaus. Aber da ich nie ein anderes Leben kennengelernt hatte als dieses, hätte ich mich vielleicht damit zufrieden gegeben und mir kein
anderes gewünscht. Wenn mich in späteren Jahren Wein
oder körperliche Liebe in eine nachdenkliche Stimmung
versetzten, überlegte ich, daß ich mich an jenem Bruder Petrus nicht ganz so hart hätte rächen sollen, wie ich es tat.
Wäre er nicht gewesen, ich säße vielleicht heute noch in St.
Damian oder einem anderen Kloster, und mein Geheimnis
wäre selbst für mich noch ein Geheimnis, verborgen unter der Kutte eines Mönchs, Meßdieners, Diakons, Priesters, Abts oder womöglich sogar Bischofs.
Ich war nämlich gründlich belesen in den heiligen Schriften der christlichen Kirche und deren Lehren, Vorschriften und Liturgie - ich wußte weit mehr als die meisten Klosterschüler.
Das kam daher, daß Dom Clemens seit seiner Ankunft im
Kloster ein persönliches Interesse daran gezeigt hatte, mir zu einer gewissen Bildung zu verhelfen. Wie alle anderen glaubte er, ich sei gotischer Herkunft und der gotische Glaube, Aberglaube oder Unglaube sei mir angeboren. Er versuchte deshalb, mir denselben auszutreiben und mich im rechten christlichen Glauben zu erziehen.
Wenn der Abt sich zu mir setzte, vergaß er nie, mit
Abscheu in der Stimme auszurufen: »Die Goten, mein Sohn, sind ein uns fremdes Volk. Sie haben wölfische Namen und wölfische Seelen, und jeder zivilisierte Mensch sollte sie meiden.«
»Aber Nonnus Clemens«, wandte ich bei einer solchen
Gelegenheit ein, »unser Herr Jesus Christus hat sich nach seiner glorreichen Geburt doch zuerst Fremden geoffenbart.
Er kam aus Galiläa, und die drei Weisen kamen aus
Persien.«
»Je nun«, sagte der Abt, »es gibt solche und solche. Die Goten sind Barbaren, Wilde, Bestien. Wie ihr Stammesname schon sagt, sie sind Gog und Magog, feindliche Mächte, deren unheilvolles Kommen von Ezekiel und in der
Offenbarung vorausgesagt wird.«
»Dann sind die Goten so hassenswert wie die Heiden.
Oder die Juden.«
»Nein, Thorn, die Goten sind noch viel verwerflicher, denn sie sind Ketzer, Arianer. Ein Arianer ist ein Mensch, der das Licht der Wahrheit zwar kennt, jedoch üble Ketzerei dem rechtmäßigen Glauben vorzieht. Der heilige Ambrosius sagt, daß Ketzer viel größere Gotteslästerer sind als der
Antichrist, ja der Teufel selbst. Thorn, mein Sohn, wenn die Ostgoten und die Westgoten nur Barbaren und Wilde wären, wäre alles halb so schlimm. Weil sie aber obendrein Arianer sind, müssen wir sie verabscheuen.«
Weder Dom Clemens noch irgend jemand sonst konnte
damals wissen, daß noch zu meinen Lebzeiten die ganze
uns bekannte Welt von arianischen Goten regiert werden sollte; daß einer von ihnen der erste Herrscher seit
Konstantin sein sollte, der den Beinamen »der Große«
erhielt; daß er seit Alexander der erste sein sollte, der diesen Beinamen verdiente - und daß ich, Thorn, neben ihm sitzen würde.
3
Was die weltliche Erziehung anlangt, die ich in St. Damian erhielt, so begann auch sie in meiner frühesten Jugend.
Mein Lehrer war Bruder Methodius, ein Gepide, der Gotisch sprach. Wie Kinder eben sind, stellte ich immerfort dumme Fragen, und der Mönch beantwortete sie unter Aufbietung all seiner Geduld nach bestem Wissen.
Womöglich aus reiner Notwehr brachte Bruder Methodius
mir bei, Gotisch zu lesen, und ich überredete Bruder
Hilarion, mich in Latein zu unterrichten. Bis auf den heutigen Tag sind dies die beiden einzigen Sprachen, von denen ich behaupten kann, sie einigermaßen zu beherrschen. Auf
Griechisch kann ich mich zur Not unterhalten, von anderen Sprachen kenne ich nur einzelne Wörter. Aber man
vergesse nicht: Noch kein Mensch hat alle Sprachen der Welt gesprochen, außer vielleicht die heidnische Nymphe Echo.
Natürlich war die weltliche Erziehung eines
Klosterschülers ähnlich wie der religiöse Unterricht allein auf das Studium frommer Werke begrenzt, gegen welche die
heilige Mutter Kirche keine Einwände hatte. Doch Dom
Clemens verbot mir nie eines der Bücher, die ich im
Skriptorium fand. Ich vertiefte mich also pflichtbewußt in die lateinischen Werke der Kirchenväter und die von ihnen
gebilligten Werke wie Sallusts Geschichtsbücher, Ciceros Reden oder Lukians kunstvolle Darstellungen, las daneben aber auch viele Werke, die von der Kirche nicht erlaubt waren. Neben den Komödien von Terenz, die aufgrund ihrer
»erhebenden« Wirkung erlaubt waren, las ich die Komödien von Plautus und die Satiren von Persius, die als
»menschenfeindlich« verpönt waren. Das Ergebnis meiner unersättlichen Neugier war, daß mein Kopf schließlich mit einer Mischung widersprüchlicher Überzeugungen und
Philosophien vollgestopft war.
Die meisten Dinge, die ich lernen mußte, stellten sich mit der Zeit als falsch heraus, die meisten Dogmen als nicht haltbar und die meisten Argumente als unbegründet. Und vieles, was einem Kind genutzt hätte, konnte oder wollte kein Mönch unterrichten. Zum Beispiel wurde mir immer
wieder eingebleut, jegliche sexuelle Aktivität sei sündhaft, schmutzig und böse, schon der Gedanke daran sei
verwerflich und sofort zu verdrängen. Niemand jedoch sagte mir, wovor genau ich mich in acht nehmen sollte - daher meine völlige Ahnungslosigkeit, als ich Bruder Petrus und dann Schwester Deidamia begegnete.
Obwohl ich viel wertloses Zeug lernen mußte und vieles Wichtige nicht erfuhr, lernte ich wenigstens lesen, schreiben und rechnen. Mit diesen Fähigkeiten und Dom Clemens'
Erlaubnis, mich frei im Skriptorium zu bewegen, verschaffte ich mir noch in St. Damian Zugang zu vielen wissenswerten Dingen und Gedanken, die im vorgesehenen Lehrplan nicht enthalten waren. Und was ich auf diese Art ganz allein für mich lernte, ermöglichte mir, viele der Lehrsätze, mit denen meine Lehrer mich überhäuften, zumindest in Frage zu
stellen - rein gedanklich natürlich, denn ich wagte nicht, meinen Zweifeln laut Ausdruck zu verleihen. Mit der Zeit lernte ich immer mehr für mich selbst, und es gelang mir, den Ballast falscher Lehren und erbärmlicher Lügen
abzuwerfen, mit denen unsere Lehrer uns füttern mußten.
Ungefähr ein Jahr bevor ich St. Damian verließ,
verschaffte meine überdurchschnittliche Bildung mir die Möglichkeit herauszufinden, was außerhalb der
Klostermauern, des Tales und der uns umgebenden Berge, ja sogar Burgunds vor sich ging. Bruder Paulus, Dom
Clemens' persönlicher Schreiber, wurde krank und
bettlägerig. Trotz unserer Gebete und der besten Pflege, die ihm unser Wundarzt angedeihen lassen konnte, siechte
Bruder Paulus dahin und starb schließlich.
Mir wurde die unerwartete Ehre zuteil, ihm als Schreiber nachzufolgen oder vielmehr seine Aufgaben meinen
anderen Pflichten hinzuzufügen. Damals konnte ich bereits Gotisch und Latein lesen und schreiben, was keiner der Präzeptoren im Skriptorium oder Chartularium von sich
behaupten konnte. So gab es unter den Mönchen nur wenig Protest darüber, daß ich bevorzugt worden war. Ich brauche nicht darauf hinzuweisen, daß ich natürlich nicht halb so schnell und akkurat wie Bruder Paulus darin war, die Worte des Abts zuerst in Wachs zu ritzen und dann auf Pergament zu schreiben. Doch Dom Clemens gestand meiner
Unerfahrenheit einiges zu. Er diktierte langsamer und
genauer als zuvor, und er ließ mich zuerst eine Rohfassung seiner Diktate anfertigen und korrigierte die Fehler, bevor ich alles ins reine schrieb.
In Dom Clemens' Korrespondenz ging es überwiegend um
einige sehr spezielle Aspekte der Kirchenlehre und die Interpretation dunkler Bibelstellen. Was ich dabei von der Kirche erfuhr, rief nicht nur Bewunderung in mir hervor.
4
Ich will nicht den Eindruck erwecken, die dreizehn Jahre, die ich in Balsan Hrinkhen verbrachte, hätten nur aus harter Arbeit und fleißigem Lernen bestanden. Das breite Tal war wunderschön, und manchmal stahl ich mir etwas Zeit, um mich an dieser Schönheit zu erfreuen. Vielleicht habe ich auf meinen Ausflügen in die freie Natur genausoviel gelernt wie von meinen Lehrern und den Schriftrollen und Büchern.
In Balsan Hrinkhen gab es auch ein Dorf, das aber nicht größer war als eines der beiden Klöster mit seinen
Gebäuden. Es bestand nur aus den strohgedeckten
Lehmhütten der Bauern, die eigene oder dem Kloster
gehörende Felder bestellten, und den Werkstätten der
Handwerker: einer Töpferei, einer Gerberei, einer
Wagenbauerei und einigen anderen. Das Dorf verfügte über keine einzige der Annehmlichkeiten der Zivilisation, es hatte nicht einmal einen Marktplatz, weil hier nicht gehandelt wurde. Was die Dörfler selbst nicht anbauen konnten, wurde aus einem der größeren Dörfer weiter oben in den Bergen herangekarrt.
Unser Tal wurde nicht wie die Hochebene von einem
gewöhnlichen Fluß mit Wasser versorgt, sondern von einem Strom, der mitten aus einer Felswand hervorbrach. Niemand wußte, wo seine Quelle verborgen war. Hoch droben im Fels klaffte ein. großes, schwarzes Loch, aus dem das Wasser hervorsprudelte. Von dort strömte es über bemooste
Terrassen nach unten; auf jeder Stufe hatte sich ein kleiner Teich gebildet. Vom Fuß des Felsens rauschte der Strom im Zickzack weiter, bis er im Talgrund in einen großen, tiefen, stillen See mündete, an dessen anderem Ufer das Dorf lag.
Der schönste Teil des Flusses war der, wo er aus dem
Felsen sprudelte und sprühend und schäumend die
Felsterrassen hinunterstürzte. Am Rand der kristallklaren Teiche auf den Terrassen hatte sich Schlamm aus dem
Erdinneren, in dem der Fluß entsprang, abgelagert. Da die Terrassen zu klein und zu schlecht zugänglich waren, um sie zu bestellen, ließ man hier wilde Blumen, wohlduftende Gräser und Krauter und blühende Sträucher wachsen. Hier konnte man in den warmen Monaten des Jahres herrlich
baden, spielen oder auch nur sich ausstrecken und träumen.
Ich kletterte oft in die Höhle hinein, aus der das Wasser kam, und wahrscheinlich drang ich tiefer ein als je einer der furchtsamen und wenig neugierigen Dörfler. Stets wählte ich dazu eine Zeit, in der die Sonne am weitesten in die Höhle schien. Aber wir von Balsan Hrinkhen waren daran gewöhnt, daß die Sonne abends schnell hinter den Felsen im Westen verschwand. Selbst wenn ich den besten Zeitpunkt abpaßte und das grüne Moos am Rand der Höhle und die grünen
Kletterpflanzen an der Decke golden in der Sonne glänzten, schien das Licht nur zwanzig Schritte in die Höhle hinein.
Den weiteren Weg mußte ich mir in zunehmender
Dunkelheit suchen. Ich ging soweit ich konnte, bis ich schließlich meine Fackel anzünden mußte. Ich hatte immer zumindest eine dabei: einen Stecken aus Tannenholz, der mit in Wachs getauchtem Flachs umwickelt war. An meinem Gürtel steckten Feuerstein, Feuerstahl und Zunder. Eine solche Fackel brennt viel heller als eine Kerze und
genausolang. Bis zum Ende der Höhle drang ich jedoch nie vor.
Auf einer der Felsbänke der Kaskaden machte ich eines
Tages eine aufregende Entdeckung. An einem Teich
bemerkte ich einen Felsen mit scharfen Kanten, der einer riesigen, auf dem stumpfen
Ende stehenden Axt ähnelte. Wie die anderen Felsen war er ganz mit Moos bedeckt - oder fast ganz. Denn mir fiel auf, daß er eine Einkerbung hatte, als ob ein Holzfäller mit dieser Axt unbedacht auf etwas Hartes geschlagen und dadurch
die Schneide beschädigt hätte. Die Kerbe sah aus, als ob sie von der Feile eines Schmieds stammte, einer guten Feile, die nicht schnell stumpf wird, denn die Kerbe war so breit und tief, daß mein kleiner Finger hineinpaßte. In ihr wuchs kein Moos; der Stein war glatt poliert wie feines Pergament, das man mit einem Maulwurfspelz poliert hat. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie die Kerbe da hineingekommen war, durch wen und aus welchem Grund. Es sollte noch eine
Weile dauern, bis ich herausfand, welch besondere
Bewandtnis es damit hatte.
Doch alles zu seiner Zeit. Zunächst will ich mit der
Beschreibung von Balsan Hrinkhen fortfahren.
Wie schon erwähnt, gab es in unserem Tal Weiden für
Schafe und Kühe, die aber natürlich nicht so groß waren wie die Weiden auf der Hochebene. Im Dorf gab es hübsche
Vorgärten und weiter weg Getreidefelder, Obstgärten,
Weinberge, Hopfenfelder und sogar Olivenhaine, denn das Tal war durch die Felsen so geschützt, daß Olivenbäume trotz der nördlichen Lage und der großen Entfernung von ihrer mittelmeerischen Heimat gediehen. Zwischen den
bebauten Feldern befanden sich brachliegende Felder, auf denen ein Jahr alles wild wuchs.
In den Gärten und Obstgärten und auf den Weiden und
Feldern waren stets Männer, Frauen und Kinder bei der
Arbeit. Ein fremder Beobachter hätte vermutlich nicht
zwischen Bauern und Mönchen unterscheiden können, denn alle trugen dieselben Kittel aus Sackleinen mit Kapuzen, die sie vor Sonne und Regen schützten. Die Kleider der Männer und Frauen, die in den geistlichen Stand eingetreten waren -
ob nun Mönch oder Nonne oder Bischof durften nicht feiner sein als das Gewand des ärmsten Bauern.
Bei der Feldarbeit sahen die Mönche und Bauern nicht nur gleich aus, sie arbeiteten auch alle gleichermaßen stumm vor sich hin, mit Ausnahme einiger Schaf- und Ziegenhirten, die auf ihren Rohrflöten bliesen. Aber während die Mönche ein paar Worte mit mir wechselten oder mir zunickten, wenn ich zu ihnen aufs Feld kam, schienen die Bauern mich nie wahrzunehmen - sie schienen ausschließlich mit ihrer Arbeit beschäftigt. Ihr Blick war so leer wie der ihrer Kühe. Ich glaube allerdings nicht, daß sie absichtlich unfreundlich waren. Sie waren einfach träge Menschen.
Eines Tages sah ich, wie ein älterer Mann und eine ältere Frau Olivenbäume mit Schafmist düngten. Ich fragte, warum zwischen den sauberen Baumreihen eine große, kreisrunde Lücke ausgespart war. Der alte Mann grunzte nur und fuhr mit seiner Arbeit fort, aber die Frau hielt inne und sagte:
»Siehst du denn nicht, was in der Lücke wächst?«
»Zwei andere Bäume«, sagte ich. »Schattenspendende
Bäume.«
»Ja, und einer davon ist eine Eiche. Oliven mögen keine Eichen. Sie tragen nicht, wenn sie neben Eichen stehen.«
»Warum nicht?« fragte ich. »Neben der Eiche steht eine Linde. Der scheint es doch auch nichts auszumachen.«
»Eichen und Linden wachsen immer zusammen, Junge.
Vor langer Zeit, als es noch die alte Religion gab, beteten ein Mann und seine Frau, die einander sehr lieb hatten, zu den alten Göttern, sie möchten sie doch im gleichen
Augenblick sterben lassen. Die Götter hatten Mitleid und erfüllten ihnen den Wunsch - und noch mehr. Nach ihrem Tod wurden die beiden wiedergeboren: als Eiche und Linde, die aus Liebe zueinander Seite an Seite stehen. Und so ist es bis heute geblieben.«
»Slaváith, dummes Geschwätz!« knurrte ihr Mann.
»Arbeite lieber!«
Die Frau murmelte mehr zu sich selbst als zu mir: »Oh vái, früher war alles besser!« und griff wieder zur Mistgabel.
Doch selbst die Bauern arbeiteten nicht den ganzen Tag.
Abends trafen sich die Männer zum Würfelspiel und
betranken sich mit Bier und Wein. Wenn sie die drei kleinen, gepunkteten Würfel aus Knochen warfen, riefen sie mit ihren rauhen Stimmen Jupiter, Halja, Nerthus, Dus und Venus und andere Dämonen an. Natürlich konnten sie keine christlichen Heiligen anrufen, wenn sie Wetten abschlossen. Das
Würfelspiel war offensichtlich älter als das Christentum, denn der höchste Wurf - drei Sechsen - wurde »Venuswurf«
genannt.
Neben dem Würfelspiel hatten die Bauern noch andere
Vergnügungen, die mir eindeutig gegen die Gebote der
Kirche zu verstoßen schienen. Im Sommer feierten sie mit ausgelassener Fröhlichkeit das heidnische Fest der Isis und Osiris. Dabei wurde viel gegessen, getrunken, getanzt und offensichtlich noch so manches mehr, denn neun Monate
später kam immer eine größere Anzahl Kinder zur Welt.
Obgleich es Brauch war, daß ein Neugeborenes christlich getauft, ein Brautpaar christlich verheiratet und ein Toter christlich bestattet wurde, gab es bei den Bauern zu all diesen Gelegenheiten noch zusätzliche Rituale. Über dem Kind, der Braut oder dem Grab schwang der Dorfälteste im Kreis einen primitiven Hammer, einen Stein, den man mit Lederriemen an einen dicken Stecken gebunden hatte. Aus Büchern, die in Gotisch geschrieben waren, wußte ich, daß der Hammer an den Hammer Thors erinnern sollte, einen
Gott der alten Religion. Manchmal sah man auch an der
Wand des Hauses, in dem ein Kind geboren war oder die
Braut wohnen würde, oder auch in der lockeren Erde eines frisch ausgehobenen Grabes ein magisches Zeichen: ein
Hakenkreuz mit vier gleichlangen, rechtwinklig abgeknickten Balken, die Thors Hammer darstellten, wie er im Kreis
geschwungen wird.
Auf meinen Ausflügen und Abenteuern lernte ich bald
jeden Baum, jede Pflanze und jedes Tier in Balsan Hrinkhen kennen. Von den wilden Tieren, die dort lebten, mußte man nur die giftige Viper meiden und so schnell wie möglich töten. Selbst der boshafte rotköpfige Specht war tagsüber ungefährlich. Ich beobachtete ihn oft, wie er von Baum zu Baum flog, denn es heißt, daß er einen manchmal zu einem versteckten Schatz führt - doch dieses Glück hatte ich nie.
Desgleichen vermied ich tunlichst, mich zum Ausruhen
hinzulegen, wenn ein Specht in der Nähe war, denn man
sagte ihm auch nach, er picke Schlafenden ein Loch in den Kopf und lege dort Larven hinein, so daß seine Opfer
verrückt würden. Die weißen Störche, die jedes Frühjahr kamen, machten einen unerträglichen Lärm, wenn sie mit den Schnäbeln klapperten; sie hörten sich an wie
Bauersleute, die in Holzschuhen tanzten. Doch sie waren stets willkommen, weil sie einem Haus, auf dessen Dach sie ihr Nest bauten, Glück brachten.
Einmal begegnete ich auf einem meiner Ausflüge sogar
einem ausgewachsenen Wolf, ein andermal einem Fuchs.
Aber ich brauchte nicht die Flucht zu ergreifen, denn der Wolf schleppte sich matt dahin, und schon kam ein Bauer mit einem Knüppel herbeigeeilt, um ihn totzuschlagen und ihm das Fell abzuziehen. Raubtiere kamen normalerweise nur nachts nach Balsan Hrinkhen, und sie jagten nur dort, wo keine Menschen wohnten. Doch die Dorfbewohner legten rohes Fleisch aus, in dem sie zu Pulver zerriebenen
Borretsch versteckt hatten, und der Borretsch machte die Wölfe und Füchse verwirrt und blind, so daß sie am
hellichten Tag hilflos herumtorkelten.
Es gab allerdings auch ein wildes Tier, welches niemand haßte oder fürchtete, und das niemand wegen seiner Haut jagte oder zu töten versuchte: einen kleinen braunen Adler, der nicht auf Bäumen, sondern auf hohen Felsbänken
nistete. In Balsan Hrinkhen gab es noch andere Raubvögel, Habichte und Geier, doch sie waren nicht sonderlich beliebt.
Die Habichte waren unbeliebt, weil sie gewöhnlich über das Geflügel herfielen, die Geier, weil sie so häßlich waren und außerdem Aasfresser. Der kleine Adler dagegen wurde sehr geschätzt, weil er Schlangen tötete, vor allem die einzige giftige Schlange weit und breit: die schwarzgrüne Viper.
Entweder war der Adler geschickt genug, den Giftzähnen der Viper auszuweichen, oder er war gegen ihr Gift gefeit -
jedenfalls beobachtete ich Vogel und Schlange oft bei einem heftigen Zweikampf auf Leben und Tod, und es war immer der stolze Greif, der als Sieger daraus hervorging. Die schwarzgrüne Viper ist nicht sehr groß oder schwer, aber ich habe auch schon gesehen, wie ein Adler siegreich gegen eine Schlange kämpfte, die so lang war wie ich groß und wahrscheinlich sechsmal so schwer wie der Greif. Da die erlegte Schlange viel zu schwer war, als daß er sie zum Nest hätte tragen können, zerlegte er sie zuerst mit
Schnabel und Krallen in kleinere Stücke. Von diesem Tag an nannte ich den Greif voller Bewunderung Juikabloth, was auf Gotisch soviel heißt wie: »Ich kämpfe bis aufs Blut«, und ich nahm ihn mir zum Vorbild. Den Leuten vom Tal, die den
Adler immer nur lateinisch »aquila« genannt hatten, gefiel der neue Name, und sie nannten ihn seitdem auch so.
Doch es gab noch mehr, was mich mit dem Vogel
verband. Während meines letzten Jahres in St. Damian löste der Adler für mich das Rätsel der kleinen, glatten Kerbe in jenem Felsen an einem der Kaskadenteiche. Eines Tages
badete ich in eben diesem Teich und ließ mich faul vom Wasser tragen. Da das Wasser ganz still war und ich auch sonst kein Geräusch verursachte, kam ein Juikabloth von dem Felsen über der Höhle direkt zu besagtem Felsen
heruntergeflogen. Er legte seinen krummen Schnabel in die Kerbe des Felsens und wetzte ihn eifrig hin und her,
seitwärts, nach oben und unten - er schärfte ihn wie ein Krieger sein Schwert. Ich war überrascht und beobachtete ihn wie gebannt und geradezu ehrfürchtig. Wie viele
Generationen von Adlern mußten hier ihre Schnäbel gewetzt haben, bis die Kerbe im Felsen entstanden war!
Bewegungslos sah ich dem Treiben des Adlers zu, bis er seine Waffe für den nächsten Feind offenbar genügend
geschärft hatte und aufflog und verschwand.
Was ich am nächsten Tag tat, würde ich heute als
unverzeihlich ansehen. Aber ich war damals noch ein Kind und dachte nicht daran, daß ein Vogel seine Freiheit
genauso zu schätzen weiß wie ein Mensch. Jedenfalls stieg ich am frühen Nachmittag nochmals zu den Kaskaden
hinauf, ausgerüstet mit meinem Wintermantel und einem
stabilen Deckelkorb. Zuerst schmierte ich etwas Vogelleim aus Stechpalmenrinde in die Kerbe im Felsen. Dieser Leim war zwar eine der klebrigsten Substanzen, die es überhaupt gibt, doch konnte er einen starken Adler nur für einen Augenblick festhalten. Deshalb legte ich am Fuß des
Felsens eine Lederschlinge aus - eine größere Version
meiner Maulwurfsfallen - und versteckte sie unter Blättern.
Dann ergriff ich das eine Ende der Schlinge, kroch unter einen Busch in der Nähe und wartete ruhig.
Die Dämmerung war gerade hereingebrochen, als wieder
ein Adler kam. Ich konnte nicht sagen, ob es derselbe war, aber auf jeden Fall tat er dasselbe: Er steckte seinen Schnabel in die Kerbe. Dann gab er einen zornigen Laut von sich und begann mit den Flügeln zu schlagen - so, wie man die Arme bewegt, wenn man auf dem Rücken schwimmt -
und drückte seine weitgespreizten Krallen gegen den
Felsen, an dem er festklebte. Ich richtete mich rasch auf, warf die Schlinge von hinten über den Körper des Greifs und zog sie zu. Dann stürzte ich mich mit dem Mantel auf den Adler. Was in den nächsten Minuten geschah, weiß ich nicht mehr genau. Die Flügel, die Krallen und der Schnabel des Vogels waren nicht gefesselt, so daß er damit kämpfen
konnte - was er auch tat. Er zerriß meine Kutte und grub seine Krallen tief in meine Arme, die ihn verzweifelt zu halten suchten. Wir standen in einer Wolke aus Wolle und Federn, doch schließlich hatte ich den Adler fest in den Mantel gepackt, stolperte mit dem Bündel in den Armen zu dem
Korb, den ich mitgebracht hatte, warf den Vogel hinein und schloß den Deckel.
Ich erzählte niemandem von meinem Adler, weil man mich sonst für verrückt gehalten hätte. Wer fütterte schon ein Tier, das sein Futter nicht irgendwie verdienen konnte? Ich
brachte ihn in einem großen Korb im Taubenschlag unter, wo außer mir niemand hinkam, und fing für ihn Frösche, Eidechsen und Mäuse.
Damals hatte ich von Falknerei noch nie gehört, ich hatte höchstens von meinen gotischen Vorfahren einen gewissen Instinkt dafür geerbt. Das würde zumindest erklären, warum ich es ganz alleine schaffte, den Adler zu zähmen und zu dressieren. Zuerst stutzte ich ihm die Flügel, so daß er nicht mehr fliegen konnte, und als ich ihn die ersten Male mit aufs Feld hinausnahm, hielt ich ihn fest angebunden. Mit der Zeit fand ich heraus, daß der Adler ruhig auf meiner Schulter sitzen blieb, wenn seine Augen bedeckt waren - also fertigte ich ihm eine kleine Augenklappe an. Ich fing eine harmlose Gartenschlange, tötete sie und benutzte sie als Köder.
Indem ich kleine Stückchen Fleisch als Belohnung austeilte, richtete ich den Adler darauf ab, sich auf den Köder zu stürzen, wenn ich »Sláit!« rief, was »Töte!« bedeutet.
Natürlich mußte ich immer wieder neue Schlangen fangen, da eine nach der anderen bei diesem Spiel zerrissen wurde.
Danach brachte ich dem Adler bei, auf meine Schulter
zurückzukehren, wenn ich »Juikabloth!« rief.
Inzwischen waren die Federn des Adlers nachgewachsen.
Als ich eines Tages wieder mit ihm auf einem leeren Feld stand, warf ich den Schlangenköder so weit weg, wie ich konnte. Dann gab ich den Adler mit einem Stoßgebet frei und schrie: »Sláit!« Er hätte jetzt geradewegs in die Freiheit zurückfliegen können, tat es aber nicht. Offensichtlich sah er in mir jetzt seinen Kameraden, Beschützer und Ernährer.
Gehorsam stürzte er sich auf die tote Schlange, zerrte an ihr und warf sie übermütig herum, bis ich »Juikabloth!« rief und er auf meine Schulter zurückkehrte. Er blieb bei mir und leistete mir Dienste, von denen ich noch berichten werde.
5
Obwohl ich in St. Damian so stolz darauf war, weit mehr zu wissen als meine Altersgenossen, gab es noch viele
Dinge, die ich nicht wußte - sogar über das Christentum, obwohl ich damit aufgewachsen war.
Besonders zwei Dinge wußte ich so wenig wie ein
ungebildeter Bauer: einmal, daß die katholische Kirche nicht so universell war, wie sie ihre Anhänger glauben machen wollte, und zum zweiten, daß das Christentum keineswegs so festgefügt, unteilbar und unbezwinglich war, wie die Priester es darstellten. Keiner meiner Lehrer sprach mit mir darüber - vielleicht wollten sie sich solch ungehörige Gedanken nicht einmal vor sich selbst eingestehen. Da
jedoch meine Neugier, unter welcher meine Lehrer so litten, mit den Jahren nicht abnahm, fuhr ich fort, Fragen zu stellen und das Gelernte einer genauen Prüfung zu unterziehen, anstatt, wie man es von mir erwartete, alles blindlings zu akzeptieren.
Ich erinnere mich noch an eine sonntägliche Messe im
Winter, die mich besonders nachdenklich machte.
Dom Clemens war als Abt unseres Klosters gleichzeitig
auch Gemeindepfarrer des ganzen Tales, und die Kapelle unserer Abtei diente den Einheimischen als Kirche. Sie bestand aus einem einzigen großen Raum, der bis auf das Predigtpult leer war. Den Gemeindemitgliedern waren je nach Geschlecht und Stand bestimmte Plätze zugewiesen.
Ich stand zusammen mit den Mönchen des Klosters, uns
besuchenden Geistlichen und vornehmen Gästen, die nicht zum Klerus gehörten, neben dem Predigtpult. Die Bauern standen auf der rechten Seite des Raumes, die Frauen auf der linken. Abseits in einer Ecke standen arme Sünder, die Buße tun mußten.
Erst als jeder an seinem Platz war, erschien Dom
Clemens. Er trug die weißleinene Stola des Priesters über seiner Mönchskutte. Die Gemeinde begrüßte ihn mit dem
»Halleluja«, und er grüßte zurück, indem er das »Heilig, heilig, heilig« sang. Die Gemeinde schlug das Kreuz und antwortete mit dem »Kyrie eleison«. Dann nahm Dom
Clemens seinen Platz hinter dem Predigtpult ein, legte die Bibel auf das Pult und verkündete, der sonntägliche
Predigttext sei der dreiundachtzigste Psalm, jener Psalm, in dem Gott um Hilfe gegen die gottlosen Edomiter, Ammoniter und Amalekiter gebeten wird.
Dom Clemens trug den Psalm laut und langsam auf
Gotisch vor, aber er las nicht aus der Bibel. Er las von einer Pergarnentrolle, die in gotischer Schrift geschrieben war, und zwar mit so großen Buchstaben, daß die Schriftrolle sehr umfangreich war. Sie war im Skriptorium mit Bildern ausgeschmückt worden, die den Predigttext illustrierten. Die Bilder standen auf dem Kopf, damit die Gemeinde sie
betrachten konnte, wenn Dom Clemens die Schriftrolle beim Lesen entrollte. Nacheinander und ohne zu drängeln traten die Bauern zum Predigtpult vor, um die Bilder zu betrachten.
Nur die Sünder blieben in ihrer Ecke. Kein Bauer besaß eine Bibel oder konnte lesen, und da viele so schwerfällig waren, daß sie nicht einmal der Predigt folgen konnten, halfen die Bilder ihnen, zumindest eine Vorstellung dessen zu
bekommen, was ihnen erzählt wurde. Als Dom Clemens den Psalm vorgelesen hatte, begann er mit der Predigt.
Verwundert hörte ich ihm zu.
»Der Stammesname der Edomiter kommt von dem
lateinischen Wort›edere‹, was›verschlingen‹heißt, daher nehmen wir an, daß der Stamm sich die Sünde der
Schlemmerei zuschulden kommen ließ. Der Name der
Ammoniter kommt von dem heidnischen Gott Jupiter
Ammon, denn sie waren ein Volk von Götzendienern. Der
Name der Amalekiten kommt von dem lateinischen
Wort›amare‹, was leidenschaftlich lieben‹bedeutet - sie machten sich der Sünde der Wollust schuldig...«
Nach der Predigt betete Dom Clemens auf Gotisch für die Heilige Katholische Kirche, für unseren Bischof Patiens, für die beiden königlichen Brüder, die zusammen das
Königreich Burgund regierten, für deren Gemahlinnen und Familien, für das gemeine Volk, für eine gute Ernte in Balsan Hrinkhen und für Witwen, Waisen, Gefangene und Sünder
überall auf der Welt. Er schloß auf Lateinisch: »Exaudi nos, Deus, in omni oratione atque deprecatione nostra...«
Die Gemeinde antwortete: »Domine exaudi et miserere«,
dann wurde es still. Einige Mönche trieben die sündigen Büßer aus der Kirche, und der Pförtner verriegelte das Portal hinter ihnen. Es folgte die Abendmahlsprozession. Die
Mönche, die als Meßdiener fungierten, trugen drei
Bronzegefäße herein, die mit einem weißen Tuch bedeckt waren: den Abendmahlskelch, den Hostienteller, auf dem die Hostien in Form eines menschlichen Körpers angeordnet
waren, und die zylindrische Pyxis mit dem Rest des
geweihten Brotes.
Nach dem Abendmahlsgebet wurden die Hostien an Dom
Clemens, die Zelebranten, die anderen Mönche, mich und alle getauften Gäste des Klosters verteilt. Dann tauchte Dom Clemens das Brot in den Kelch und sprach den Segen über uns. Während der Rest des geweihten Brotes an die
Gemeinde verteilt wurde, sangen wir »Gustate et videte...«
Als alle durch waren, sprach Dom Clemens das
Dankgebet. Bevor er die Gemeinde entließ, machte er
jedoch noch eine Bemerkung, die nicht in der Liturgie stand.
Viele Gemeindemitglieder pflegten nur einen Teil des Brotes zu essen, den Rest aber mit nach Hause zu nehmen und
diesen an Wochentagen nach dem Familiengebet zu
verzehren. Dom Clemens ermahnte seine Gläubigen
deshalb sonntags, das geweihte Brot nicht irgendwo im
Haus herumliegen zu lassen, wo eine Ratte oder eine Maus davon essen könne, oder schlimmer noch »jemand, der
nicht in der Heiligen Katholischen Kirche getauft worden ist«.
Und mit einem letzten Segen entließ Dom Clemens seine
Gemeinde.
Ich hatte schon unzählige Male gehört, wie Dom Clemens diese Mahnung aussprach, aber ich hatte noch nie darüber nachgedacht, was für Menschen es außer katholischen
Christen noch bei uns geben sollte. Wie bereits erwähnt, war mir schon lange aufgefallen, daß die Bauern Bräuche
pflegten, die sich nicht so recht oder überhaupt nicht mit dem Christentum vereinbaren ließen. Außerdem hatte ich schon vor langem bemerkt, daß ein guter Teil der
Bevölkerung von Balsan Hrinkhen nicht einmal an hohen
Feiertagen den Gottesdienst besuchte. Natürlich gibt es in jeder Gemeinde »Besessene«, also Verrückte, welche die Kirche nicht betreten dürfen. Ich hatte jedoch bisher
angenommen, daß die meisten, die nicht zum Gottesdienst erschienen, ganz einfach gottlos oder faul waren. Doch gleich am nächsten Tag sollte ich herausfinden, daß sich manche von ihnen eines Starrsinns besonderer Art schuldig machten, der noch viel schlimmer war.
Zur vereinbarten Stunde marschierte ich mit meinen
Wachstafeln zu Dom Clemens, um die Korrespondenz zu
erledigen. Wie immer montags fragte der Abt mich, ob ich Fragen zur Predigt des vorangegangenen Tages hätte. Ich nickte und versuchte, meine Frage möglichst bescheiden und respektvoll vorzubringen: »Nonnus Clemens, ich habe eine Frage zu den hebräischen Völkern, die im Psalm
dreiundachtzig erwähnt werden: Ihr habt in der Predigt gesagt, ihre Namen würden aus dem Lateinischen kommen
oder auf den Namen eines alten römischen Gottes
zurückgehen, Nonnus. Aber diese Völker des Alten
Testaments hießen doch sicher schon so, bevor die Römer das Heilige Land besetzten und ihm ihre Sprache und ihre heidnischen Götter brachten...«
»Sehr gut, Thorn«, antwortete der Abt und lächelte. »Du entwickelst dich zu einem sehr aufmerksamen jungen
Mann.«
»Aber dann... Wie konntet Ihr etwas sagen, von dem Ihr wußtet, daß es die Unwahrheit war?«
»Um die Gemeinde von der Sündhaftigkeit der Feinde
unseres Herrn zu überzeugen«, sagte Dom Clemens. Er
lächelte nicht mehr, war aber auch nicht verärgert. »Ich bin sicher, daß Gott mir diese kleine Täuschung verzeiht - auch wenn du es nicht tust. Meine Gemeinde besteht
überwiegend aus einfachen Leuten. Um die Bauern zum
rechtmäßigen Glauben zu bekehren, erlaubt die heilige
Mutter Kirche ihren Priestern gelegentlich eine kleine List.«
Ich ließ mir diese Bemerkung durch den Kopf gehen und
fragte dann: »Hat die heilige Mutter Kirche Christi Geburt dann deshalb auf den Tag gelegt, an dem auch der Gott
Mithras geboren wurde?«
Jetzt runzelte der Abt doch die Stirn. »Ich fürchte, ich habe dir, was die Wahl deiner Studien angeht, zuviel Freiheit gelassen, mein Junge. Diese Frage hätte ich von einem
Heiden erwartet, nicht von einem Christen, der an die
Lehren der Kirche glaubt. Eine dieser Lehren heißt: Was sein soll, wird sein. Was ist, soll sein, «
»Entschuldigt mein vorlautes Benehmen, Nonnus
Clemens«, murmelte ich demütig.
»Was immer du über Mithras gelesen oder gehört hast, du mußt es vergessen!« sagte Dom Clemens mit etwas
weicherer Stimme. »Der heidnische Mithraskult war schon dem Untergang geweiht, bevor das Christentum ihn
besiegte. Er hätte nie fortbestehen können, weil er Frauen ausschloß. Um Erfolg zu haben, muß eine Religion vor allem die ansprechen, die einfach zu führen sind und die man davon überzeugen kann, daß sie den Zehnten bezahlen
müssen, also leicht zu beeindruckende, ja sogar
leichtgläubige Menschen - die Frauen.«
Demütig nickte ich und wartete einen Augenblick mit
meiner nächsten Frage. »Da ist noch etwas, Nonnus
Clemens; es betrifft die Mahnung, die Ihr jeden Sonntag aussprecht, daß das geweihte Brot nicht von jemandem
gegessen werden darf, der nicht katholisch ist. Meint Ihr damit fehlgeleitete Christen? Oder nur träge Christen?«
Dom Clemens sah mich lange abwägend an, bevor er
antwortete: »Ich meine überhaupt keine katholischen
Christen. Ich meine Arianer.«
Er sagte dies mit ruhiger Stimme, aber ich war zutiefst schockiert. Mein ganzes Leben hatte man mich gelehrt, den Arianismus der Goten zu hassen. Und ich hatte diesen Haß willig in mich aufgenommen, der sich nicht gegen die Goten richtete (ich war ja vermutlich selbst einer), sondern gegen ihre verdammenswerte Religion. Jetzt erfuhr ich plötzlich, daß unter uns Arianer aus Fleisch und Blut lebten.
Dom Clemens bemerkte, wie ich erschrak. »Ich glaube, du bist alt genug für das, was ich dir jetzt sage, Thorn. Die Burgunder, zum Beispiel die Goten, sind zu einem großen Teil Arianer. Das gilt für die königlichen Brüder Gundiok in Lugdunum und Chilperich in Genava sowie deren Fürsten
und Adlige und Höflinge und die Mehrheit ihrer Untertanen.
Ich schätze, daß ungefähr ein Viertel der Dorfbewohner und Bauern hier in Balsan Hrinkhen Arianer sind und ein
weiteres Viertel unverbesserliche Heiden. Dazu gehören auch viele der Bauern, die klostereigene Ländereien
bewirtschaften und einen Teil der Ernte an unsere Abtei abführen.«
»Und Ihr erlaubt ihnen, Arianer zu bleiben? Ihr laßt Arianer Seite an Seite mit unseren christlichen Brüdern arbeiten?«
Dom Clemens seufzte. »Es ist eher so, daß unsere
klösterliche Gemeinschaft und die Gemeinde der
katholischen Gläubigen so etwas wie ein christlicher
Vorposten in einem heidnischen Land ist. Wir können nur überleben, weil die Heiden und Arianer das zulassen. Du mußt das realistisch sehen, Thorn. Beide Herrscher über dieses Königreich sind Arianer. Ihre Verwalter, Soldaten und Steuereintreiber sind Arianer. In Lugdunum steht neben der Basilika unseres Bischofs eine zweite, viel erhabenere Kirche - und auf deren Thron sitzt ein arianischer Bischof.«
»Sie haben also auch Bischöfe«, murmelte ich
benommen.
»Zum Glück wachen die Arianer nicht so genau über die
genaue Einhaltung dessen, was sie für ihren wahren
Glauben halten, wie wir es tun, weil wir wissen, daß unser Glaube der wahre Glaube ist. Außerdem wollen sie
niemanden bekehren und Ungläubige nicht ausmerzen. Nur weil die Arianer anderen Glaubensrichtungen gegenüber so nachsichtig sind, können wir Katholiken hier leben, arbeiten, Gottesdienst feiern und Menschen bekehren.«
»Ich kann es immer noch kaum glauben«, sagte ich. »Wir sind von Arianern umgeben.«
»Es war nicht immer so. Noch vor vierzig Jahren waren die Menschen in Burgund Heiden, unschuldige Opfer ihres
Aberglaubens. Sie wurden von arianischen Missionaren
bekehrt, die von den Ostgoten im Osten kamen.«
Ich war immer noch wie vor den Kopf gestoßen, aber
meine Neugier war dadurch nicht beeinträchtigt. »Darf ich noch etwas fragen, Nonnus Clemens? Wenn es hier so viele Arianer und nur so wenige Christen gibt, könnte es dann nicht sein, daß der Gott der Arianer doch irgendwie ... ?«
»Ach, ne!« unterbrach mich der Abt und schlug entsetzt die Hände über dem Kopf zusammen. »Kein Wort mehr,
Thorn! Es wäre eine müßige Spekulation, ob die Arianer mit ihrem Glauben nicht doch irgendwie recht haben. Unsere Kirche hat sie verdammt, und damit genug.«
»Aber ist es denn falsch, Nonnus, wenn ich den Feind
genauer kennenlernen will, um ihn besser bekämpfen zu
können?«
»Kein abwegiger Gedanke, mein Sohn. Aber wenn es der
Teufel ist, der einem dazu rät, soll man nicht einmal Gutes tun. Doch lassen wir dieses abscheuliche Thema und
wenden wir uns anderem zu. Nimm deine Tafel.«
Ich beugte mich gehorsam über meine Schreibarbeit, war jedoch nicht bei der Sache. Das »abscheuliche Thema«, mit dem Dom Clemens mich so jäh konfrontiert hatte,
beschäftigte mich. Als der Abt mich gehen ließ, begab ich mich zum Unterricht zu Bruder Kosmas. Bevor dieser zu
einem seiner üblichen trockenen Vorträge über Sittlichkeit und Moral ansetzen konnte, fragte ich ihn, ob es ihm nichts ausmache, daß wir nur so wenige Christen in einer
überwiegend arianischen Bevölkerung seien.
»Wie?« fragte er nicht ohne Spott. »Hast du denn im Laufe deiner heimlichen Studien nicht herausgefunden, daß
Arianer auch Christen sind?«
Ich war zum zweiten Mal an jenem Tag schockiert.
»Christen? Wer? Die Arianer?«
»Das behaupten sie jedenfalls von sich. Und sie waren
das ursprünglich auch, als der arianische Bischof Wulfila die Goten bekehrte -«
»Derselbe Wulfila, der die Bibel ins Gotische übersetzte?
Ein Arianer?«
»Ja, aber das war damals, als Wulfila die Goten von ihrem jahrhundertealten Glauben an heidnische germanische
Götter befreite, noch keine Schande. Erst später wurde der Arianismus als Ketzerei verurteilt und der Katholizismus zum einzig wahren Glauben erklärt.«
Bruder Kosmas war zu Recht stolz auf sein Wissen in
Kirchengeschichte und gab mir gern näher darüber
Auskunft. »Zu Beginn des letzten Jahrhunderts war das
Christentum in über ein Dutzend verschiedene Sekten
gespalten. Die Bischöfe führten zahlreiche schwierige
Dispute, die ich für unsere Zwecke etwas vereinfachen will, indem ich sage, daß zuletzt Arius und Athanasius die
einflußreichsten und umstrittensten Bischöfe waren.«
»Ich weiß, daß die Christen - oder wir Christen - den
Lehren des Athanasius folgen.«
»Genau. Bischof Athanasius lehrte richtig, daß Christus mit Gott wesensgleich ist. Bischof Arius dagegen
behauptete, der Sohn sei dem Vater nur ähnlich. Jesus sei versucht worden, wie nur ein Mensch versucht werden kann, habe gelitten, wie nur ein Mensch leiden kann, und sei gestorben, wie ein Mensch stirbt, also könne er nicht dem ewigen Vater gleich sein, der über Versuchung, Schmerz und Tod erhaben ist. Er sei deshalb von Gottvater als
Mensch erschaffen worden.«
»Hm...«, sagte ich unsicher, denn ich hatte mir noch nie Gedanken über derlei Unterscheidungen gemacht.
»Damals war Konstantin Kaiser über das östliche und das westliche Imperium«, fuhr Bruder Kosmas fort. »Er hoffte, das Christentum würde sein Reich vor dem Zerfall
bewahren. Doch da er kein Theologe war und den großen
Unterschied zwischen den Lehren des Arius und des
Athanasius nicht verstand, berief er das Konzil von Nicäa ein, um feststellen zu lassen, welches der wahre Glaube war.«
»Ich verstehe den Unterschied ehrlich gesagt auch nicht ganz, Bruder Kosmas.«
»So schwer ist das doch nicht zu begreifen!« sagte er
ungeduldig. »Arius war offensichtlich vom Teufel inspiriert, denn er behauptete, Christus sei nur ein Geschöpf
Gottvaters und lediglich der Verkünder der Botschaft des Vaters. Doch wenn dem so wäre, könnte Gott uns ja
jederzeit einen zweiten solchen Messias schicken. Wenn das möglich wäre, könnten unsere Priester keine einmalige, unwiederholbare, unbestreitbare Wahrheit verkünden. Arius ketzerische Gedanken entsetzten die christlichen Priester, weil sie ihre Existenzberechtigung gefährdet sahen.«
»Ach so«, sagte ich. Dabei hätte ich für meine Person
nichts dagegen gehabt, wenn Gott zu meinen Lebzeiten
noch einen Sohn zur Erde geschickt hätte.
»Auf dem Konzil von Nicäa wurden die arianischen
Thesen zwar verurteilt, aber nicht entschieden genug. So kam es, daß Konstantin während seiner gesamten
Regierungszeit zum Arianismus tendierte. Tatsächlich steht die östliche, die sogenannte griechischorthodoxe Kirche, einigen arianischen Lehren immer noch nahe.«
»Und wann wurde der Arianismus dann endgültig
verdammt?«
»Ungefähr fünfzig Jahre nach Arius' Tod, als in Aquileja eine Synode einberufen wurde. Nur zwei arianische Bischöfe nahmen daran teil, und sie wurden niedergeschrieen,
beschimpft, verbannt und vom christlichen Episkopat
ausgeschlossen. Das war der Untergang des Arianismus,
und seit jenem Tag ist die katholische Kirche von diesem Makel der Ketzerei befreit.«
»Aber wie wurden die Goten dann zu Arianern?«
»Einige Zeit bevor der Bann über den Arianismus verhängt wurde, begab sich der arianische Bischof Wulfila als
Missionar in die Wildnis zu den Westgoten. Er bekehrte sie, und sie bekehrten ihre Brüder, die Ostgoten, und diese wiederum die Burgunder und andere Barbaren.«
»Aber es wurden doch sicher auch katholische Missionare zu den Barbaren geschickt?«
»Natürlich. Aber du darfst nicht vergessen, daß die
meisten germanischen Völker nur einen rohen Verstand
haben. Sie können nicht begreifen, wie zwei göttliche Wesen wesensgleich sein sollen. Den arianischen Glauben
dagegen, daß der Sohn dem Vater nur ähnlich ist, können die Barbaren verstehen.«
»Und doch habt Ihr sie Christen genannt.«
Kosmas spreizte die Finger. »Nur weil sie unbestreitbar der Lehre Christi folgen - liebe deinen Nächsten und so weiter. Aber sie beten Christus nicht an, sie beten nur zu Gott; man könnte sie genausogut Juden nennen. Zu ihren absurden Glaubensvorstellungen gehört auch, daß zwei
oder mehr Formen des Gottesdienstes nebeneinander
bestehen können. Also lassen sie in ihrer Dummheit andere Religionen zu - unsere eingeschlossen. Und unsere Religion wird zuletzt triumphieren, Thorn.«
Es mag seltsam erscheinen - mir jedenfalls erschien es damals seltsam -, daß ich in unserer gesamten
katholischchristlichen Gemeinde der einzige war, der es wagte, die Lehren, Regeln und Überzeugungen, nach denen wir lebten, in Frage zu stellen und anzuzweifeln.
Rückblickend glaube ich heute, meine unerschöpfliche
Neugier und kritische Infragestellung meiner Erziehung erklären zu können. Ich glaube, daß damals die weibliche Seite meines Charakters zum ersten Mal zum Vorschein
kam. In späteren Jahren stellte ich noch oft fest, daß intelligente und gebildete Frauen oft so sind, wie ich es in meiner Jugend war: leicht verunsichert, zweifelnd und
argwöhnisch.
Ich wäre wahrscheinlich weiterhin über meinen Büchern
und Handschriften gesessen und hätte eifrig meine Lehrer ausgefragt, in dem Bestreben zu erfahren, was es mit dieser Religion auf sich hatte, der ich angeblich angehörte, und wie ich die vielen Widersprüche, die ich in ihr fand, lösen konnte.
Wahrscheinlich hätte ich ewig so weitergelebt, hätte nicht Bruder Petrus zu genau jener Zeit angefangen, mich als weiblichen Sklaven zu mißbrauchen.
Obwohl ich stolz darauf war, daß ich mir soviel Wissen angeeignet hatte und mich sogar in der Welt etwas
auskannte, war ich auf Petrus' Belästigungen völlig
unvorbereitet und wußte nicht, was er mit mir tat. Ich wußte nur, daß unser Tun geheim bleiben mußte, denn das hatte Petrus gesagt. Ich muß also auch gewußt haben, daß wir etwas streng Verbotenes taten, aber ich verdrängte das aus meinem Bewußtsein. Ich dachte in anderen Dingen zwar
sehr unabhängig und verhielt mich auch so, aber der
Respekt vor der Autorität Älterer oder Höherstehender war mir so anerzogen worden, daß ich nie versuchte, Petrus abzuweisen.
Außerdem schämte ich mich nach seiner ersten
unzüchtigen Handlung so sehr, daß ich meine Schändung
weder Dom Clemens noch sonst jemandem mitteilen wollte.
Ich wollte andere nicht den unaussprechlichen Ekel fühlen lassen, den ich fühlte. Außerdem hatte Petrus mich
beschuldigt, ein Betrüger zu sein, so daß ich seine Warnung, ich könnte aus dem Kloster hinausgeworfen werden, ernst nahm und schwieg.
Als unser schmutziges Geschäft dann entdeckt und ich
tatsächlich hinausgeworfen wurde, mußte ich zuerst noch auf Dom Clemens' traurige und mitleidsvolle, doch
gründliche Fragen antworten.
»Das ist für mich sehr schwierig, Thorn, meine - Tochter.
Eigentlich nimmt Domina Aetherea vom Kloster St. Pelagia die Beichte einer Frau oder eines Mädchens entgegen. Aber jetzt muß ich dich fragen, und du mußt mir wahrheitsgemäß antworten. Warst du noch eine Jungfrau, Thorn, als diese schmutzige Geschichte begann?«
Mir mußte wie ihm die Röte ins Gesicht gestiegen sein, aber ich versuchte trotzdem zusammenhängend zu
antworten: »Warum... ich... ich weiß es nicht. Ihr nennt mich Tochter, Nonnus Clemens... ich bin so durcheinander... Ich wußte nicht, daß ich eine Frau bin, Nonnus Clemens, wie kann ich deshalb wissen, ob ich Jungfrau bin oder nicht?«
Dom Clemens sah von mir weg und sagte in den leeren
Raum: »Wir sollten es uns nicht schwerer machen, als es ohnehin ist, Thorn. Tu mir den Gefallen und sage, daß du keine Jungfrau warst.«
»Wie Ihr wollt, Nonnus. Aber ich weiß wirklich nicht -«
»Bitte, sage es.«
»Also gut. Ich war keine Jungfrau.«
Er atmete auf. »Ich glaube dir. Wenn du Jungfrau
gewesen wärst und Bruder Petrus erlaubt hättest, dich zu benutzen, und mir dies zu Ohren gekommen wäre - dann
hätte ich dich zu hundert Peitschenhieben verurteilen
müssen.«
Ich schluckte und nickte stumm.
»Nun eine weitere Frage. Hat dir die Sünde Lust
bereitet?«
»Ich weiß schon wieder nicht, was ich antworten soll,
Nonnus Clemens. Von welcher Lust sprecht Ihr? Ich weiß nicht, ob ich Lust empfand.«
Der Abt hustete und wurde erneut rot. »Ich bin mit den fleischlichen Sünden nicht vertraut, aber ich weiß aus guter Quelle, daß man diese Lust als solche erkennt, wenn man sie erfährt. Und die Intensität der Lust ist ein verläßliches Maß dafür, wie schwerwiegend die Sünde ist. Je
unwiderstehlicher der Drang nach Wiederholung der Lust ist, desto sicherer steckt der Teufel dahinter.«
Zum ersten Mal in unserem Gespräch sprach ich mit fester Stimme: »Die Sünde und ihre Wiederholung gingen von
Bruder Petrus aus. Das einzige, was mir Lust bereitet, ist...
wenn ich in den Kaskaden bade... oder wenn ich sehe, wie ein Adler aufsteigt und davonfliegt...«
Das schien den Abt noch mehr zu beunruhigen. Er beugte sich vor und sah mir forschend in die Augen. »Hast du
jemals ein Omen in diesen Gewässern gesehen? Oder
vielleicht im Flug eines Adlers?«
»Ein Omen? Nein, Nonnus Clemens, nie. Ich habe auch
nie danach Ausschau gehalten.«
»Um so besser«, seufzte der Abt. Er wirkte erleichtert.
»Die Sache ist schon kompliziert genug. Sei jetzt so gut und gehe den anderen Brüdern für den Rest des Tages aus dem Weg. Du kannst im Stall auf dem Heuboden schlafen. Nach der Vigilie begleite ich dich zur Absolution in die Kapelle.«
Am Morgen nach der Absolution ging ich kleinlaut mit Dom Clemens zu Domina Aetherea vom Nonnenkloster St.
Pelagia. Es mag der Eindruck entstehen, ich sei über meine Schmach und meine
Verbannung allzu zerknirscht gewesen, aber heute meine ich zu wissen, warum ich so niedergeschlagen war: Ich
glaube, daß sich darin meine weibliche Natur zeigte. Aus irgendeinem Grund glaubte ich, ich sei selbst schuld an dem, was geschehen war vielleicht hatte ich unabsichtlich Petrus' Aufmerksamkeit provoziert und deshalb keinen
Grund, mich über deren Folgen zu beklagen. So konnte nur eine Frau denken. Ein Mann würde solche Gedanken weit
von sich weisen.
Doch war ich gleichzeitig auch ein Mann. Ich empfand
unwillkürlich das Bedürfnis, die Schuld woanders zu suchen und den Missetäter angemessen zu bestrafen. Wie konnte ich aber von einem anderen Menschen Verständnis für
diesen Konflikt männlicher und weiblicher Gefühle erwarten, den ich selbst kaum verstand? Aus diesem Grund
protestierte ich nicht dagegen, daß ich aus St. Damian ausgewiesen wurde, während Petrus bleiben durfte. Und
aus diesem Grund entschloß ich mich, vorerst den Mund zu halten und mich später auf eigene Faust zu rächen. Genau das tat ich schließlich auch, und ich werde zu gegebener Zeit davon berichten.
6
Ich muß zugeben, ich war mehr als entsetzt darüber, daß ich plötzlich kein Junge mehr sein sollte, sondern nur ein Mädchen. Ein weiterer schwerer Schlag für mich war, aus St. Damian ausgewiesen zu werden. Ich hatte es im Kloster einigermaßen schön gehabt und mich an meine Umgebung
gewöhnt. Ich bedauerte, die herzliche Männerfreundschaft der Mönche gegen die, wie ich glaubte, anspruchslose,
dümmliche und kichernde Gesellschaft einfältiger und
ungebildeter Witwen und Jungfern eintauschen zu müssen.
Zugleich war ich freilich auch erleichtert. Ich war während des vergangenen Jahres in St. Damian mit vielem
konfrontiert worden, was mich verwirrte, aufregte und
abstieß. Ich hatte erfahren, daß ich von Arianern umgeben war, daß Arianer nicht unbedingt Wilde waren, sondern
Christen wie wir auch, und daß Heidentum und Christentum vieles gemeinsam hatten. Nicht zuletzt hatte ich natürlich sehr darunter gelitten, daß ich von Bruder Petrus mißbraucht wurde. Jetzt konnte ich den Ort beunruhigender
Enthüllungen und Vorkommnisse endlich verlassen.
Außerdem war ich noch jung und verfügte über die
Spannkraft und den Optimismus der Jugend. Ich hatte die Höhlen über den Kaskaden erforscht, einen Adler gefangen und gezähmt und die Aufgaben des Sekretärs übernommen, und meine Verbannung nach St. Pelagia war ein neues
Abenteuer. Ein Leben als Mädchen brachte vielleicht
interessante neue Erfahrungen und Erlebnisse mit sich.
Natürlich waren diesem Abenteuer enge Grenzen gesetzt, denn ich wußte schon seit langem, daß die Frauen und
Mädchen von St. Pelagia in größter Abgeschiedenheit
lebten. Nur sonn- oder feiertags war es ihnen erlaubt, das Kloster zu verlassen, um in der Kapelle von St. Damian der Messe und der Kommunion beizuwohnen. Auch Besucher
durften das Nonnenkloster nicht betreten. Sowohl die
einheimischen Bauern, die St. Pelagia mit Nahrungsmitteln und anderen Gebrauchsgütern belieferten, wie die Mönche von St. Damian, die Dinge wie Werkzeug, Bier und
Ledersachen brachten, die die Nonnen nicht selber
herstellen konnten, mußten am Tor des Klosters
haltmachen.
Innerhalb des Nonnenklosters herrschte eine ähnlich
strenge Zucht, und jeder Verstoß gegen die Regeln wurde schwer bestraft. Schon bald stellte ich fest, daß die
Gedanken einer Nonne genausowenig frei waren wie ihr
Körper. Ich weiß nicht mehr, welche Frage es war, die ich in Domina Aethereas Katechismusunterricht stellte - es war eine recht harmlose Frage, aber ich wurde jedenfalls durch das halbe Zimmer geprügelt. Stets hatten wir jüngeren
Mädchen eine feuerrote geschwollene Backe von den
gefürchteten Ohrfeigen, die die Äbtissin mit ihrer fleischigen Hand großzügig austeilte. Die älteren Nonnen hatten kein Mitleid mit uns. Sie sagten, diese Züchtigungen seien nicht schlimm, im Gegenteil, Gesichtsmassagen dieser Art seien nur gesund für die Haut. Die Ohrfeigen machten uns auch tatsächlich nichts aus, denn wenn Domina Aetherea die
Hand gegen uns erhob, hieß dies nur, daß sie nichts
anderes in ihrer Reichweite hatte, womit sie uns schlagen konnte. Wenn sich nämlich die Gelegenheit bot, griff sie zu jeder verfügbaren Waffe, von der Birkenrute bis zur Peitsche aus Rindsleder.
Die positiven Seiten des Lebens im Nonnenkloster wogen dessen Nachteile nicht auf. Jede von uns hatte eine eigene Zelle - selbst die Novizinnen mußten nicht im Schlafsaal schlafen -, und das Essen war so gut und reichlich, wie wir es in unserem fruchtbaren Tal erwarten konnten. Wir
hungerten also nicht, außer vielleicht geistig, und ich war die einzige, die bedauerte, daß St. Pelagia kein Skriptorium hatte und daß die Äbtissin alte Bücher und Schriftrollen, die sie besitzen mochte, niemandem zeigte. Keine einzige der Nonnen konnte lesen, nicht einmal die älteren, die lange in der Welt draußen gelebt hatten, bevor sie sich hier
einmauern ließen.
Wissen wurde uns nur in Form von Vorträgen, Predigten
und Ermahnungen übermittelt - manchmal von der Äbtissin, weit öfter aber von ältlichen Nonnen, die sich Erzieherinnen nannten.
Obwohl mir eingeschärft worden war, daß meine Bildung
von nun an nur aus dem bestehen würde, was meine
Erzieherinnen mir vermittelten, so mußte ich doch noch etwas ganz anderes lernen, was diese mir nicht beibringen konnten: Ich mußte lernen, mich wie ein Mädchen zu
benehmen.
Meine Mitschwestern merkten wahrscheinlich nicht, daß
ich sie genau beobachtete und nachmachte, wie sie sich bewegten: wie eine Frau zum Beispiel bewußt langsam den Arm bewegt, so daß der Muskel nicht hervortritt wie bei einem Mann, der diese Bewegung kräftiger und schneller ausführt; wie sie dabei gleichzeitig die Schulter zurücknimmt, so daß die Bewegung ihre Brust hebt; wie sie, wenn sie mit den Händen gestikuliert, Mittel- und Ringfinger stets
zusammenhält, um die Bewegungen der Hände
geschmeidiger und eleganter erscheinen zu lassen; wie sie, wenn sie den Kopf hebt, ihn gleichzeitig etwas zur Seite neigt, um die fließende Linie ihres Halses und ihrer Kehle zu betonen; wie sie ihr Gegenüber nie direkt ansieht, sondern immer ein wenig von der Seite oder - je nach der Situation -
hochmütig von oben oder schüchtern von unten...
Während mich all das ständige Anstrengung kostete, fiel es mir zu meiner freudigen Überraschung nicht schwer, mich als Frau zu fühlen. Ich habe bereits erzählt, daß ich, noch bevor ich über die Besonderheit meines Körpers Bescheid wußte, öfter weibliche Gefühle wie Unsicherheit, Zweifel und Mißtrauen und sogar Schuldgefühle hatte.
Sobald ich meine Weiblichkeit akzeptiert hatte, schien es mir, als kämen meine Gefühle nun leichter an die Oberfläche meines Bewußtseins und als könnte ich mich einfacher in sie hineinbegeben und sie ausdrücken oder beeinflussen. Wo ich einst als Junge Christus' männliche Standhaftigkeit am Kreuz bewundert hatte, konnte ich nun fast wie eine Mutter nachempfinden, welche Schmerzen er erlitten haben mußte, und ich konnte sogar Tränen darüber vergießen, ohne mich zu schämen. Ich konnte launisch sein wie eine Frau. Wie meinen Schwestern bereitete es mir Vergnügen, schöne
Kleider anzuziehen und mich schön zu machen. Wie sie
konnte ich wegen einer tatsächlichen oder eingebildeten Kränkung plötzlich mürrisch und verdrossen werden.
Wie sie war ich auch sehr empfindlich Gerüchen
gegenüber sie mochten angenehm oder abstoßend sein -,
und auch später machte ich oft die Erfahrung, daß Parfüms und andere Düfte meine Stimmung und Laune hoben oder
senkten.
Wie meine Schwestern verstand ich es instinktiv, meine tiefsten und heftigsten Gefühle hinter einer Maske von Gleichgültigkeit zu verbergen - hinter einer Maske, die für einen Mann unergründlich, für jede Frau jedoch durchsichtig war. Und wie meine Schwestern konnte ich sagen, ob eine andere Frau glücklich oder traurig, ehrlich oder hinterlistig war.
Zur gleichen Zeit war ich nach wie vor im Besitz der
weniger feinsinnigen, aber dennoch nützlichen
Eigenschaften und Fertigkeiten meiner männlichen Hälfte.
Als Junge an Unabhängigkeit gewöhnt, fühlte ich mich in St.
Pelagia wie eingesperrt; ich bewerkstelligte es deshalb, soviel Zeit wie möglich im Freien verbringen zu dürfen, indem ich mich bereit erklärte, Arbeiten zu übernehmen, vor denen sich die Nonnen und Novizinnen gerne drückten (zum Beispiel das Rinder- und Schweinehüten).
Ich hatte noch einen persönlicheren Grund, weshalb ich mich gerne bei den Scheunen und Wirtschaftsgebäuden
aufhielt. Aus demselben geheimen Grund stahl ich mich
sogar des Nachts aus dem Kloster, was mir nur gelang, weil es für die älteren Nonnen unvorstellbar war, daß ein
Mädchen nachts herumstreunte, zumal alle Mädchen und
Frauen glaubten, nachts würden Dämonen umgehen.
Dennoch war ich vorsichtig genug abzuwarten, bis Domina Aetherea kontrolliert hatte, daß alle Nonnen und Novizinnen sich zur Nachtruhe in ihre Zellen zurückgezogen hatten. Erst dann schlüpfte ich aus meiner Zelle und verließ das Kloster.
Was mich nach draußen zog, war neben dem Umstand,
daß ich so der strengen Zucht des Klosters entfliehen
konnte, manchmal auch das Bedürfnis nach einem Bad im
klaren Wasser der Kaskaden und die Notwendigkeit, meinen Juikabloth zu versorgen und weiter abzurichten.
So früh wie möglich hatte ich mir in St. Pelagia den Ruf erworben, gerne die »dreckigen Arbeiten im Freien« zu
verrichten. Bei der ersten sich ergebenden Gelegenheit rannte ich durch das Tal nach St. Damian, kletterte
unbeobachtet in den Taubenschlag, holte meinen Vogel und rannte wieder zurück. Einen Teil des Weges schien es dem Adler zu gefallen, getragen zu werden, und er wiegte sich auf meiner Schulter sanft auf und ab. Den Rest des Weges flog er vor mir her, als ob er mich zur Eile antreiben wolle. In der Scheune des Nonnenklosters angelangt, steckte ich den Vogel auf dem Heuboden in einen Käfig, den ich selbst aus Weiden geflochten hatte, und hieß ihn mit einem herzhaften Mahl lebendiger Mäuse willkommen, die ich gefangen und für diese Gelegenheit aufgehoben hatte.
Es gelang mir, den Juikabloth vor den Nonnen
geheimzuhalten und ihn trotzdem gut zu verpflegen und
nachts zur Übung frei fliegen zu lassen. Hin und wieder glitt eine Milchschlange auf der Suche nach einer Mahlzeit in den Stall; ich fing sie ein und bewahrte sie auf, bis sich die Gelegenheit bot, zu prüfen, ob der Adler noch auf das
Kommando »Släit!« hörte und sich auf den Köder stürzte.
Erst als ich sicher war, daß er mir noch gehorchte und nichts von dem vergessen hatte, was ich ihm beigebracht hatte, begann ich, ihn auf etwas Neues abzurichten.
Um diese Zeit jedoch, an einem warmen Herbsttag, umfing mich plötzlich von hinten eine kleine, zärtliche Hand, und ich hörte eine süße Stimme nahe an meinem Ohr. Damals trat Schwester Deidamia in mein Leben.
7
Meine erste und meine letzte Begegnung mit Deidamia
habe ich bereits geschildert. Dazwischen trafen wir uns oft, und da Schwester Deidamia mich vertrauensvoll in so vieles einweihte, sagte ich ihr auch ein Geheimnis von mir. Ich zeigte ihr den Adler und ließ sie zusehen, wenn ich ihn heimlich abrichtete.
»Sein Name bedeutet›Ich kämpfe bis aufs Blut‹«, sagte
Deidamia, »warum richtest du ihn darauf ab, Eier
anzugreifen?« i
»Die liebste Beute des Juikabloth sind Schlangen, aber er mag auch die Eier von Reptilien. Und gegen die braucht er natürlich nicht bis aufs Blut zu kämpfen, weil sie nur daliegen und nicht fliehen oder sich wehren.«
»Aber das ist kein Schlangenei.« Deidamia zeigte auf das Ei in meiner Hand. »Das ist ein gewöhnliches Hühnerei. Es ist viel größer und sieht auch anders aus.«
»Ich habe weder Zeit noch Gelegenheit, echte
Schlangeneier zu suchen, liebe Deidamia. Ich muß mit dem zufrieden sein, was ich habe. Doch ich schmiere dieses Ei mit Fett ein, bis es glänzt wie ein Schlangenei. Dann lege ich es in dieses Nest, das ich aus Moos gemacht habe.«
»Aber das Ei ist doch viel zu groß.«
»Und damit ein besseres Ziel für den Adler. Wie ich dir erklärt habe, richte ich ihn darauf ab, sich aus großer Höhe auf das Ei zu stürzen und es mit Schnabel und Krallen zu zerfetzen. Gewöhnlich hüpft der Vogel nur zu einem Ei, das auf dem Boden liegt, und pickt es auf.«
»Interessant«, sagte Deidamia, obwohl sie nicht sehr
interessiert klang. »Du willst dem Vogel also etwas
beibringen, was seiner Natur nicht entspricht.«
»Zumindest versuche ich es. Sieh dir an, was er schon
kann.«
Ich nahm dem Vogel die Augenklappe ab und warf ihn
hoch. Sofort stieg er zum Himmel hinauf. Dann legte ich das Nest aus Moos mit dem glänzenden Ei auf den Boden. Ich zeigte darauf und rief: »Släit!« Der Adler schwebte nur so lange über uns, wie er brauchte, um sein Ziel zu fixieren.
Dann legte er die Flügel an und kam wie ein Pfeil
heruntergeschossen. Schnabel und Krallen gruben sich in das Ei, und Eigelb und Eiweiß spritzten durCh die Luft. Ich ließ den Vogel noch eine Weile seine Mahlzeit genießen und rief dann: »Juikabloth!« Prompt kehrte er auf meine Schulter zurück.
»Sehr eindrucksvoll«, meinte Deidamia und klang gar nicht beeindruckt. »Aber das ist doch mehr ein Zeitvertreib für Jungen. Glaubst du, so etwas ziemt sich für eine Novizin?«
»Ich sehe nicht ein, warum Jungen und Männer die
aufregenden Spiele für sich allein beanspruchen sollten, während wir nur die sanften Spiele haben.«
»Weil wir eben sanfte Wesen sind. Anstrengende Sachen
überlasse ich lieber den Männern.« Deidamia gähnte
gekünstelt und lächelte dann schelmisch. »Aber spiele du, was du willst, kleine Schwester. Ich habe überhaupt nichts gegen deine Spiele einzuwenden.«
Die gestrenge Domina Aetherea freilich und die
schwatzhafte Schwester Elissa, die stets anderen
nachspionierte, hatten eine ganze Menge dagegen
einzuwenden. Ich habe bereits erzählt, wie sie mich und Deidamia auf frischer Tat ertappten.
Bevor ich Balsan Hrinkhen für immer verlassen mußte,
klärte mich Dom Clemens darüber auf, welch sonderbare
Kreatur ich war. Bevor Dom Clemens mich zu unserer
letzten Unterredung zu sich rief, hatte er viel Zeit im Chartularium verbracht und im alten Archiv der Abtei
gewühlt.
»Thorn, mein Kind«, begann er, und er sah genauso
bedrückt aus, wie ich ausgesehen haben muß. »Wie du
weißt, waren sowohl der Abt wie der Arzt, der dich
untersuchte, als du auf der Schwelle dieses Klosters