»Das will ich wohl sagen. Sie sollte dir eine sehr kundige Lehrerin für deine, wie du es nennst, Initiation sein. Du wirst später anderen Frauen ein besserer Liebhaber sein, wenn dein Übel kuriert ist und du andere Frauen haben kannst.«

»Liufs Guth«, flüsterte Gudinand zu sich selbst. Dann

sagte er laut: »Nicht daß es wichtig wäre, aber... ist sie hübsch?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Welcher Bruder kann schon seine eigene Schwester bewundern oder einschätzen? Aber Juhiza ist meine Zwillingsschwester, und die Leute sagen, wir würden uns sehr ähnlich sehen.«

»Und du siehst gut aus. Nun... , was soll ich sagen,

Thorn? Falls Juhiza diese äußerste Gunst einem absolut Fremden wirklich erweisen will, dann kann ich ihr nur danken und sie segnen. Und dich ebenfalls. Wie sollen wir das Treffen einrichten?«

»Warum nicht hier, in diesem Wäldchen?« schlug ich vor.

»Hier gibt es keine neugierigen Ohren. Und es könnte

bedeutsam sein vielleicht sogar die Krankheit schneller und sicherer heilen -

wenn ihr hier an diesem Ort

zusammenkommt, wo ich erstmals dein Leiden bezeugen

konnte. Wer weiß? Vielleicht war das dein letzter Anfall? Ja, ich denke, es sollte hier sein. Und ihr beide wollt sicherlich nicht, daß ich in der Nähe bin. Ich werde also nicht einmal kommen, um sie dir vorzustellen, sondern sie einfach

morgen abend, zu der Stunde, da wir beide uns gewöhnlich treffen, hierher führen.«

»Audageii af Guth faúr jah iggar«, sagte Gudinand gerührt:

»Gottes Segen für euch beide.«

So kam es, daß »Juhiza« Gudinand begegnete.

4

Am nächsten Tag fand ich mich zur vereinbarten

abendlichen Dämmerstunde in dem Wäldchen ein. Natürlich trug ich Frauenkleider - einen Umhang, ein Kopftuch, ein wenig, aber nicht übermäßig viel Schönheitspuder im

Gesicht und eine bescheidene, aber passende Auswahl des Geschmeides, das ich in Basilia erstanden hatte. Unter meinen Tüchern hatte ich ein Band um meinen Brustkorb

gewickelt, das meine Brüste hervorhob und größer

erscheinen ließ. Ein Gurt presste mein Glied fest gegen den Bauch, so daß es verborgen blieb. Außerdem trug ich

Frauensandalen. Jedesmal, wenn ich mit Gudinand

zusammen gewesen war, hatte ich, es sei denn wir waren barfuß, meine kuhledernen Stiefel getragen. So erschien

»Juhiza« in den Sandalen auf den ersten Blick etwas kleiner als Thorn.

Ein immer noch wacher Teil meiner männlichen Natur

beobachtete, wie die Dirnen am Ufer darauf reagierten - und stellte fest, daß ich selbst nicht besser als diese käuflichen Frauen war, da ich die Gunst eines unschuldigen jungen Mannes zur Befriedigung meiner niederen Triebe bemühte.

Ja! Ich nahm diese Gelegenheit war, um die Vereinigung mit dem Gudinand zu vollziehen, für den in den Monaten, seit ich ihn kannte, meine Bewunderung, Zuneigung und

Sehnsucht so sehr gewachsen war. Aber ich konnte nicht glauben, daß dies ein niedriger Beweggrund war. Schließlich war ich die einzige Frau, die willens war, ihm zu Gefallen zu sein, ihn von diesem zerstörerischen Fluch zu befreien und ihm vielleicht zu ermöglichen, ein normales Leben zu führen

- nicht mit mir, Juhiza, denn ich würde gegen Ende des Sommers ostwärts weiterziehen -

sondern mit einer

Geliebten oder einer Frau seiner Wahl, und mit einer

besseren Arbeit als der elenden Fron, die er schon so lange ertrug.

Was die beständige Keiferei meiner männlichen Seite

anging, Juhiza sei lediglich ein verkleideter Thorn... nun, Götter wie auch Sterbliche haben seit jeher die Gewänder des jeweils anderen Geschlechts angezogen, sei es aus

Übermut oder Schalk. Die Heiden behaupten, Wotan habe

sich als Frau verkleidet, um die Winterkönigin Rhined, die männliche Freier verachtete, zu erobern. Aber ich brauchte nichts vorzugeben, ich war eine Frau. Ich hatte von Natur aus das Recht, als die Frau aufzutreten, die ich war und bin.

Lange vor meiner Zeit hatte der Dichter Terenz

geschrieben: »Ich bin ein Mann. Nichts Menschliches ist mir fremd.« Ich glaube nicht, vermessen zu sprechen, wenn ich, da ich sowohl Mann als auch Frau bin, noch viel eher als Terenz behaupten darf: »Nichts Menschliches ist mir fremd.«

So ging ich als Juhiza, um Gudinand zu treffen, und ließ jeden Zweifel und alle Unsicherheit hinter mir zurück. Ich war eine Frau und würde eine Frau sein. Eine Frau, in die ich mich als Thorn zweifellos Hals über Kopf verlieben würde, davon war ich fest überzeugt. Was Gudinand empfinden

würde, nun, das würde ich bald schon herausfinden. Ich nahm dieses Zusammentreffen auch als Probe dafür, wie

glaubwürdig oder unglaubwürdig - und verführerisch Juhiza sein konnte.

Gudinand hatte zugegeben, daß er mit Fremden wortkarg

war. Und heute war er sehr nervös, sein Gesicht rot gefleckt.

Ich hatte mich noch nicht einmal vorgestellt, als er auch schon herausplatzte: »Oh, du gleichst meinem Freund Thorn fast aufs Haar«, - und jetzt wurde er noch röter - »aber Thorn ist nur ein ansehnlicher junger Mann, du aber ein unendlich schönes Mädchen.« Ich lächelte und neigte

meinen Kopf zu einem mädchenhaften Dank für das

Kompliment. Er brabbelte weiter: »Du bist nur ein wenig kleiner und etwas schlanker als er. Und... du hast

Erhöhungen und Rundungen, wo ein Junge keine hat.«

Auch er hatte eine sehr deutlich sichtbare Ausbuchtung, und zwar im Schritt seiner Hose. Meine Augenlider, so muß ich gestehen, waren seit dem vergangenen Tag schwer vor Verlangen, und meine weiblichen Organe pochten vor

Erwartung. Ich redete nicht lange herum:

»Gudinand, wir beide wissen, warum wir uns hier treffen.

Willst du meine Rundungen nicht genauer in Augenschein nehmen?« Seine rote Gesichtsfarbe wechselte zu

Kastanienbraun. Ich fuhr fort: »Ich weiß, wie ich unter meinen Gewändern aussehe, aber ich habe dich nie anders als vollständig bekleidet erblickt. Warum ziehen wir uns nicht beide gleichzeitig aus? Auf diese Weise ersparen wir uns all die zeitraubenden Schüchternheiten und Geziertheiten der Jungverliebten, die sich erst aneinander gewöhnen

müssen.«

Ich bin sicher, daß Gudinand von meiner krassen

Schamlosigkeit schockiert gewesen wäre, hätte er jemals zuvor in seinem Leben eine normale Beziehung mit einem Mädchen oder einer Frau gehabt. Aber er akzeptierte

offenbar, daß ich eine erfahrene Frau war und wußte, wie ein Mädchen und ein Junge miteinander umzugehen hatten.

Unbeholfen, aber gehorsam, begann er, seine Gewänder

abzulegen. Ich tat es ihm gleich, aber weniger unbeholfen, sondern vielmehr mit provokativer Anmut und Langsamkeit.

Als ich mehr und mehr von meinem Körper enthüllte, wurden Gudinands Augen immer größer, sein Mund öffnete sich,

und er fing an, schwer zu atmen. Ich versuchte, mich

beherrscht zu zeigen und meine Erregung darüber, ihn

erstmals völlig nackt zu sehen, zu verbergen. Aber das erwies sich als schwierig. Kaum erblickte ich sein Glied - so rötlich, groß und steif wie das von Bruder Petrus - da spürte ich eine warme, dicke Nässe aus meinen weiblichen Teilen ausströmen und an der Innenseite meiner Schenkel

hinunterlaufen. Überrascht berührte ich mich dort und

entdeckte, daß sich diese Körperteile auf das einladendste geöffnet hatten und so bei jeder Berührung wohlige Schauer durch meinen Leib sandten.

Gudinands unersättlicher und forschender Blick strich über mich, von meinem Gesicht zu meinen Brüsten hinunter zu meinen Leisten. Die Schamröte, die bisher nur sein Gesicht überzogen hatte, breitete sich auf seinem ganzen

Oberkörper aus. Wiederholt bewegte er seine Lippen, mußte sie aber mit seiner Zunge befeuchten, bevor er sprechen konnte. (Mein ganzer Körper zitterte, als ob er mich mit seiner Zunge berührt hätte; insgeheim fürchtete ich, er würde sich so sehr erregen, daß er einen seiner Anfälle erleiden würde.) Aber er sagte nur:

»Warum legst du nicht auch dieses letzte Teil deines

Gewandes ab, - das Band, welches du um deine Hüften

trägst?«

Sittsam wiederholte ich, was Wyrd mir berichtet hatte:

»Von einer anständigen christlichen Frau wird erwartet, daß sie immer zumindest ein Teil ihrer Unterbekleidung anbehält, während sie tut, was wir gleich tun werden. Es wird deinen Genuß nicht schmälern, Gudinand.« Ich streckte meine

Arme aus. »Komm, laß uns einander die Freuden geben.«

Zu Boden blickend stammelte er: »Ich... ich weiß nicht richtig, wie... nun... wie man es macht...«

»Schäme dich nicht. Thorn hat mir davon erzählt. Du wirst sehen, es geht leicht und natürlich. Zuerst...« Ich nahm ihn in meine Arme und sank mit ihm sanft auf das weiche Gras.

Wir lagen nebeneinander, unsere Körper eng aneinander

gepreßt...

Erst lange nach Einbruch der Nacht hatten Gudinand und ich unsere körperlichen Kräfte und Phantasien verbraucht und unsere jeweiligen Körpersäfte verströmt. Ich hatte ihm alles, was ich jemals über den Verkehr zwischen den

Geschlechtern gelernt hatte, gezeigt. Als wir uns im Dunkeln wieder anzogen, eine Aufgabe, die uns, schwach und zitterig wie wir waren, nicht sehr leicht fiel, wiederholte Gudinand mehrmals inbrünstig, was für ein wunderbares Mädchen ich sei, wie unfaßbar genüßlich das Erlebnis für ihn gewesen sei und wie untertänigst dankbar er mir sei. Ich erklärte ihm mit gleichgroßer, allerdings mit mädchenhafter Sprödigkeit verbrämter Dankbarkeit, daß er genauso viel gegeben wie genommen hatte. Ich hoffte, fügte ich hinzu, daß wir ihn von der Fallsucht geheilt hätten.

Da wir auf verschiedenen Wegen nach Constantia

zurückkehrten, verabschiedeten wir uns mit einem Kuß

voneinander. Auf Beinen, die aus Brei zu bestehen

schienen, schlich ich zurück in die Stadt. Ihm kann es nicht viel anders gegangen sein. Ich begab mich geradewegs in eine lediglich Frauen zugängliche Therme, in die ich ohne Einwände eingelassen wurde. Im Auskleideraum legte ich bis auf das um meine Hüften gebundene Band alle Kleider ab. Niemand nahm davon Notiz, viele der Frauen hier hatten ebenfalls das eine oder andere Teil ihrer Unterbekleidung anbehalten. Eine

Frau etwa verbarg ihr Pudendum, eine andere ihre Brüste

- ich nahm an, als eine Art Tribut an ihr Schamgefühl.

Andere jedoch verhüllten unschuldige Körperteile - einen Fuß, eine Schulter oder einen Schenkel. Ich konnte nur vermuten, daß sie eine kleinere Mißbildung oder ein

Geburtsmal, vielleicht auch die Spuren der Zähne ihrer Liebhaber, zu verstecken suchten. Einige der aufwartenden Sklaven waren Frauen, andere Eunuchen, aber alle

schienen sie in Diskretion wohlgeübt zu sein. Als ich im Salbraum mit Öl eingerieben wurde und später im

Schwitzbad davon gereinigt wurde, verlor keiner der

Bediensteten auch nur ein Wort darüber, daß ich von mehr Schmutz befreit werden mußte, als sich normalerweise im Laufe eines Tages auf einem menschlichen Körper ansetzt.

In der letzten Kammer der Therme, dem Balineum, aalte

ich mich genießerisch in dem warmen Wasser. Unter den

Frauen, die es mir gleichtaten, gab es alte und junge, von verschiedensten Graden der Wohlgestaltetheit, von Kindern und aufblühenden Mädchen bis hin zu fettleibigen oder

dürren alten Frauen. Ich fragte mich, wie viele von ihnen in das Bad gekommen waren, um sich wie ich von einem

amourösen Abenteuer zu erholen.

Mindestens eine Frau im Becken war schön genug, um

diesen Verdacht in mir zu erwecken. Schon die Art, wie sie sich genüßlich und träge im Wasser treiben ließ, deutete darauf hin. Sie war eine Matrone, alt genug, die meine - oder sogar Gudinands - Mutter sein zu können. Ihre Augen waren dunkel, ebenso ihr Haar, ihr Körper schön und wohlgeformt, unberührt von der Zeit. Sie machte aus ihrem Stolz darüber kein Hehl und stellte selbst hier, wo einzig Frauen ihr Publikum stellten, ihre Reize zur Schau, als gelte es, eine ganze Legion zu verführen. Sie war eine der wenigen, die ganz nackt schwammen.

Zweifellos ließ ich meinen neugierigen Blick zu lange auf ihr ruhen. Denn sie erwiderte meinen Blick und schwamm dann geschmeidig zu mir herüber. Ich erwartete, von ihr für meine rüden Blicke getadelt zu werden. Stattdessen gab sie ein paar belanglose Freundlichkeiten von sich: wie

erfrischend es sei, hier ein neues Gesicht zu sehen... Ob das Wasser nicht wunderbar anregend auf alle Sinne

wirke?... Sie heiße Robeya und wie mein Name sei. Noch während sie sprach, nahm sie meine Hand in die ihre und legte sie auf eine ihrer bloßen Brüste, mit der anderen streichelte sie meinen (sehr viel weniger ausladenden) Busen. Ihre unerwartete Kühnheit verschlug mir den Atem, und das eindeutige Angebot, daß sie mir ins Ohr hauchte, machte mich vollends sprachlos.

»Wir brauchen noch nicht einmal das Wasser zu

verlassen«, fügte sie hinzu. »Wir können uns in diese dunkle Ecke dort drüben zurückziehen und es dort tun.«

Wäre ich Thorn gewesen, ich hätte ohne weiteres

akzeptiert. Aber Juhiza schenkte ihr nur ein süßlich

zufriedenes Lächeln und sagte: »Danke, liebste Robeya, aber ich habe diesen Abend damit verbracht,

außerordentliche Genüße von einem außerordentlich

männlichen Liebhaber zu empfangen.«

Sie ließ mich fahren, als hätte sie sich verbrüht, zischte etwas zweifellos einen helvetischen Fluch, den ich noch nicht kannte - und verzog sich auf die andere Seite des Beckens. Ich lächelte einfach weiter. Ich lächelte immer noch, als ich mich anzog und die Therme verließ. Selbst auf dem Weg in mein Zimmer in der Herberge lächelte ich noch und wahrscheinlich die ganze Nacht hindurch, in der ich den Schlaf einer körperlich zutiefst befriedigten Frau schlief.

Am nächsten Tag war ich wie neugeboren und das

Schwächegefühl war vergangen. Zumindest im Moment

wurde ich nicht mehr von den Erinnerungen an die Stunden mit Gudinand überschwemmt. Ich glaube, nachdem ich eine solch übermenschliche Erlösung und Befriedigung meiner weiblichen Triebe erfahren hatte, hatte sich meine weibliche Hälfte - zumindest vorübergehend - in eine Art schläfrige Wartestellung zurückgezogen und meiner männlichen Hälfte die Herrschaft überlassen. Ich konnte mich als Thorn kleiden und verhalten, denken wie Thorn und sogar Thorn sein, als ich in das Wäldchen am See lief, wo ich mich mit Gudinand nach seinem Tag in der Fellgrube traf. Es gelang mir, ihn, ohne irgendwelche weiblichen Sehnsüchte oder

Empfindungen zu begrüßen und anzuschauen,

ausschließlich mit der alten Kameradschaft zwischen zwei jungen Burschen, die ich früher schon gefühlt hatte, als wir lediglich Freunde und Spielgefährten gewesen waren.

Ehrlich gesagt, ich war wieder so sehr Thorn, so sehr Mann, daß ich Gudinand sein Frohlocken über das wundervolle

Mädchen und das wundervolle Erlebnis, das er letzte Nacht gehabt hatte, übelnahm. (Ich erwähne dies nur, um

klarzumachen, wie vielfältig und verschieden die Gefühle waren, mit denen ich, als noch nicht erwachsener

Mannamawi, umzugehen lernen mußte.) Ich hätte mich von Gudinands Huldigungen und Lobgesängen auf mein

anderes Selbst, Juhiza, wirklich geschmeichelt fühlen sollen.

Aber ich denke, jeder normale Junge, und in diesem

Moment war ich ein ganz normaler Junge, dem gegenüber

ein anderer Junge mit einem Liebesabenteuer prahlt, und der mit keiner gleichwertigen Prahlerei dagegenhalten kann, wird ein gewisses Maß an Neid auf die Überlegenheit des anderen auf diesem Gebiet verspüren.

»Liufs Guth, Thorn«, deklamierte Gudinand in einem fort,

»deine Schwester ist wahrhaft außerordentlich.

Außerordentlich in ihrer Schönheit, ihrer Freundlichkeit, ihrem Mut, ihren Talenten, ihrer... äh...«

Er hielt sich zwar geziemlich zurück, was die Einzelheiten anging, doch das half nichts, ich kannte sie ja alle. Neben all den widerstreitenden Gefühlen keimte ein anderes in mir auf, kein normales, sondern ein ziemlich ungewöhnliches.

Ich mißgönnte meinem Freund Gudinand die Freuden, die er mit mir, aber ohne mich erlebt hatte. Ich weiß, das klingt verrückt. Und ich sagte zu mir selbst: Hör auf damit. Du wirst noch durchdrehen! Es gelang mir, Gudinands Ausführungen mit einer Bemerkung zu unterbrechen: »Ich weiß, Juhiza ist ein liebenswürdiges Mädchen, und ich bin sicher, ihre

Gesellschaft war sehr erfreulich für dich. Aber das wichtigste ist doch... denkst du, ihre, ähm, Aufmerksamkeiten haben dein Leiden gelindert?«

Gudinand zuckte hilflos mit den Schultern. »Wie kann ich das wissen? Nur wenn ich nie mehr einen Anfall erleide, kann ich sicher sein.« Er lächelte mir halbherzig zu.

»Eigentlich sollte ich dankbar sein, an der Fallsucht gelitten zu haben, da sie mir den Genuß eines so überaus

erinnerungswürdigen Heilmittels verschaffte. Der Liufs Guth weiß, ich sollte so etwas nicht sagen aber ich wünsche mir fast, eine Verabreichung möge sich als nicht ausreichend erweisen.«

Einen kurzen Moment lang erwachte die in mir

schlummernde Juhiza und ließ mich sagen: »Nun, wie du

weißt, bei einigen Leiden verschreibt ein Medicus mehrere Verabreichungen...« Aber ich unterdrückte jedes weitere Gefühl in diese Richtung und fuhr fort: »Meine Schwester und ich haben die Anordnungen unseres Beschützers

bereits einmal mißachtet. Sollten wir damit fortfahren, wird Wyrd wohl durch das Gerede der Leute davon erfahren.

Oder er kehrt unerwartet zurück und findet Juhiza nicht in unseren Räumen vor.«

»Je«, sagte Gudinand verzweifelt. »Ich habe kein Recht, euch beide der Gefahr seines Unmutes auszusetzen.«

»Jedoch«, sagte ich, »befindest du dich in größerer Gefahr als wir. Falls du einen weiteren Anfall erleidest, verberge es nicht vor mir. Gib mir Bescheid... ich werde Juhiza

unterrichten... und...«

Seine Gesichtszüge hellten sich auf, und er lächelte mich breit an: »Laß uns hoffen, daß diese eine Behandlung sich als hinreichend erweist. Ich fühle mich gesünder und

glücklicher als jemals zuvor in meinem Leben. Das sollte ein gutes Omen sein, oder? Denken wir nicht mehr daran, laß uns einfach der Thorn und der Gudinand sein, die wir waren, bevor all dies sich ereignete. Was meinst du? Womit sollen wir, was von diesem Tag noch übrig ist, verbringen? Sollen wir ein Wettrennen machen oder ringen, auf den See

hinausfahren und fischen oder zurück in die Stadt gehen und etwas Aufruhr in das Leben der jüdischen Händler bringen?«

Nur kurz will ich erwähnen, was weiter geschah. Kaum

eine Woche später erschien Gudinand ausgezehrt und elend an unserem Treffpunkt. An diesem Nachmittag, erzählte er, hatte er während seiner Arbeit in der Grube wieder einen Anfall erlitten, und zwar so plötzlich, daß er kaum Zeit gehabt hatte, sich am Rand der Grube festzuhalten, um

nicht zu versinken und zu ertrinken. Es tue ihm so leid, es mir berichten zu müssen, aber, das Heilmittel der »sexuellen Initiation« scheine versagt zu haben... oder habe sich doch zumindest als nicht ausreichend erwiesen...

So war es Juhiza, die ihn am nächsten Abend in dem

Wäldchen am See traf. Was sich dort ereignete, unterschied sich kaum von dem ersten Zusammentreffen, nur daß die

Vereinigung diesmal noch stürmischer verlief und länger war als beim ersten Mal.

Und das sollte nicht das letzte Mal gewesen sein. In

regelmäßigen Abständen von rund einer Woche berichtete ein zerknirschter Gudinand, daß er wieder einen Anfall erlitten habe. Ich selbst habe keinen dieser Anfälle miterlebt, aber ich zweifelte auch nie an Gudinands Aufrichtigkeit. Ich weigerte mich zu glauben, daß er lügen würde, um von

seinem Freund Thorn oder seiner Geliebten Juhiza einen Gefallen zu erschleichen. Also glaubte ich ihm und

verabredete jedesmal wieder ein Stelldichein zwischen ihm und Juhiza.

Einmal begnügte sich Gudinand nicht damit, Juhiza wie

üblich seiner aufrichtigen Dankbarkeit zu versichern,

sondern fügte unvermittelt hinzu: »Juhiza, ich liebe dich. Du weißt, ich bin... ungeschickt darin, anderen Menschen

gegenüber meine Gefühle auszudrücken. Aber du mußt

doch vermutet haben, daß ich in dir viel mehr als nur eine großzügige Wohltäterin sehe. Ich liebe dich, ich bewundere dich. Sollte ich jemals von dieser verfluchten Krankheit geheilt werden, dann würde ich gerne mit dir...«

Ich legte einen Finger auf seine Lippen und lächelte, aber schüttelte den Kopf. »Du weißt, ich würde das niemals für dich tun, wenn ich nicht wirkliche Zuneigung für dich

empfinden würde. Und ich muß gestehen, mir gefällt es so gut wie dir. Aber ich habe geschworen, mich niemals mehr von der wahren Liebe versklaven zu lassen. Selbst wenn ich meinen Eid brechen sollte, wäre das uns beiden gegenüber ungerecht, denn ich werde Constantia am Ende des

Sommers verlassen und...«

»Ich könnte mit dir kommen!«

»Und deine sieche Mutter im Stich lassen?« rügte ich ihn.

»Ne, laß uns davon nicht mehr sprechen. Laß uns genießen, was wir haben, solange wir es haben. Jeder Gedanke an ein Morgen, oder an Dauerhaftigkeit, würde uns umhüllen wie ein Totentuch. Kein Wort mehr, Gudinand. Die Dunkelheit bricht schnell über uns herein, und wir haben besseres zu tun als zu reden.«

Ich habe diese Ereignisse in so wenigen Worten wie

möglich wiedergegeben, denn was jetzt folgt, kann nicht so schnell abgehandelt werden. Dieser Sommer voll seltsamer und wundervoller Geschehnisse ging schließlich zu Ende.

Der Herbst kam, und mit ihm die Katastrophe: für Gudinand, für Juhiza und - wie könnte es anders sein? - für mich.

5

Ich sollte daran erinnern, daß ich diese Sommermonate in Constantia keineswegs in einem Vakuum verbrachte. Wyrd war unterwegs und Gudinand arbeitete den größten Teil

eines jeden Tages außer sonntags. Ich selbst hatte keine Pflichten, die mich beschäftigt hätten und verfügte so über sehr viel freie Zeit. Und die verschwendete ich keineswegs damit, in meinem Zimmer in der Herberge zu sitzen und auf mein nächstes Zusammentreffen - ob als Thorn oder als

Juhiza - mit Gudinand zu warten. Einen Teil meiner Zeit verbrachte ich zwar in der Herberge, wo ich den

Stallburschen dabei half, mein Pferd Velox zu füttern und zu striegeln oder das Leder des Sattels und des Zaumzeugs glänzend und geschmeidig zu halten.

Doch meistens gab ich meinem eingeborenen Drang zur

Neugier nach und erkundete, zu Fuß oder zu Pferd

Constantia und die umliegende Gegend. Hin und wieder ritt ich hinaus und gesellte mich zu den Handelszügen, die mit schwerbeladenen Wagen und Packpferden in die Stadt

kamen, oder ich ritt einige Meilen mit aufbrechenden Zügen.

Von den Wagenführern und Reitern, mit denen ich mich

unterhielt, erfuhr ich viel über die Länder, aus denen sie kamen und zu denen sie unterwegs waren.

In der Stadt trieb ich mich gerne auf den Märkten und in den Handelshäusern herum, wo ich Bekanntschaft mit

Käufern und Verkäufern schloß und viel über die Kunst des Verhandeins lernte. Sogar auf dem Sklavenmarkt von

Constantia verbrachte ich einige Zeit und schmeichelte mich soweit bei einem ägyptischen Sklavenhändler ein, daß er mir sehr stolz und mit verschwörerischen Gesten eine exklusive Vorführung eines besonderen Postens seiner Kollektion

gewährte. Ein Posten, der, wie er sagte, niemals öffentlich zur Schau gestellt werden würde. »Oukh«, sagte er, was in der griechischen Sprache soviel wie »Nein« bedeutete. »Sie wird nur unter der Hand verkauft werden... an einen Kunden mit sehr speziellen Wünschen. Diese Art Sklave ist außerordentlich selten und kostbar.«

Als er sie mir jedoch zeigte, sah ich nichts weiter als ein nacktes

Mädchen in ungefähr meinem Alter - ein recht hübsches

und anziehendes Geschöpf aus Äthiopien. Ich grüßte sie höflich in allen mir bekannten Sprachen und Dialekten, aber sie lächelte nur schüchtern und schüttelte den Kopf.

»Sie spricht nur ihre eigene Sprache«, sagte der Händler gleichgültig. »Nicht einmal ihren Namen weiß ich. Ich nenne sie Äffchen.«

»Nun«, sagte ich, »sie ist dunkelhäutig, aber das ist

lediglich eine ungewöhnliche Hautfarbe, keine große

Seltenheit. Ich nehme an, daß sie, angesichts ihres Alters, noch Jungfrau ist. Aber auch Jungfrauen sind nichts

Außergewöhnliches. Und im Bett kann sie noch nicht einmal reden. Wieviel verlangt Ihr für sie?«

Der Ägypter nannte eine haarsträubende Summe, die

ungefähr der gesamten, nicht unbeträchtlichen Summe

entsprach, die Wyrd und ich für die Felle eines ganzen Winters erhandelt hatten.

»Dafür könnte man eine ganze Galeerenladung

jungfräulicher Schönheiten erstehen«, stieß ich hervor.

»Was in aller Welt rechtfertigt diesen Preis? Und warum tut Ihr so geheimnisvoll?«

»Ah, mein junger Herr. Die wahren Tugenden und

Vorzüge von Äffchen liegen nicht offen zutage, denn sie rühren daher, wie sie seit ihrer Geburt aufgezogen wurde.

Sie ist nicht nur schwarz, nicht nur wohlgeformt, nicht nur eine Jungfrau, sie ist auch eine Venefica.«

»Und was ist das?«

Er klärte mich auf, und was er sagte, war unerhört. Noch einmal starrte ich das schüchterne schwarze Mädchen an, von Ehrfurcht und Entsetzen gepackt.

»Liufs Guth!« brachte ich hervor. »Wer würde solch ein Monster kaufen wollen?«

»Oh, keine Sorge.« Der Ägypter zuckte mit den Schultern.

»Ich muß Äffchen vielleicht noch eine ganze Zeitlang füttern und beherbergen, aber früher oder später wird jemand

kommen, der sie nutzen kann und freudig den Preis, den ich verlange, entrichten wird. Ich bitte um deine Nachsicht, junger Herr, aber vielleicht kommt Ihr in Eurem Leben an einen Punkt, wo Ihr froh sein werdet, zu wissen, daß Ihr - so Ihr nur lange genug sucht und teuer genug dafür bezahlt -

eine Venefica für Euren eigenen Gebrauch finden könnt.«

»Betet zu Gott...«, mir war schlecht und ich wollte so schnell wie möglich weg von diesem Ort, »betet zu allen Göttern, daß es niemals soweit kommen wird.

Nichtsdestoweniger danke ich Euch, Ägypter, zu meinem

Wissen über die verruchten Pfade der Welt beigetragen zu haben.« Damit verließ ich ihn.

Zur Essenszeit suchte ich die Taverne auf, die von den Händlern und Reisenden bevorzugt wurde, und aß und trank mit ihnen. Sie erzählten von den Nöten und Gefahren auf den Handelsrouten und prahlten mit den atemberaubenden Gewinnen oder beklagten die fürchterlichen Verluste, die ihnen diese oder jene Fahrt eingebracht hatte.

In Constantias Amphitheater - kleiner als jenes, das ich in Vesontio gesehen hatte -

besuchte ich athletische

Wettkämpfe, Pferde- und Wagenrennen und Boxkämpfe. Ich lernte, Wetten zu plazieren, und manchmal gewann ich

sogar. Zahllose Stunden verbrachte ich in den

verschiedenen für Männer reservierten Thermen und lernte Leute kennen, mit denen ich Ringkämpfe veranstaltete oder mich sonstwie körperlich betätigte. Manchmal würfelten wir, spielten das Zwölflinien-Spiel oder Ludus, ein Ballspiel, das mit Schlägern gespielt wird - manchmal vertrieben wir uns die Zeit, indem wir jemandem lauschten, der mit volltönender Stimme Gedichte deklamierte oder die lateinischen Carmina Priscae oder die germanischen Saggwasteis fram aldrs

vortrug. Constantia besaß eine öffentliche Bibliothek, aber dorthin ging ich nur selten. Sogar das Skriptorium von St.

Damian war besser als diese Bibliothek, und ich entdeckte nur wenige Kodizes oder Schriftrollen, die ich nicht schon gelesen hatte. Auch die Basilika des Heiligen Johannes besuchte ich nur, wenn ich vor Langeweile zu ersticken drohte, denn ich empfand eine Abneigung gegen den

Priester Tiburnius, seit ich Zeuge seiner »unfreiwilligen«

Ordination geworden war und seine selbstgefällige

Antrittspredigt gehört hatte.

Die Straßen, Märkte und Plätze Constantias waren immer sehr bevölkert, aber mit der Zeit gelang es mir, die

Einwohner der Stadt von Durchreisenden und

Sommergästen wie mir selbst zu unterscheiden. Zwei

Personen fielen mir besonders auf. Die Menge auf den

Straßen war im allgemeinen unbotmäßig und rücksichtslos, man drängelte und benutzte seine Ellbogen. Aber alle traten unterwürfig zur Seite oder drängten sich sogar in die

Hauseingänge, wenn ein bestimmter Mann passieren wollte.

Es dauerte seine Zeit, bis ich den Mann selbst zu Gesicht bekam. In der Regel bewegte er sich nämlich in einer

gewaltigen, kostbar geschmückten und mit Vorhängen

verhangenen liburnischen Sänfte fort. Acht rasch

ausschreitende, schwitzende Sklaven trugen sie auf ihren Schultern, riefen laut »Platz, Platz dem Legaten« und

rannten jeden über den Haufen, der nicht rechtzeitig aus dem Weg sprang. Als ich nachfragte, wurde mir bedeutet, daß es sich um die Sänfte des Latobrigex handelte - der Dux, wie es in Latein genannt wurde - oder Herizogo, wie es in der alten Sprache geheißen hätte. Latobrigex, so wurde mir gesagt, sei der einzige in Constantia geborene Bürger von wahrhaft edler Abstammung und aus diesem Grund

zumindest nominell der Legat Roms in diesem

prosperierenden Außenposten des Imperiums.

Der andere Mann war ein riesenhafter, grobschlächtiger junger Mann mit einem trägen, stumpfen Gesichtsausdruck.

Er hatte eine niedrige Stirn und buschige Augenbrauen. Er war etwa so alt wie Gudinand, in einem Alter also, in dem man gewinnbringend beschäftigt sein sollte, aber er schien ebenso untätig wie ich die Stadt zu durchstreifen. Ich jedoch nutzte meine Streifzüge wenigstens zum Beobachten und

Lernen, wogegen sein leerer Blick nichts als Verachtung und Abscheu ausdrückte, ganz gleich wann und wo ich ihm

begegnete. Niemals sah ich ihn irgend etwas tun, und in der Menge benahm er sich noch flegelhafter als alle anderen, die er fluchend und knurrend aus dem Weg schob.

Einmal half ich einem alten Mann wieder auf die Beine, den der Grobian so rücksichtslos angerempelt hatte, daß er hingefallen war, und fragte ihn: »Wer ist dieser Rüpel eigentlich?«

»Dieser verfluchte Balg wird Claudius Jaerius genannt. Er ist nicht im Vollbesitz seiner Sinne - außer jenem Sinn, der ihm sagt, daß er über allen einfachen Bürgern thront. Er hat keine Beschäftigung, keine Verpflichtungen und, abgesehen von seichtem Müßiggang und gedankenloser Brutalität,

keine Interessen.«

Während der alte Mann versuchte, den Schlamm, in den

er

gefallen war, von sich abzureiben, fragte ich weiter:

»Warum wehren sich denn die einfachen Bürger nicht? Ich würde das tun, und zwar mit Freuden, obwohl er doppelt so groß ist wie ich.«

»Versuche es gar nicht erst, junger Freund. Keiner von uns wagt, sich seinem Willen entgegenzustellen, er ist nämlich das einzige Kind des Latobrigex. Also sei auf der Hut. Zwar ist unser Dux kein Tyrann, sondern ein milder und zurückhaltender Mann, nachgiebig gegenüber seinen

Untertanen, aber leider ist er Wachs in den Händen seines mißratenen Sprößlings. Es ginge ja noch, wenn Jaerius nur das schwache Temperament seines Vaters geerbt hätte.

Aber er ist auch Sohn seiner Mutter, und die ist ein

giftspeiender Drache sondergleichen. Ich danke dir, junger Herr, für deine Hilfsbereitschaft und dein Mitgefühl. Als Gegenleistung warne ich dich, gehe dem unerträglichen, aber auch unangreifbaren Jaerius aus dem Weg.«

Ich nahm mir die Worte des Alten zu Herzen, zumindest

solange, wie es mir möglich war.

Es braucht wohl kaum gesagt werden, daß ich meine

Streifzüge durch die Stadt und das umliegende Land immer als Thorn unternahm; dasselbe galt, wenn ich öffentliche Veranstaltungen besuchte oder mich unter die Bürger der Stadt mischte. Nur in jenen Dämmerstunden, in denen ich mich mit Gudinand für eine weitere Anwendung seiner Kur traf, wagte ich mich als Juhiza auf die Straßen Constantias.

Selbst dann achtete ich sorgsam darauf, daß niemand sah, wie ich mich aus der Herberge stahl, durch die

Hinterhofgassen zu den seewärts gelegenen Außenbezirken der Stadt schlich und von dort weiter in unser vertrautes Wäldchen. Nach diesen Episoden begab ich mich für

gewöhnlich - im Schütze der Dunkelheit - zur Reinigung und Wiederbelebung in eine der Frauenthermen. Einige Male

sah ich in der einen oder anderen Therme jene lüsterne Frau Robeya wieder. Aber sie blieb auf Abstand, und falls sich unsere Blicke zufällig trafen, warf ich ihr ein maliziöses Lächeln und sie mir einen giftigen Blick zu, woraufhin wir gegenseitig vermieden, uns weiter in die Augen zu schauen.

Nur zwei- oder dreimal wagte ich mich als Juhiza im hellen Tageslicht unter die Augen der Öffentlichkeit. Das eine Kleid, das ich besaß, war schon, als ich es in Vesontio erstanden hatte, verblichen und abgetragen gewesen. Jetzt, nach

mehreren Treffen mit Gudinand, zeigte es von dem häufigen An- und Ablegen deutliche Abnutzungserscheinungen. Ich besaß genügend Geld, mir neue Gewänder zu kaufen - und mußte auch nicht länger vorgeben, sie für irgendeine

Geliebte zu erstehen. Damit mir meine Kleidung auch

wirklich gut stand und richtig paßte, begab ich mich als Juhiza in die Geschäfte jener Tuchhändler, die für vornehme Familien arbeiteten. Schäbig gekleidet, wie ich war, wurde ich dort eher reserviert empfangen. Aber da ich die

Verkäufer so herablassend behandelte, als ob ich einer hochgestellten Familie entstammte, und darauf bestand, nur Gewänder bester Qualität vorgelegt zu bekommen,

verbeugten sie sich alsbald untertänigst vor mir. Während dieser Ausflüge in die Stadt erwarb ich drei neue, mit exquisiten Stickereien verzierte Kleider und dazu

verschiedenes modisches Beiwerk wie Kopftücher und

Sandaletten sowie Haarnadeln, Bänder und Spangen, um

meine Haare auf verschiedene Weisen frisieren zu können.

Ich wiederhole: Meine Ausflüge als Juhiza waren selten genug. Und doch war es einmal zuviel.

Dieses eine Mal verließ ich gerade den Laden eines

Salbenhändlers, wo ich meine Vorräte an kosmetischen

Salben und Pudern aufgefüllt hatte, als ich eilig

näherkommende Schritte und den Ruf »Platz! Platz dem

Legaten!« vernahm. Die Menge machte hastig den Weg frei.

Ich selbst zog mich, als die liburnische Sänfte auftauchte, in die Eingangstüre des Salbenhändlers zurück. Nicht weit von mir entfernt blieben die Sklaven stehen und setzten die Sänfte vorsichtig ab. Eine außergewöhnlich schöne Frau und ein überaus unansehnlicher junger Mann stiegen aus.

Es war natürlich der rüpelhafte Jaerius, Sohn des Dux

Latobrigex, und in der Frau erkannte ich, zu meinem größten Erstaunen jene Robeya, die ich aus den Frauenbädern

kannte. Sofort wurde mir klar, daß sie die »Drachen«-Mutter des Flegels sein mußte.

Ich hätte mein Gesicht bedecken oder mich abwenden und unauffällig zurückziehen sollen. Aber ich blieb stehen, starrte sie an und dachte mir: Nun, offensichtlich konnte selbst eine Frau mit Robeyas speziellen Neigungen heiraten - sogar ein Mitglied der lokalen Nobilität. Sie mußte zumindest einmal lange genug still gehalten haben und ihrem Gatten zu Willen gewesen sein, um sich von ihm schwängern zu lassen. Kein Wunder, daß diesem vertrockneten und lieblosen Leib der hinterhältige und nicht im geringsten liebenswerte Jaerius entsprungen war.

Aber ich blieb zu lange sinnend stehen und Robeya

erblickte mich. Wir hatten einander niemals anders als nackt gesehen, aber sie hatte mich ebenso schnell wiedererkannt wie ich sie. Ihre Augen wurden weit, verengten sich wieder, und sie beugte sich zu ihrem Sohn hinüber, den sie anstieß und dann auf mich deutete. Dabei sprach sie hastig auf ihn ein. Was sie sagte, konnte ich nicht hören, aber ich sah, daß sich seine Augen ebenfalls verengten und er mich von oben bis unten musterte, so als ob sie ihm geboten hätte, sich jedes Detail von mir einzuprägen. Endlich raffte ich mich auf und ging gemäßigten Schrittes in die entgegengesetzte

Richtung. Kaum hatte ich die erste Querstraße erreicht, da bog ich ab und suchte so rasch wie möglich, ohne dabei unziemlich schnell zu rennen, das Weite. Nur einmal wandte ich mich um, sah aber weder Jaerius noch Robeya mich

verfolgen.

Ich war froh, meine Kammer ohne weitere Zwischenfälle

zu erreichen und erleichtert, einer womöglich häßlichen Szene entkommen zu sein. Ich verstaute meine Einkäufe

und legte eilig die Gewänder Juhizas ab. Im stillen schwor ich mir, niemals mehr bei Tage als Juhiza auszugehen. Und diesen Schwur hielt ich. In der nächsten Zeit ging ich nur als Thorn in die Stadt oder traf mich mit Gudinand zu unseren jungenhaften Spielen und sportlichen Wettkämpfen. Doch mit der Zeit verflüchtigten sich meine Bedenken wieder etwas. Als Gudinand mir dann beichtete, daß er wieder

einen Anfall erlitten hatte, war es nur mit einem Minimum an Beklommenheit verbunden, daß ich mich für eine erneute Behandlung wieder in Juhizas Gewänder kleidete.

»Mein Freund«, sagte ich, »ich fürchte, dies muß das

letzte Mal sein. Der Herbst kommt, und Wyrd, unser

Beschützer, kann jeden Tag zurückkehren. Außerdem... , falls die Behandlung bisher nicht angeschlagen hat...«

»Ich weiß, ich weiß«, erwiderte Gudinand erschöpft und resigniert. »Trotzdem, wenigstens werde ich dieses eine Mal noch haben...«

Als ich mich am nächsten Abend in Juhiza verwandelte,

war ich nervös, und meine Hände zitterten so sehr, daß mir das Färben meiner Augenbrauen und Wimpern erst beim

zweiten Mal glückte.

Aber da dies einer der ersten Tage des Herbstes war,

brach die Dämmerung glücklicherweise sehr früh herein, und es war fast schon dunkel, als ich aus der Herberge

schlüpfte. Es war das erste Mal seit meiner zufälligen Begegnung mit Robeya und Jaerius, daß ich mich als Juhiza auf die Straße wagte. Aber weder Robeya noch Jaerius

waren in der Nähe, noch sah ich jemanden, der wie ein

Spion aussah. Ich hatte auch nicht den Eindruck, verfolgt zu werden, als ich meinem üblichen Weg durch die engen

Gassen Constantias zum See hin folgte.

Aber natürlich wurde ich - genauer gesagt Juhiza -

beschattet. Und zwar seitdem ich Jaerius und Robeya

zusammen gesehen hatte. Als ich damals vor ihnen floh, mußten sie einen der Sklaven, der die Sänfte trug, hinter mir hergeschickt haben. Niemals hätte ich einen mir

unbekannten Verfolger in dem Volk auf der Straße

ausmachen können. Der Sklave, oder eine andere Person, oder verschiedene Personen, müssen von jenem Tag bis

heute unablässig meine Zimmer bewacht haben. Die Zeit

muß ihm, oder ihnen, sehr lang geworden sein, denn Juhiza tauchte nicht mehr auf, und mein Kommen und Gehen als

Thorn konnte ihnen keinen Anlaß für irgendwelche

Verdächtigungen geben. Aber irgend jemand wurde

schließlich doch für seine Ausdauer belohnt, als in dieser Nacht Juhiza die Herberge verließ.

In dieser Nacht war die Luft so kühl, Gudinand und ich fröstelten, als wir uns entkleideten: Wir hatten eine

Gänsehaut, als wir beide nackt dastanden, und im selben Augenblick stellten sich unsere Haare zu Berge, denn

plötzlich raschelte es im Gebüsch, und eine rauhe Stimme -

Jaerius' Stimme - dröhnte:

»Gudinand, du stinkender Krüppel! Du hast deinen Spaß

mit dieser Hure gehabt. Laß mal einen richtigen Mann ran.

Heute nacht bin ich an der Reihe.«

Gudinand und ich waren wehrlos. Wir waren beide

unbekleidet und unbewaffnet. Einen schweren hölzernen

Stock schwingend, brach Jaerius aus seinem Versteck

hervor. Ich lag auf dem Rücken, Gudinand hatte sich über mich gebeugt. Ich hörte den dumpfen Schlag des Stocks

und Gudinands Stöhnen und fühlte, wie er von mir weg in die Dunkelheit geschleudert wurde.

Im nächsten Moment preßte mich das schwere,

schwitzende Gewicht Jaerius' nieder. Er hatte sich nicht ausgezogen, sondern lediglich sein Gewand soweit geöffnet, um sein Fascinum herauszuholen. Damit begann er jetzt, auf meinen Unterleib einzustoßen. Ich kämpfte, schlug wild um mich und rief Gudinand um Hilfe an - aber der war entweder bewußtlos oder tot. Jaerius lachte bloß.

»Ich weiß, daß es dir gefällt, du kleines Luder. Und bei mir riskierst du nicht, dich mit der Fallsucht anzustecken wie mit deinem schwachsinnigen Freund da drüben.«

»Runter von mir«, tobte ich. »Ich suche mir meine Freunde selbst aus.«

»Keine Sorge, du wirst mich bevorzugen, wenn du mich

erst einmal genossen hast. Laß das nutzlose Gestrample und hör mir zu.«

Ich hörte zwar nicht auf, mich nach Leibeskräften zu

wehren, mußte ihm aber zuhören, ob ich wollte oder nicht.

»Du kennst Robeya, meine Mutter. Und sie sagt, sie kennt dich gut, sehr gut sogar.«

Ich schnappte nach Luft. »Ich weiß, daß sie eine

abartige...«

»Halt deinen verdammten Mund und hör genau zu. Die

letzte Geliebte meiner Mutter war die Haarschererin, die ihr die Haare färbt, eine kleine Schlampe von niederer Herkunft namens Maralena. Als meine Mutter genug von Maralenas

Unzulänglichkeiten im Bett hatte, vermachte sie sie mir.

Mutter erklärte und zeigte mir, wie ich Maralena Vergnügen bereiten konnte. Und sie schaute uns beiden zu und

unterwies uns bei unseren Lustspielen. Und würdest du es glauben? - Maralena gefielen meine Aufmerksamkeiten noch mehr als die, die ihr meine Mutter erwiesen hatte. Ich verspreche dir, dir wird es nicht anders gehen. Hier, gib mir deine Hand. Fühl doch nur, wie groß mein Fascinum ist.

Also, öffne deine Beine und...«

Wieder hörte ich den dumpfen Schlag eines Stocks, und

genauso plötzlich wie zuvor Gudinand wurde Jaerius in die Dunkelheit weggeschleudert. Ich blieb schutzlos liegen. Und das war auch alles, was ich tun konnte: liegen bleiben, benommen wie ich war, und versuchen, wieder zu Atem zu kommen und herausfinden, was diese verwirrende und

schnelle Abfolge von Ereignissen zu bedeuten hatte. Da legte sich eine schwielige, harte Hand sehr sanft auf meine Stirn, und eine bekannte Stimme sagte:

»Sei beruhigt, Junge. Du bist jetzt in Sicherheit. Laß dir Zeit, deine Sinne zu sammeln.«

»Fräuja«, krächzte ich, »bist du das wirklich?«

»Wenn du den bärtigen alten Wyrd nicht wiedererkennst, dann müssen deine Sinne wirklich verwirrt sein.«

»Ne... ne, ich glaube, ich bin in Ordnung. Aber was ist mit Gudinand?«

»Er kommt langsam wieder zu sich. Er wird

Kopfschmerzen haben, mehr nicht. Das gleiche gilt für

deinen anderen Freund. Ich schlug nicht hart genug zu, um ihn zu töten.«

»Freund?« protestierte ich empört. »Das ist der Sohn

eines Drachen...«

»Ich weiß, wer er ist«, sagte Wyrd. »Bei der Nase und den Ohren, die Zopyrus von seinem eigenen Kopf abschnitt, du hast eine Begabung, die richtigen Bekanntschaften zu

machen. Zuerst Gudinand, über den die ganze Stadt lacht.

Und jetzt auch noch Jaerius, der meistgehaßte Bastard

Constantias.«

»Ich habe mich nicht um die Bekanntschaft von...

bemüht.«

»Halt den Mund«, fuhr mich Wyrd so rauh wie eh und je

an. »Zieh dir ein paar Kleider über. Ich gebe keine Ferta, wenn du dich unschicklich aufführst, aber dann sorge auch dafür, daß man es dir nicht ansieht.«

Mit zittrigen Händen zog ich mich wieder an. Gudinand, der sich im Hintergrund hielt, tat desgleichen. Offensichtlich fürchtete er Wyrds Zorn darüber, ihn und mich in einer solchen Situation vorgefunden zu haben. Als ich wieder klar denken konnte, wandte ich mich reumütig und mit leiser Stimme an Wyrd:

»Fräuja, ich wollte nicht, daß du mich jemals so siehst.«

»Halt den Mund«, knurrte er. »Ich bin ein alter Mann und ich habe viel gesehen. So viel, daß mehr nötig ist, als du jemals tun könntest, um mich zu erschüttern. Ich habe dir vor langer Zeit bereits gesagt, daß ich nicht das geringste Interesse an... daran habe, ob du im Stehen oder im Sitzen pißt. Oder was immer du, mit deinen intimen Körperteilen anstellst.«

»Aber... «, meine Hände zitterten immer noch. »Wenn ich es mir genau überlege... wie kommt es, daß du hier bist, Fräuja? Gerade dann, wenn Gudinand und ich Hilfe

brauchen?«

»Slaváith, Junge. Ich kam schon vor einer Woche zurück nach Constantia. Aber als ich vor unserer Herberge einen Spion entdeckte, entschloß ich mich, woanders Quartier zu beziehen und diesem Spion nachzuspionieren. Ich habe dich kommen und gehen sehen. Dann, als du heute nacht in

Frauenkleidern erschienst und verfolgt wurdest, folgte ich einfach dem Verfolger. Die Frage jetzt aber lautet: Was sollen wir mit diesem Sohn eines Drachen tun?«

Jaerius, der diese Unterhaltung nicht gehört hatte, richtete sich stöhnend auf und befingerte die Beule an seinem Kopf.

So weit ich in der Dunkelheit erkennen konnte, war er

ziemlich eingeschüchtert.

»Wir binden ihm einen großen Stein um den Hals«, sagte ich böse, »und werfen ihn in den See.«

»Es wäre mir ein Vergnügen«, sagte Wyrd, und man

konnte sogar in der Dunkelheit deutlich sehen, wie Jaerius erbleichte. »Nach gotischem Gesetz würde diese Kreatur zu einem Nauthing erklärt - ein Mensch, der so wertlos ist, daß das Gesetz den, der ihn ermordet, nicht bestrafen, ja noch nicht einmal ermahnen würde.«

»Ich würde ihn«, fuhr Wyrd fort, »wäre er ein

Frauenschänder von niederem Stand, ohne zu Zögern

erschlagen. Allein, er ist der Sohn des Dux Latobrigex. Auch wenn wohl jeder Einwohner Constantias - sogar sein Vater, der Dux persönlich - Jaerius' Verschwinden erfreut begrüßen würde, würden nichtsdestoweniger Fragen gestellt werden.

Außerdem werden seine spionierenden Speichellecker - und ganz bestimmt seine Mutter - wissen, wo er sich jetzt aufhält.

Diese Fragen würden dir, Junge, und deinem Freund

Gudinand gestellt werden, und wahrscheinlich mit der

überzeugenden Unterstützung eines erfahrenen

Folterknechts. Ich empfehle also, Jaerius sein Leben zu schenken. Dadurch vermeiden wir die Gefahr für euch

beide.«

Wie üblich war Wyrds Ratschlag klug, so daß ich mich

darauf beschränkte, verdrossen zu fragen: »Und was

schlägst du dann vor, Fräuja? Sollen wir etwa die

Stadtwache oder das Gericht über seine Strafe bestimmen lassen?«

»Ne«, sagte Wyrd verächtlich. »Nur ein Schwächling oder ein Feigling läßt das Gesetz eine Angelegenheit der

persönlichen Ehre entscheiden. Und Jaerius würde,

angesichts seiner Stellung, sowieso unverzüglich

freigesprochen werden.« Wyrd betrachtete Gudinand und

sagte: »Du und diese hervorragende Figur da, ihr seid

ungefähr gleich alt und gleich groß. Würdest du dich ihm in einem fairen und öffentlichen Zweikampf stellen?«

Gudinand, offensichtlich erleichtert, von Juhizas

furchterregendem Beschützer noch nicht verprügelt worden zu sein, erwiderte, daß er gegen Jaerius mit Vergnügen kämpfen würde.

»So sei es«, beschloß Wyrd. »Laßt uns Jaerius in die

Stadt eskortieren und das alte Recht des Gottesurteils anrufen,«

»Was?« protestierte Jaerius lautstark. »Ich, der Sohn des Dux Latobrigex, soll mit einem Gemeinen kämpfen? Mit dem erbärmlichsten Krüppel und Schwachkopf der Stadt? Ich

weigere mich strikt, solch eine anmaßende...«

»Halt den Mund«, schnitt ihm Wyrd so beiläufig, als würde er sich an mich wenden, das Wort ab. »Junge, fessle ihm mit deinem Kopftuch die Hände. Ich verwende seinen Gürtel als Leine, an der ich in führen werde. Und du, Gudinand, nimm diesen Stock, der heute schon zweimal geschwungen

wurde. Sollte der Gefangene versuchen zu fliehen,

gebrauche den Stock, und zwar kräftig.«

So trat ich nochmals - und zwar in derselben Nacht noch -

als Juhiza vor die Öffentlichkeit, diesmal in der Basilika des Heiligen Johannes. Wie die meisten Kirchen in den

Provinzen wurde auch diese Kirche - neben kirchlichen

Zwecken - für Tribunale eingesetzt. Dort stand ich vor dem hastig zusammengerufenen Judicium von Constantia und

klagte Jaerius der Gewaltanwendung und der versuchten

Vergewaltigung an. Ich forderte, daß seine Schuld oder Unschuld anhand eines Gottesurteils festgestellt werden möge. Gudinand, so bat ich die drei Richter, sollte an meiner Statt kämpfen. »Meine Hohen Herren,« sagte Wyrd, der als mein Jurisconsultus fungierte, »ich schlage vor, daß die Angelegenheit im Amphitheater der Stadt geregelt wird -

damit ganz Constantia sehen kann, daß dem Recht Genüge getan wird -, und als Waffen Stöcke zu wählen, denn Stöcke scheinen mir das bevorzugte Werkzeug des Angeklagten zu sein.«

Die Richter blickten skeptisch und beratschlagten sich aufgeregt. Das überraschte mich kaum, denn unter den

Anwesenden befanden sich - außer mir, Gudinand, Wyrd

und dem noch immer gefesselten Jaerius - auch der Dux

Latobrigex, seine Frau Robeya und natürlich der Priester der Kirche, Tiburnius. Es war das erste Mal, das ich Latobrigex sah, und er sah aus, wie er mir beschrieben worden war: ein unauffälliger Mann von sehr zurückhaltendem Auftreten.

Seinen einzigen Einwand gegen die Verhandlung trug er mit fast demütiger Stimme vor:

»Meine Hohen Herren«, sagte er, »die Petentin, die diese Anklage vorbringt, ist nichts weiter als eine Fremde, eine umherziehende Streunerin. Ich will ihre Redlichkeit nicht anzweifeln, aber ich gebe zu bedenken, daß ihr Verhalten moralisch zweifelhaft erscheint. Dieser Vorfall begab sich angeblich, als sie ohne Begleitung nach Einbruch der

Dunkelheit unterwegs zu einem abgelegenen und einsamen Dickicht war, ohne die gehörige weibliche Begleitung...«

Seine Frau unterbrach ihn. Sie starrte mich mit

haßerfüllten Augen an und fuhr aufgebracht fort:

»Diese zügellose Hure wagt es, einen eingeborenen

Bürger Constantias zu beklagen? Den Sohn unseres Dux?

Den Sohn des römischen Legaten? Einen Abkömmling des

Hauses von Colonna? Ich, Hohe Herren, verlange, daß

diese verleumderische Anklage zurückgewiesen wird, daß Jaerius von allen Anschuldigungen reingewaschen wird -

und daß diese kleine Hure öffentlich entkleidet und mit Peitschenhieben aus der Stadt vertrieben wird.«

Die Richter steckten wieder ihre Köpfe zusammen und

tuschelten miteinander. Ich raunte Wyrd zu: »Ganz so, wie es zu erwarten stand. Aber was ist das mit diesen

Colonnas?«

»Einstmals«, flüsterte Wyrd zurück, »eine der

vornehmsten Familien Roms. Und jetzt? Schau dir diesen saftlosen Latobrigex Colonna dort drüben an. Hätte ein Mann aus weniger degenerierter Familie eine solche Virago wie Robeya geehelicht? Oder ein Scheusal wie Jaerius in die Welt gesetzt? Trotzdem läßt es sich kein Colonna

nehmen, seinen Status als Clarissimus herauszukehren.

Aber...«

Wieder wurden wir unterbrochen, diesmal jedoch von

Tiburnius, dem Priester, der salbungsvoll sagte:

»Meine Hohen Herren, die Kirche befaßt sich nicht mit rein weltlichen Angelegenheiten, und solange ich Diener der Kirche bin, wird sie das auch nicht tun. Aber ich war in Canstantia lange genug Händler, bevor ich Priester wurde, und ich erbitte die Erlaubnis, ein paar Worte zu sagen, die bei diesen Verhandlungen vielleicht bedacht werden

sollten.«

Selbstverständlich beugte sich das Judicium seinem

Willen, und genauso selbstverständlich erwartete ich, daß Tiburnius vor dem Dux Latobrigex zu Kreuze kriechen

würde. Aber dem neu ernannten Priester war wohl die ihm verliehene geistliche Macht zu Kopf gestiegen - und er muß diese Gelegenheit, seine Autorität zu beweisen, sehr

begrüßt haben -, denn was er sagte, überraschte mich nicht wenig.

»Wahrlich«, hob er an. »Die, die diese schwerwiegende

Anklage gegen einen angesehenen Bürger Constantias

vorbrachte, ist nichts weiter als eine Fremde auf der

Durchreise. Aber ich erinnere euch daran, Hohe Herren, daß unser Constantia seinen Wohlstand keinem anderen als

diesen durch seine Tore strömenden Fremdlingen verdankt.

Jeder Bürger, vom höchsten zum geringsten, verdient selbst die kleinste Münze seines Profits an diesen Fremdlingen: den reisenden Kaufleuten, Händlern und Lieferanten Roms.

Würde sich nun die Kunde verbreiten, Constantias Gesetz schütze nur Constantias Bürger, daß ein Fremdling, und sei es so eine Unperson wie diese vagabundierende jugendliche Hure, schutzlos der Ungerechtigkeit preisgegeben wurde, welcher Gefahr würden wir, meine Hohen Herren, die

Prosperität Constantias aussetzen? Und die Eure? Und die dieser Kirche Gottes? Ich empfehle, daß Ihr dem Ersuchen der Petentin auf ein Gottesurteil durch Zweikampf zwischen Jaerius und Gudinand stattgebt. So befreit Ihr Euch von der Bürde, für oder gegen eine der streitenden Parteien befinden zu müssen. Bei einem Gottesurteil ist es der HERR, der richtet.«

»Wie kannst du es wagen?« brauste Robeya auf, während

ihr Mann sich nicht rührte und ihrem Sohn der Schweiß auf die Stirn trat. »Du robentragender Krämer, wer bist du eigentlich, daß du es wagst, einem Mitglied der Nobilität einen vulgären, öffentlichen Zweikampf gegen dieses

ausgestoßene und kopfkranke Gewürm zu befehlen - um

dieses wertlosen weiblichen Abschaums willen?«

»Clarissima Robeya«, der Priester sprach sie ihrem

Stande entsprechend an, drohte ihr aber mit dem erhobenen Zeigefinger. »Die Pflichten und Rechte der Nobilität sind wahrlich schwerwiegend. Aber noch viel schwerwiegender ist das Amt des Priesters, denn am Tage des Jüngsten

Gerichts ist er es, der selbst über Könige Rechenschaft ablegen wird. Clarissima Robeya, selbst wenn Ihr den Rest der menschlichen Gattung an Würde übertreffen solltet, so muß Euer Stolz sich doch vor den Statthaltern der

christlichen Mysterien verbeugen. Wenn Euer Priester

spricht, dann ist es an Euch, ihm Respekt, nicht Widerspruch zu erweisen. Daran muß ich Euch mit dem größten Ernst

erinnern. Ich warne Euch als Euer Priester, und es ist Christus, der Euch durch mich warnt.«

»Das«, murmelte Wyrd, »hat sogar diesen Drachen

erschreckt.« In der Tat war die Gesichtsfarbe der Hohen Frau während der Zurechtweisung ins Aschfarbene

umgeschlagen. Sie schwieg jetzt, und Jaerius schwitzte noch heftiger als zuvor. Nach einem Moment der Stille ergriff Latobrigex das Wort. Er legte eine Hand auf Robeyas Arm und sagte mit seiner sanften Stimme: »Tata Tiburnius hat recht, meine Liebe. Gerechtigkeit muß geschehen, und im Urteil Gottes ist es der HERR, der entscheidet. Laß uns auf Gott vertrauen - und den starken Arm unseres Sohnes.« Er wandte sich an das Judicium. »Meine Hohen Herren, ich

stimme dem Antrag zu. Der Kampf möge morgen früh

ausgetragen werden.«

6

Die Neuigkeit mußte über Nacht in jeden Winkel der Stadt und über ihre Grenzen hinaus getragen worden sein. Als Wyrd und ich - übrigens wieder als Thorn - am Amphitheater ankamen, schien die gesamte Bevölkerung Constantias und der näheren Umgebung vor den Toren zu stehen und sich

um die zum Eintritt berechtigenden Lehmtäfelchen zu

streiten.

Die Kirche hatte Gladiatorenkämpfe lange Zeit mit

Mißfallen betrachtet, und die meisten christlichen Cäsaren hatten die Kämpfe verboten. Wahrscheinlich wurden in

entfernten Provinzen trotzdem insgeheim solche Kämpfe

veranstaltet, aber in Rom selbst hatte es schon seit fünfzig Jahren vor meiner Geburt keine Kämpfe mehr gegeben. Der heutige Zweikampf wurde natürlich nicht mit dem

Kurzschwert oder einer der anderen traditionellen Waffen dem Dreizack, der Keule oder dem Wurfnetz -, sondern nur mit dem Stock ausgetragen. Nichtsdestotrotz versprach es ein Kampf bis aufs Blut zu werden, und das war

außergewöhnlich genug, um die Scharen ins Amphitheater zu locken.

Die Menge bestand nicht nur aus Fischern, Handwerkern, Landvolk und den anderen Gemeinen, die sich

normalerweise die Spiele in der Arena anschauten. Selbst die Händler, Kaufleute und Ladenbesitzer der Stadt - die nicht einmal ihre Marktstände und Lagerhäuser geschlossen hätten, um den Tod eines beliebten Cäsaren zu betrauern -

schienen heute ihre Geschäfte ruhen zu lassen, oder hatten sie irgendwelchen Untergebenen und Sklaven übertragen, so daß sie dieses Spektakel besuchen konnten. Neben

ihnen fanden sich auch alle jene durchreisenden Besucher der Stadt ein, die von diesem einmaligen Angebot zur

Zerstreuung erfahren hatten.

Schon lange, bevor der Kampf beginnen sollte, war jeder Sitz in jeder Reihe des Amphitheaters besetzt. Wie üblich saß das gemeine Volk auf den Stufen der oberen Ränge,

aber Wyrd hatte einen stolzen Preis für Täfelchen bezahlt, die uns Zugang zum zweiten Rang verschafften, der

normalerweise noblen oder reichen Bürgern vorbehalten

war. Die Loge in dem auf gleicher Höhe mit der Arena

liegenden Rang, reserviert für hohe Offizielle und andere Würdenträger, war besetzt von dem Dux Latobrigex, der

Hohen Frau Robeya und dem Priester Tiburnius. Sie alle waren üppig, beinahe festlich gekleidet. Der Dux erschien ebenso ausdruckslos wie in der vergangenen Nacht, aber seine Frau kochte vor nur mühsam unterdrückter Wut. Der Priester sah so desinteressiert aus, als müßte er einem Passionsspiel zusehen.

Ich wandte mich an Wyrd: »Frauja, von all dem Geld, das wir beide verdient und sicher verwahrt haben, verwette ich meinen gesamten Anteil gegen den deinen, daß Gudinand

heute morgen siegen wird.«

Wyrd lachte prustend. »Bei Laverna, der Göttin der Diebe, Verräter und Flüchtlinge, willst du, daß ich auf dieses Schwein Jaerius setze? Absurd! Aber ich konnte noch in keiner Arena der Wettlust widerstehen. Ich werde meine Hälfte unserer Verdienste gegen deine setzen, und zwar auf Gudinand.«

»Was? Das wäre noch absurder. Das wäre ein Verrat an

«

Bevor ich fortfahren konnte, unterbrach mich ein einzelner Trompetenstoß. Die Menschenmenge geriet in Bewegung:

Jaerius und Gudinand hatten aus gegenüberliegenden

Toren in der Umrandungsmauer die Arena betreten.

Beide hielten einen Stock aus Eschenholz, länger als sie groß waren und dicker als ihre Handgelenke. Sie trugen lediglich einen Lendenschurz, der Rest ihres Körpers war mit Olivenöl eingerieben worden, um die Schläge des Gegners abgleiten zu lassen. Sie trafen sich in der Mitte der Arena und schritten Seite an Seite bis vor die Loge, wo jeder seinen Stock hochhielt und vor dem Dux salusierte. Der Dux hob vor beiden gleichermaßen seine rechte Faust, in der er ein weißes Tuch hielt. Ein weiterer Trompetenstoß, und der Dux ließ das Tuch fallen. Jaerius und Gudinand wirbelten herum und nahmen Kampfhaltung ein, jeder seinen Stock

mit einer Hand in der Mitte, mit der anderen halbwegs

zwischen der Mitte und einem Ende festhaltend. Es

versprach ein ausgeglichener Kampf zu werden. Gudinand war größer und hatte längere Arme, aber Jaerius war breiter und muskulöser. Auch ihre Fertigkeit mit dem Stock schien in etwa gleich zu sein. Gudinand hatte, soviel ich wußte, niemals einen Freund gehabt, mit dem er sich in

Übungskämpfen mit dem Stock hätte messen können, aber

er muß sich hin und wieder mit einsamen Scheinkämpfen

die Zeit vertrieben haben. Jaerius hatte wahrscheinlich viele Gelegenheiten gehabt, diesen Sport mit anderen jungen

Männern zu üben. Aber die anderen, die wußten, mit wem sie es zu tun hatten, hatten sich sicherlich zurückgehalten und ihn mühelos gewinnen lassen. Obwohl keiner von

beiden gegen einen professionellen, erfahrenen

Stockkämpfer bestanden hätte, boten sie mehr als nur einen guten Kampf. Sie hieben, parierten, machten Ausfälle und wichen aus die Zuschauer konnten sich nicht darüber

beklagen, daß sie ihr Geld wegen ein paar stümperhafter Anfänger verschwendet hätten.

Atemlos vor Spannung sagte ich zu Wyrd: »Du kannst dir nicht einfach meine Wette aneignen. Ich war es, der Jaerius in die Arena gesandt hat und sehen wollte, wie er zu Brei geschlagen wird. Es wäre unsinnig, selbst gegen meinen Willen gegen denjenigen zu wetten, den ich zu meinem

Verteidiger und Kämpen erwählt habe. Ich bestehe -«

»Balgsdaddja«, erwiderte Wyrd ungerührt. »Es ist mein

Recht, auf Gudinand zu wetten, und ich weigere mich, das Gebot zurückzuziehen. Schau hin, schon muß sich Jaerius ducken und zurückziehen.«

Die Gegner hatten den Kampf damit begonnen, jeden im

Stockkampf möglichen Schlag und Schritt, sowohl im Angriff als auch in der Abwehr, auszuprobieren und den Mut, die Gewandtheit sowie die schwachen und starken Seiten des anderen bloßzulegen. Zu den verschiedenen

Verteidigungsschritten gehört das schnelle und sichere Parieren mit dem Stock selbst, aber es gibt noch andere, fortgeschrittenere Mittel des Ausweichens und Wegduckens, ja sogar - wenn es gilt, einem mit voller Wucht geführten Hieb mit der ganzen Länge des Stockes auszuweichen - mit Hilfe des Stocks wie ein Akrobat über den Schlag hinweg in die Luft zu springen. Im Prinzip sind der Hieb und der Stoß die einzigen Angriffsmethoden eines Stockkämpfers. Aber auch hier sind Abwandlungen möglich, ein angetäuschter Hieb kann plötzlich zu einem echten Stoß werden.

Jaerius stieß mit seinen kurzen Armen seltener mit dem Ende seines Stockes zu, sondern zog es vor, ihn vor allem gegen Gudinands Kopf zu schwingen. Ich nehme an, daß

Jaerius sich an die Aussage seiner Mutter erinnerte,

Gudinand sei »kopfkrank« und nun hoffte, das selbst ein ungenauer Treffer auf den Kopf genügen würde, um

Gudinand niederzuschmettern.

Gudinand stellte seinerseits bald fest, daß er den

untersetzten, mit beiden Beinen fest auf der Erde stehenden Jaerius wohl kaum mit einem seitlichen Hieb seines Stockes würde umwerfen oder auch nur behindern können. Also

verließ er sich auf seine größere Reichweite, auf ausfallartig vorgetragene Stöße, die er abwechselnd auf Jaerius'

Magengrube richtete, um ihm den Atem zu nehmen, und auf seine Hände, um seinen Griff um den Stock zu schwächen oder zu brechen.

Gudinand war schlanker und leichter und konnte Jaerius'

Hieben gegen seinen Kopf - zumindest den meisten -

ausweichen oder sie parieren. Der schwerfällige Jaerius hingegen war nicht beweglich genug, Gudinands Stößen mit dem Ende des Stocks auszuweichen. Bei einigen

Magentreffern konnte man Jaerius laut ächzen hören,

woraufhin er stets weit genug nach hinten auswich, um

wieder nach Luft schnappen zu können. Ab und zu hörte

man auch, wie Gudinands Hiebe auf die Finger seines

Gegners krachten, einmal ließ Jaerius' Rechte sogar

beinahe den Stock los. Von da an attackierte Jaerius nur noch selten, er kämpfte vor allem darum, seinen Stock

festzuhalten. Offensichtlich hatte er jede Hoffnung auf einen Sieg aufgegeben und versuchte lediglich, einer Niederlage zu entgehen. Gudinand nutzte seine Überlegenheit aus und drängte Jaerius so weit zurück, bis sie fast unmittelbar vor der Loge standen.

»Schau«, rief Wyrd, »der erbärmliche Schuft schwitzt so sehr, daß das Öl an ihm abläuft.«

Tatsächlich breitete sich ein Fleck auf dem Sand aus, wo Jaerius gerade stand und versuchte, gegen Gudinands

erbarmungslose Angriffe seine unsichere Position zu halten, und ich war mir nicht sicher, ob das nur Schweiß und Öl war.

Jaerius blickte verzweifelt hin und her, so als ob er eine Fluchtmöglichkeit suchte - oder Rettung von außen erhoffte, denn am häufigsten huschte sein Blick über die Loge, wo sein Vater und seine Mutter saßen. Der Ausdruck im Gesicht des Dux hatte sich nicht im geringsten verändert, aber Robeyas... Falls sie wirklich ein Drachen gewesen wäre, dann hätte sie sich neben ihren Sohn in die Arena

geschwungen und Gudinand mit ihren Flammen verzehrt.

Zufrieden kommentierte Wyrd: »Hinter einem

gewalttätigen Großmaul versteckt sich immer ein Feigling, und der hier beweist es sogar öffentlich. Junge, du solltest dich nicht beklagen, mir eine so große Wettschuld zu

bezahlen, hast du doch die Freude genossen, deinen

Freund siegreich zu sehen.«

Aber plötzlich hörte Gudinand auf, auf Jaerius

einzudreschen, und er trat zur Seite. Die Zuschauer

vermuteten wohl, daß er seinem Gegner die Gnade erwies, ihn nicht zu töten oder die Knochen zu brechen, so daß er für immer ein Krüppel wäre, ja nicht einmal ihn soweit zu schlagen, daß er demütig im Sand lag und die erniedrigende Geste des erhobenen Fingers zeigen müßte, um damit um

sein Leben zu flehen. Ich aber wußte, daß es nicht der Gedanke an Gnade war, der Gudinand so plötzlich lahmte.

Er beachtete Jaerius nicht einmal mehr; langsam hob er seine Augen und schaute über die Arena, über die letzten Ränge hinweg hinauf in den Morgenhimmel, so als ob er

einen fremdartigen grünen Vogel vorbeifliegen gesehen oder den unnatürlichen Ruf einer Eule bei Tag vernommen hätte.

Während der Kampf getobt hatte, hatte Gudinand nicht

das geringste Anzeichen seiner Krankheit gezeigt. Aber schon vor einiger Zeit hatte ich bemerkt, daß er einen Anfall nicht so häufig in Augenblicken der körperlichen oder

geistigen Anstrengung erlitt, sondern wenn er sich sehr glücklich und gesund fühlte. Und so geschah es jetzt, da er kurz vor dem wichtigsten Moment seines Lebens stand,

einem Moment, der aus dem verachteten Aussätzigen

Constantias einen triumphierenden Helden gemacht hätte.

Der Stock fiel ihm aus den Händen, und ich sah auch

warum: seine Daumen hatten sich verkrampft, er konnte

seine Hände nicht mehr gebrauchen. Jaerius stand wankend da, vor Überraschung fast ebenso benommen wie sein

Gegner. Alle anderen Anwesenden waren wie vor den Kopf geschlagen, niemand sagte etwas. Dann stieß Gudinand

jenen Schrei aus, den ich ihn schon einmal zuvor hatte ausstoßen hören. Es war, als habe man ihm den Todesstoß versetzt. Das unheimliche Echo des Wehgeschreis

durchschnitt die atemlose Stille, die eingetreten war. Nur eine Stimme sprach, aber so leise, daß nur Jaerius sie verstehen konnte. Seine Mutter hatte sich weit über die Balustrade der Loge gelehnt und zischelte ihm etwas zu.

Als Gudinand der Stock aus der Hand fiel, war Jaerius

verwirrt stehen geblieben, aus der Nase und an der fast zerschmetterten rechten Hand blutend und offensichtlich unschlüssig, was er als nächstes tun sollte - bis Robeya es ihm sagte. Jetzt, Gudinand hatte seinen Kopf weit in den Nacken gelegt und gab immer noch diesen unmenschlichen Schrei von sich, schlug Jaerius mit all seiner Kraft zu. Sein Hieb traf Gudinand in der Kehle und schnitt seinen

herzzerreißenden Klageschrei ab, Gudinand fiel wie ein gefällter Baum zu Boden.

Vielleicht war dieser Hieb gar nicht tödlich gewesen;

vielleicht hätte er wieder aufstehen und weiterkämpfen können. Aber der Anfall hatte ihn in seinen Krallen. Steif und ausgestreckt lag Gudinand, nur seine Glieder zitterten, und Jaerius hieb erbarmungslos auf ihn ein. Gudinand hätte noch immer um Gnade flehen können - ein einzelner

erhobener Finger - und der Dux Latobrigex wäre verpflichtet gewesen, den Kampf einzustellen und das Verdikt der

Menge abzuwarten: Tod oder Leben. Aber der arme

Gudinand konnte seine verkrampften Hände nicht einmal so weit öffnen, um einen Finger zu erheben.

Jaerius hielt einen Moment inne und schaute in die

versammelte Menge. Aber der Dux hatte keine Zeit, die

traditionelle Geste - Daumen hoch, ein Signal für den Sieger, seine Waffe niederzulegen - zu vollführen, denn Robeya zeigte noch schneller die andere traditionelle Geste: Ein Stoß mit dem Daumen gegen ihre Brust. Zur Zeit der

Gladiatoren hieß das: »Töte ihn.« Und Jaerius gehorchte seiner Mutter. Die Menge röhrte »Clementia«, aber Jaerius hob seinen Stock senkrecht über Gudinand in die Höhe und rammte ihn drei oder vier Mal mit voller Wucht auf seinen Kopf.

Bei diesem Anblick brachte die Menge, die noch vor

kurzem so blutrünstig gewesen war, ihre Empörung in

lautem Gebrüll zum Ausdruck: »Skandal Atrocitas! Unhrains slauts! Saevitia!« -»Schande! Greuel! Gemeine Schlachterei!

Barbarei!« Es kam Bewegung in die Masse, ich sah sie

schon über die Sitze und Stufen in die Arena stürmen und Jaerius in Stücke reißen.

Aber Tiburnius, der Priester, sprang geistesgegenwärtig auf und streckte seine Arme Aufmerksamkeit erheischend in die Höhe. Als die Zuschauer ihn bemerkten, beruhigten sie sich langsam so weit, daß er sich Gehör verschaffen konnte.

Der Priester sprach abwechselnd in der alten Sprache und in Latein, so daß er sicher sein konnte, daß alle ihn

verstanden.

»Cives mei! Thiuda! Mein Volk! Zügelt euren gottlosen

Aufruhr und akzeptiert das Verdikt Gottes. Der HERR ist gerecht, und weise und rechtschaffen sein Urteil. Um jeden Zweifel in dieser Streitsache auszuräumen und allen die Wahrheit zu entdecken, befahl Gott, daß Gudinand

überwunden werden möge und Jaerius der Sieg zukomme.

Wagt nicht, die Weisheit des HERRN anzuzweifeln, so wie es ihm gefiel, sie euch heute zu enthüllen. Nolomus!

Interdicimus! Prohibemus! Gutha wairthai wilja theins, swe in himmina jäh ana airthai! Gottes Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden!«

Niemand in der Menge wagte es, diesen priesterlichen

Befehl zu mißachten. Die Menge begann, wenn auch noch

murrend, sich zu zerstreuen und das Amphitheater zu

verlassen. Tiburnius, Latobrigex, Robeya und Jaerius

mußten eine geheime Tür benutzt haben, um die Loge zu

verlassen, denn plötzlich waren auch sie verschwunden.

Niemand außer mir und Wyrd blieb lange genug, um den

Sklaven der Arena - die passenderweise Charon genannt

wurden, nach dem Fährmann der Toten - zuzusehen, wie sie das Stück Fleisch entfernten, das einmal Gudinand gewesen war.

»Hua ist so sunja?« grollte Wyrd. »Was ist Wahrheit? Ich weiß nicht, wer die schleimigere Schlange ist: Jaerius, seine Mutter oder dieser aalglatte Priester.«

Auch ich konnte aus der Bibel zitieren: »Mis fraweit

letaidau; ik fragilda. Die Rache ist mein; ich will vergelten.«

»Ich bin es, der vergelten muß«, grummelte Wyrd, als wir uns erhoben. »Es wird dich nicht über den Verlust deines Freundes hinwegtrösten, aber du hast ein hübsches

Sümmchen gewonnen. Nur eines will ich anmerken. Du hast mir nie gesagt, daß Gudinand ein uslitha war, anfällig für die Fallsucht.«

»Ich habe dir angeboten, die Wette zu widerrufen«,

schnappte ich. »Und ich biete dir an, es immer noch zu tun.«

»Bei der bleichen, ausgemergelten Göttin Paupertas, ich bin noch nie im Leben jemandem etwas schuldig geblieben.

Und ich werde jetzt nicht damit anfangen, einen Freund zu betrügen.«

»Gut«, sagte ich, als wir auf die Straße traten. »Denn ich brauche das Geld. Und ich verspreche, im kommenden

Winter noch härter als im letzten Winter zu arbeiten, so daß wir wieder ein Vermögen zusammentragen werden.«

»Du brauchst das Geld?« fragte Wyrd überrascht. »Darf ich vielleicht erfahren, wofür?«

»Ne, Fräuja. Erst wenn ich es ausgegeben habe. Vielleicht würdest du mich von dem, wozu ich es verwenden möchte, abbringen wollen.«

Er zuckte die Achseln, und wir kehrten schweigend in

unser Quartier zurück. Unterwegs weinte ich, aber weder Wyrd noch sonst irgend jemand hätte es bemerken können, denn es flössen keine Tränen über meine Wangen. Den

Kummer, den ich als Thorn über den Verlust von

Gudinanddermein-Freundwar verspürte, ertrug ich männlich tränenlos. Es war meine weibliche Hälfte, die hemmungslos weinte, um Gudinanddermichgeliebthatte. Da aber mein

weibliches Sein gerade von meiner äußerlichen, männlichen Existenz unterdrückt wurde, flößen die Tränen, bildlich gesprochen, nur in meinem Herzen. Ich fragte mich: Wenn ich jetzt Juhiza und nicht Thorn wäre, würden dann meine Augen sichtbare Tränen vergiesen? Wieder einmal machte ich mir Gedanken über meine außergewöhnliche Natur und ihre oft unheilvollen Folgen für die Welt um mich herum. Lag es an meiner Unfähigkeit als Mannamawi zu lieben, oder war es einfach das mir zugedachte Schicksal, andere so leiden zu lassen? Die Römer glaubten - und die Heiden

glauben es immer noch - daß jedes menschliche Wesen von einem persönlichen gottähnlichen Wesen begleitet wird, unsichtbar, aber immer präsent. Die der Männer nennt man Genien, die der Frauen Juno. Glaubt man den Heiden, dann können die Menschen mit ihrem Willen nur wenig ausrichten, sondern sind den Launen ihrer Schutzgeister ausgeliefert.

Aber wer begleitete mich, das androgyne Wesen - ein

Genius und eine Juno? Lagen sie im beständigen Kampf um mich? Oder war mir kein einziger zugeteilt? Vieles von dem, was ich in meinem Leben getan hatte, hatte ich gewollt, aber bei anderen Dingen war ich mir nicht so sicher. Bruder Petrus hatte ich hinterlistig aus eigenem Antrieb erschlagen.

Aber vielleicht war auch Schwester Deidamia, ohne daß ich es gewollt hätte, an den Schlägen gestorben, die sie wegen ihrer Beziehung zu mir hatte ertragen müssen. Aus gutem Grund hatte ich die wilde Frau in dem Hunnenlager getötet.

Aber den Tod des Eunuchen Becga hatte ich nicht gewollt.

Jesus! Mein treuer Gefährte Juikabloth starb meinetwegen, weil ich wider seine Natur gehandelt hatte. Und jetzt, jetzt war ich unwillentlich zur unmittelbaren Ursache für

Gudinands Selbstopferung geworden.

Liufs Guth! Ganz gleich, ob es mein Werk, das eines

Genius, einer Juno oder von beiden war, war ich denn schon so früh in meinem Leben der mörderische Greif geworden, der zu werden ich einst gelobt hatte?

Wenn dem wirklich so war, dann wußte ich wenigstens,

wer mir als nächstes zum Opfer fallen würde.

»Khaire!« Der ägyptische Sklavenhändler stieß den

griechischen Willkommensgruß aus, als ich ihm erklärte, warum ich gekommen war. »Sagte ich nicht, junger Herr, daß selbst Ihr eines Tages eine Venefica brauchen würdet?

Allerdings muß ich zugeben, daß ich nicht erwartet habe, Euch so bald wieder hier zu sehen und -«

»Erspart mir die Vorrede«, schnitt ich ihn ab, »reden wir über den Preis.«

»Ihr kennt den Preis.«

Es gelang mir, ihn ein wenig herunterzuhandeln.

Ursprünglich hatte der Ägypter für Äffchen einen Preis verlangt, der in etwa dem Inhalt meiner Geldtasche

entsprach. Nach langem Hin und Her erstand ich die

Äthiopierin für eine etwas niedrigere Summe, so daß Wyrd und mir genügend blieb, um den Betrag, den wir bei unserer Abreise der Herberge schulden würden, zu bezahlen und

das Nötigste für den kommenden Winter einzukaufen -

neben einigen Siliquae, die ich für einen besonderen Zweck vorgesehen hatte.

»Sehr gut«, sagte ich, als das Geschäft abgeschlossen

war und der Händler die Urkunde über Äffchens Servitium unterzeichnet, versiegelt und mir übergeben hatte. »Das Mädchen soll sich bereit halten, ich werde vielleicht sehr plötzlich ihre Dienste in Anspruch nehmen.«

»Sie wird auf Euren Befehl warten.« Der Ägypter lächelte böse. »Wenn die Zeit kommt, wünsche ich Euch, sagen wir, vollständige und äußerste Befriedigung. Khaire, junger Herr.«

Während der nächsten Tage spielte ich Spion und trieb

mich vor dem Domizil des Dux Latobrigex herum. Und zwar nur tagsüber, denn dann würde jene Kombination von

Ereignissen, auf die ich wartete, am ehesten eintreten. Die Nächte verbrachte ich mit Wyrd. Wir aßen in Tavernen,

badeten in Thermen und unterhielten uns über

Nebensächlichkeiten. Wyrd platzte beinahe vor Neugier, aber er übte sich in Geduld, stellte keine Fragen und

beklagte sich noch nicht, daß wir den Anfang der Jagdsaison verpaßten.

Unzählige Male verließ die liburnische Sänfte die Residenz des Dux, unzählige Male riefen die Träger »Platz dem

Legaten«. Manchmal saß Latobrigex alleine darin,

manchmal mit seiner Frau oder mit seinem Sohn. Aber erst als Jaerius und Robeya einmal allein in der Sänfte saßen, folgte ich ihr in angemessenem Abstand. Wie ich gehofft hatte, hielt man vor einer Männern vorbehaltenen Therme, und Jaerius stieg aus. Die Sänfte wurde wieder

hochgehoben, und ich folgte ihr weiter, inbrünstig betend.

Mein Flehen wurde erhört: die Sklaven hielten vor einer Frauentherme, wo Robeya der Sänfte entstieg.

So schnell ich konnte rannte ich zu dem Ägypter,

schnappte Äffchen und zog sie hinter mir her zu der Therme, in der Jaerius badete. Es war nicht ungewöhnlich für einen Mann, einen männlichen oder weiblichen Bediensteten bei sich zu haben, aber natürlich konnte ich keine Frau mit in das Bad nehmen. Wie alle besseren Bäder verfügte jedoch auch dieses Bad über kleine, luxuriös ausgestattete

Ruheräume. In einen solchen Raum brachte ich Äffchen.

Es war mir unmöglich, dem schwarzhäutigen Mädchen mit

Worten etwas zu erklären, aber mit Gesten gelang es mir, ihr meine Wünsche verständlich zu machen. Nickend zeigte sie mir, daß sie verstanden hatte. Sie sollte sich vollständig entkleiden, auf die Liege legen und eine Zeitlang warten; dann sollte sie das tun, wofür sie erzogen und vorbereitet worden war. Gleich danach sollte sie das Exedrium

verlassen und mich vor der Therme auf der Straße erwarten.

Ich hoffte, daß Äffchen wirklich alles verstanden hatte. Ich verließ sie und entkleidete mich im Apodyterium. Ein

Handtuch um meine Hüften geschlungen, eilte ich dann

durch verschiedene Räume, auf der Suche nach Jaerius. Ich war sehr dankbar, mein Opfer in dem dampfgefüllten

Sudatorium zu entdecken; nach all der Rennerei konnte ich ein Bad gut vertragen. Noch ein paar andere Männer hielten sich dort auf, aber sie hatten sich in einiger Entfernung von Jaerius niedergelassen. Es war genauso, wie ich es erwartet hatte. In den letzten Tagen hatte ich bemerkt, daß

jedermann in Constantia -

selbst die ungehobelten

Burschen, die ich sonst ab und an in Jaerius' Gesellschaft gesehen hatte - jeglichen Kontakt mit ihm mied. Seit dem Tag des Gottesurteils hatte wahrscheinlich niemand außer seinem Vater und seiner Mutter mit ihm gesprochen oder ihm einen freundlichen Blick zugeworfen, abgesehen

vielleicht noch von dem selbstsüchtigen Priester.

Also saß Jaerius in dem Sudatorium ganz alleine in einer Ecke und starrte trübsinnig vor sich hin, nackt bis auf einen Verband an seiner rechten Hand. Er sah ehrlich überrascht aus, als ich mich neben ihm niederließ und mich vorstellte:

»Thorn. Einer Eurer Bewunderer, Clarissimus Jaerius.«

Vielleicht war er überrascht, von jemandem angesprochen zu werden, der dem Mädchen Juhiza in Aussehen und Alter so ähnlich war. Aber er hatte sie, aus der Nähe zumindest, nur in dem dunklen Wäldchen und dem Halbdunkel der

Kirche gesehen. Außerdem war ich unzweifelhaft ein Mann, das hier war schließlich eine Therme für Männer. Er war, als persona non grata, wohl einfach überrascht, daß überhaupt jemand mit ihm sprach. »Clarissimus, Ihr kennt mich nicht, doch ich bin der Lehrling eines reisenden Händlers. Wir kamen erst vor kurzem in Eurer schönen Stadt an. Und

schon stehe ich tief in Eurer Schuld.«

»Welche Schuld?« Mißtrauisch rutschte er auf der Bank

von mir weg. Er fürchtete wohl, ich sei ein Freund oder Verwandter Gudinands, und die Schuld, von der ich sprach, sei eine, die er lieber nicht begleichen wollte.

Ich beeilte mich zu sagen: »Euch verdanke ich es, beim Wetten eine beträchtliche Summe gewonnen zu haben.

Beträchtlich zumindest für eine Person meiner Stellung. Ihr müßt wissen, daß ich den Kampf in der Arena sah und

meine ganzen Ersparnisse auf Euch setzte.«

»Wirklich?« antwortete er etwas weniger mißtrauisch. »Es fällt mir schwer zu glauben, daß irgend jemand auf mich Wetten abschloß.«

»Ich. Und man bot mir außergewöhnliche

Gewinnchancen.«

»Das glaube ich gerne«, sagte er düster.

»Für das Vermögen, daß Ihr einem einfachen Lehrling

eingebracht habt, möchte ich mich bedanken. Natürlich weiß ich, daß Ihr, Clarissimus Jaerius, niemals Geld annehmen würdet. Also habe ich Euch ein Geschenk gebracht.«

»Eh??«

»Ich gab einen Teil des Gewinns aus, eine Sklavin zu

kaufen.«

»Danke, Lehrling, aber ich besitze viele Sklavinnen.«

»Aber keine wie diese, Clarissimus. Eine Jungfrau, eine reife Frucht, die darauf wartet, geerntet zu werden.«

»Nochmals danke, aber ich habe viele solcher Früchte

genossen.«

»Dieses Mädchen ist nicht nur eine Jungfrau und schön«, lockte ich weiter, »sie ist auch schwarz. Eine junge

Äthiopierin.«

»Was sagst du?« Sein Gesicht hellte sich auf. »Ich habe noch nie mit einer Dunkelhäutigen geschlafen.«

»Ihr könnt Euch jetzt gleich zu ihr legen. Ich habe mir erlaubt, sie hierher mitzubringen. Sie erwartet Euch,

splitternackt, in dem Exedrium mit der Nummer drei, direkt neben der Eingangshalle.«

Er kniff seine Augen zusammen. »Du führst mich auch

nicht an der Nase herum?«

»Ich will Euch danken, Clarissimus. Geht selbst und nehmt sie in Augenschein. Wenn Euch nicht gefällt, was Ihr seht...

ich warte hier.«

Jaerius sah immer noch mißtrauisch aus, aber gleichzeitig auch sehr erregt. Er stand auf, band ein Handtuch um seine Hüften und sagte: »Warte also. Entweder kehre ich gleich zurück und lehre dich, mit mir Unfug zu treiben, oder ich kehre später zurück und zeige mich für dein Geschenk

erkenntlich.« Damit verließ er mich.

Ich wartete keine Sekunde. Mein Zeitplan war zu knapp

bemessen, als daß ich trödeln durfte. Ich hastete in das Apodyterium und zog mich wieder an und rannte dann wie ein Besessener zurück in die Herberge, riß mir in meinem Zimmer die Kleider vom Leib und verwandelte mich in

Juhiza. Ich vertat keine Zeit damit, Schmuck oder Kosmetik anzulegen, sondern eilte zu der Therme zurück.

Wie vereinbart wartete Äffchen an der Straßenecke und

sah den Passanten nach. Viele verlangsamten ihren Schritt oder blieben gar stehen, um sie zu betrachten. Schwarze Frauen waren ein seltener Anblick in den Straßen

Constantias, obwohl viele Handelszüge durch die Stadt

kamen und gelegentlich auch schwarze Frauen mitbrachten.

Äffchen war darüber hinaus ausnehmend schön. Als ich sie am Arm packte, zuckte sie zurück. Aber dann erkannte sie mich und lächelte, obwohl mein verändertes Aussehen sie verständlicherweise verwirrte. Ich gestikulierte fragend in Richtung Therme. Ihr Lächeln wurde breiter, und sie nickte heftig.

Ich brachte sie zu der Therme, in der Robeya badete. Hier war es selbstverständlich, daß vornehme Frauen eine

Sklavin, selbst eine schwarze, bei sich hatten. Äffchen und ich entkleideten uns im Apodyterium und suchten

gemeinsam die Räume ab. Robeya hatte bereits den letzten Raum, das Balineum, erreicht und ließ sich genauso träge und sinnlich im Wasser treiben wie beim ersten Mal, als ich sie gesehen hatte. Doch offensichtlich wurde auch sie von allen gemieden, denn die anderen im Becken

schwimmenden Frauen und Mädchen hatten ihr die dunkle

Ecke allein überlassen, in der sie sich vor einiger Zeit mit mir hatte vergnügen wollen.

Ich achtete darauf, daß Robeya mich nicht sah, und

bedeutete Äffchen, was sie tun sollte. Sie sollte so

verführerisch wie möglich zu Robeya hinüberschwimmen

und allem zustimmen, was sie von ihr verlangte. Danach sollte sie ins Apodyterium zurückeilen, sich ankleiden und die Therme verlassen, vor der ich warten würde. Äffchen nickte und glitt anmutig ins Wasser. Ich kehrte ins

Apodyterium zurück und streifte mir ein letztes Mal Juhizas Kleider über.

Die Zeit verging mit quälender Langsamkeit, während ich angespannt wartete. Aber es dauerte kaum länger als bei Jaerius. Schon eine oder zwei Minuten bevor Äffchen, noch an ihren Gewändern nestelnd, aus der Tür eilte, konnte ich Frauen schreien, Füße trampeln, Kinder weinen und

Bedienstete aufgeregte Anweisungen rufen hören. Noch

bevor ich fragen konnte, grinste das schwarze Mädchen

breit und nickte.

Sehr viel entspannter begleitete ich Äffchen in das ärmste, in den Außenbezirken gelegene Viertel der Stadt. Gudinand hatte mir einmal sein Haus gezeigt, mich aber niemals

hineingebeten, da er sich für die schäbige und armselige Hütte schämte. Ich gab Äffchen meinen Geldbeutel und

bedeutete ihr, einzutreten. Dann küßte ich sie, eher

vorsichtig, auf ihre ebenholzfarbene Stirn, winkte ihr zu und wartete, bis sie hineingegangen war.

Der Beutel, den sie bei sich trug, enthielt die paar

silbernen Siliquae, die ich für diesen Zweck aufgespart hatte, die Urkunde über Äffchens Servitum, von mir

gegengezeichnet, und eine Nachricht, die ich in der alten Sprache, in gotischer Schrift, verfasst hatte: »Mäizein thizai friathwai manna ni habäith, ei huas säiwala seina lagjith frijonds seinans.«

Ich hatte Gudinands invalide Mutter niemals getroffen und wußte nicht, ob sie lesen konnte. Aber die Witwe würde das Geld sicherlich willkommen heißen; sicherlich würde sich ein Nachbar finden, der ihr die beiden Urkunden übersetzen konnte. Das Zertifikat bescheinigte der zweifach beraubten alten Frau, daß sie nun eine Sklavin besaß, die sie anstelle von Gudinand versorgen würde. Das andere Dokument

sollte sie daran erinnern, was sie als gute Christin bereits wissen mußte: »Größere Liebe als der Mann kann niemand fühlen, der einem Freund sein Leben zu Füßen legt.«

Zurück in der Herberge und wieder als Thorn gekleidet, legte ich mich zu einer wohlverdienten Ruhepause nieder.

Wyrd, unrasiert und mehr als nur ein bißchen betrunken, kam herein und starrte mich mit roten Augen an. »Sicherlich hast du schon vom Tod des Drachen Robeya und ihres

Drachenwürmlings Jaerius gehört.«

»Ne, Fräuja, nicht gehört, aber erhofft.«

»Sie starben im Bad, aber nicht durch Ertrinken.

Offensichtlich kamen sie in verschiedenen Thermen

gleichzeitig um.«

»Das überrascht mich nicht.«

»Die Umstände ihres Todes sind äußerst ungewöhnlich.

Äußerst ungewöhnlich gleichartige Umstände!«

»Das zu hören freut mich.«

»Man sagt, daß Jaerius' Gesichtszüge aufs abstoßendste verzerrt gewesen seien, daß sein Körper in den

unmöglichsten Verkrampfungen in einer Pfütze seines

eigenen Kots gefunden wurde. Der Ausdruck auf Robeyas

Gesicht muß ebenso schrecklich gewesen sein, ihr Körper soll sich zu einem Knoten verkrampft haben und sie trieb, so sagt man, in dem von ihrem Kot braun gefärbten Wasser.«

»Ich wüßte nicht, welche Nachricht mich mehr erfreuen

könnte.«

»Seltsamerweise, angesichts dessen zumindest, was

heute vorgefallen ist, ist der Priester Tiburnius noch unversehrt.«

»Das schmerzt mich zwar, aber ich dachte es wäre

unrecht, Constantia all seiner Fieslinge auf einmal zu berauben. Ich werde das Schicksal des Priesters in die Hände dessen, dem er vorgibt zu dienen, übergeben.«

»Er wird wohl ab dem heutigen Tag nur noch selten auf

die Kanzel steigen, zumindest nicht in aller Öffentlichkeit. Ich wage zu behaupten, daß er den Rest seines Lebens zitternd hinter fest verriegelten Türen kauern wird.«

Darauf antwortete ich nichts, sondern grinste bloß. Wyrd kratzte sich am Kopf und sagte nachdenklich: »Darum hast du also das Geld gebraucht. Aber, bei der rachsüchtigen Steinstatue von Mitys, was hast du von dem Geld gekauft?«

»Einen Sklaven.«

»Was? Was für einen Sklaven? Einen Gladiatoren? Einen

Meuchelmörder? Es heißt, daß man an keinem der Körper, auch nur das geringste Anzeichen einer Gewalteinwirkung festgestellt habe.«

»Ich habe eine Venefica gekauft.«

»Was?!« Der Schock ernüchterte ihn fast schlagartig.

»Was weißt du über Veneficas? Und vor allem woher?«

»Ich bin von Natur aus sehr neugierig, Fräuja. Ich habe mich erkundigt und erfahren, daß bestimmten

Sklavenmädchen von Kindheit an bestimmte Gifte zu essen gegeben werden. Zuerst kleinste Mengen, die mit

zunehmendem Alter gesteigert werden. Wenn sie zur Frau gereift sind, haben sich ihre Körper an diese Substanzen gewöhnt und werden von ihnen nicht angegriffen. Dabei ist das in ihnen angesammelte Gift so konzentriert, daß ein Mann, der mit einer Venefica das Bett teilt - und jeder, der mit ihren Säften in Berührung kommt - sofort stirbt.«

Mit tonloser Stimme sagte Wyrd: »Du hast eine Venefica gekauft und sie...«

»Ja, und eine sehr spezielle zudem. Dem Mädchen wurde, wie den meisten seiner Art, wegen seines angenehmen

Geschmacks Aconit gegeben. Aber ihm wurde auch

Elaterium verabreicht. Das ist, falls du es nicht wissen solltest, Fräuja, ein Gift, das aus der Eselsgurke gewonnen wird.«

»Jesus.« Wyrd betrachtete mich mit einer Art entsetzter Bewunderung. »Kein Wunder, daß sie auf so abscheuliche Weise starben.« Wyrd war inzwischen nicht nur nüchtern, ihm wurde langsam unwohl zumute. »Sag, Junge, willst du diese Venefica etwa behalten?«

»Sorge dich nicht, Fräuja. Sie hat ihre Arbeit getan, und ich die meine. Ich schlage vor, du und ich, wir gehen jetzt wieder der unseren nach, und zwar an einem anderen Ort.

Sobald wir gepackt haben, können wir von mir aus

Constantia verlassen. Für immer.«

Die Hallstatt

1

Wie ich Wyrd versprochen hatte, arbeitete ich in diesem Herbst und Winter, bis weit hinein in den Frühling, härter als jemals zuvor, um mit Pelzen, Fellen, Steinbockgeweihen und Bibergeil unsere Ersparnisse aufzufüllen. In diesen Dingen konnte es niemand so leicht mit Wyrd aufnehmen. Mit

seinen Erfahrungen und Fähigkeiten war er mir, was das Leben im Wald anging, weit überlegen. Aber mir fiel auf, und Wyrd selbst gab es halb verärgert, halb resigniert, zu, daß sein Augenlicht mit zunehmendem Alter schwächer wurde, was sich besonders in der Dämmerung und nachts

bemerkbar machte.

»Bei Wotan«, grollte er. »Ob die Leute immer noch

wünschten, hofften und beteten, lange zu leben, wenn ihnen klar wäre, was das heißt, alt zu werden?«

Ich legte jetzt jeden Tag bei Einbruch der Dämmerung

meine Schleuder zur Seite, und Wyrd gab mir seinen

Hunnen-Bogen, damit ich noch weiter jagte. Täglich übte ich Bogenschießen und mit der Zeit wurde ich recht geschickt darin, wenn auch niemals so gut wie Wyrd zu seinen besten Zeiten. So konnte ich noch eine oder zwei Stunden, wenn er den Bogen schon hatte weglegen müssen, auf die Jagd

nach weiteren Pelzen und einem Abendessen gehen.

In diesen Monaten erlegte ich mit meiner Schleuder,

Wyrds Bogen und einmal sogar mit meinem Kurzschwert -

als ich mich in ein Gebüsch geschlagen hatte, um mich zu erleichtern, und ein außergewöhnlich neugieriger oder

außergewöhnlich dummer Steinbock mich beäugen kam -

mindestens ein Exemplar jeder felltragenden Tierart... außer zweien. Da ich nie Wyrds erstaunliche Fähigkeit erlernte, in einer Bewegung den Pfeil in den Bogen zu legen, zu

spannen und abzuschießen, war stets er es, der einen

überwinternden Bär aufstöberte, aus seiner Höhle lockte und mit einem einzigen Pfeil erlegte, wenn er schließlich

auftauchte. Und obwohl das dichte und schwere Winterfell eines Wolfes im Preis dem eines Vielfraßes gleichkam, ließ mich Wyrd, der Freund der Wölfe, niemals einen töten.

Obwohl ich nie ein Freund der Wölfe war, fing ich doch an, sie zu bewundern, vor allem für ihre Winterfestigkeit. Im Alten Land kennt man den Ausdruck: »Kommt der Winter,

kommt der Wolf...« Das paßt gut, denn Wölfe scheinen von allen Jahreszeiten den Winter am meisten zu lieben. Wann immer ich bis auf die Knochen durchgefroren durch

Schneewehen stapfte und dann einen Wolf unter einem

Baum liegend erspähte, erstaunte mich die Tatsache, daß das Tier immer, anscheinend absichtlich und sehr zufrieden, auf der Schattenseite des Baumes lag.

Bis zum Frühling war es noch lang, und doch liefen Wyrd und ich schon neben unseren Pferden her, deren Sattel mit Pelzen überladen waren. Also bauten wir Schlitten aus

festen und doch biegsamen, mit Fellstreifen

zusammengebundenen Ästen. Vorne bogen wir sie hoch, so daß wir sie relativ problemlos über Hindernisse

hinwegziehen konnten.

Nachdem wir Constantia verlassen hatten, umrundeten wir das Südende des Bodensees, stießen ostwärts vor, bis wir die römische Provinz Rhaetia Secunda erreichten, in der alten Sprache Bajo-Varia genannt. Wie im vergangenen

Winter zogen wir überwiegend durch die Vorberge der

Alpen. Aber da dieser Winter um einiges milder als der letztjährige ausfiel, stiegen wir auf der Suche nach

Steinböcken und Bärenhöhlen, von denen Wyrd wußte, oft weit hinauf.

Bajo-Varia ist die am wenigsten dicht besiedelte Provinz des westlichen Imperiums. Auf unserer Reise durch Bajo-Varia stießen Wyrd und ich auf keine einzige römische

Straße, keine Siedlung, keine Stadt, kein befestigtes Lager, nicht einmal einen Vorposten der Legion. Die einzigen

Bewohner des Landes waren nomadisch lebende

Alemannen, und die wenigen Male, da wir einer dieser

»Nationen« begegneten - eigentlich nicht mehr als sehr große Stämme - zogen sie durch die Gegend oder waren im Winterlager. Einen der umherziehenden Stämme begleiteten wir, bis sich unsere Wege trennten; in ihrem Winterlager genossen wir für einige Tage die Gastfreundschaft eines anderen Stammes.

Der kriegerische Ruf der Alemannen legt eigentlich die Vermutung nahe, daß ihnen die Gegenwart von Fremden

auf ihrem Land mißfiel- Und wären Wyrd und ich mit einem Handelszug oder einer fremden Armee unterwegs gewesen, hätten die Alemanni uns auch zweifellos als Eindringlinge betrachtet, uns angegriffen und entweder getötet oder

versklavt. Aber wir waren Nomaden wie sie und so

empfingen sie uns sehr gastfreundlich.

Als wir weiterzogen, überschritten wir irgendwo in den Wäldern die unsichtbare Grenzlinie, die die ostwärts

gelegene Provinz Noricum von Bajo-Varia trennt. Die

alemannischen Stämme wandern zwar auch durch Noricum,

aber dort gibt es Siedlungen von Römern, deren Vorfahren nordwärts über die Alpen gezogen waren, hauptsächlich

wegen des eisenhaltigen Bodens. Die Noricer verdankten ihren Wohlstand dem feinen Stahl, den die Römer für ihre Waffen verwenden. Im Herz jeder Siedlung, durch die Wyrd und ich kamen, fand sich denn auch eine Mine, eine

Schmiede oder eine Gießerei.

Zu Anfang des Frühlings folgten wir dem Inn und fingen einige Biber. Endlich stießen wir auf eine richtige Straße, nicht nur einen Fußpfad. Es war die römische Straße, die von den Alpen über Alpis Ambusta herabführt, dem wohl am häufigsten benutzten Paß über dieses Gebirge. Auf dieser Straße waren viele Menschen, Tiere, Zugwagen und Karren unterwegs; sie reisten zwischen Tridentum in Italien im Süden und Castra Regina an der mächtigen Donau im

Norden hin und her. Die Straße führt auf einer

beeindruckenden Brücke über den Inn. Ihr östliches Ende wird von einem römischen Posten bewacht, Veldidena,

besetzt mit den Truppen der 2. Legion Italica Pia. Wie überall sonst auch wurden die das Lager umgebenden

Läden, Tavernen, Schmieden und Gerbereien von

Veteranen bewirtschaftet. Wie überall sonst auch besaß Wyrd hier einige alte Bekannte. Und, wie überall sonst auch, betrank er sich mit ihnen - aber erst nachdem wir einen Teil der Pelze und Gehörne und sogar etwas von unserem

Kastoröl (an den Medicus der Legion) verkauft hatten.

Während er die nächsten Tage kräftig becherte und sie in glückseliger Trunkenheit verbrachte, erstand ich die Vorräte, die wir für den nächsten Abschnitt unserer Reise nötig haben würden.

Als Wyrd sich wieder erholt hatte, reisten wir weiter

flußabwärts, den immer breiter werdenden Inn entlang. Als der Fluß nach Norden abbog, verließen wir ihn und kamen durch nur von schmalen Flüssen durchzogenes Land. Wir

bewegten uns jetzt schneller vorwärts, denn die Qualität der Felle ließ im Frühjahr deutlich nach, und wir jagten

hauptsächlich für unsere Mahlzeiten. So gelang es uns, im späten Frühling die Handelsstadt und Provinzkapitale

Juvavum zu erreichen. Sobald wir sämtliche Waren verkauft hatten - der Erlös überstieg das, was wir im Vorjahr in Constantia erzielt hatten, ganz beträchtlich - wandte sich Wyrd an mich.

»Ich kenne hier in dieser Stadt niemanden, mit dem ich trinken und von alten Zeiten schwärmen könnte, und

ansonsten gewinne ich Städten wenig ab. Außerdem glaube ich, daß wir uns eine richtige Ruhepause verdient haben.

Laß uns noch ein paar Tage hierbleiben und die Wildnis in ein paar guten Bädern ausschwitzen. Wir können unsere

Gaumen auch mit üppigen Leckerbissen verwöhnen, uns

neu einkleiden und notwendige Besorgungen machen. Dann reisen wir ab, und ich zeige dir eine der zauberhaftesten Gegenden dieser Erde. Was hältst du davon?«

Mit der letzten Stadt, in der ich längere Zeit verweilt hatte, verbanden mich sehr schmerzhafte Erinnerungen, und so

stimmte ich ohne zu zögern zu. Rund eine Woche später

ritten Wyrd und ich aus Juvavum, die leeren Schlitten ließen wir hinter uns zurück. Wir folgten keiner der zahlreichen römischen Straßen, die in Juvavum zusammenkommen,

sondern zogen in südöstlicher Richtung durch das langsam ansteigende Vorland der Bergkette, die den Einheimischen als Dachstein-Gebirge bekannt ist.

Nach einigen Tagen gemächlichen Reitens befanden wir

uns in dem Teil Noricums, der auf lateinisch Regio

Salinarium und in der Alten Sprache Salthuzdland genannt wird. Beides bedeutet »Ort des vielen Salzes«. Man darf sich dieses Land aber nicht als öde Salzwüste vorstellen (wie sie es in Libyen und Asien geben soll). Weit gefehlt.

Zwar gibt es hier überaus reiche Salzvorkommen, aber sie liegen alle unter der Erde und die Eingänge zu den Minen sieht man nur selten. Ansonsten ist die Landschaft großartig, die lieblichste Region, durch die ich bisher gereist bin. Weite Lichtungen, bestanden mit Wildblumen und süßen Gräsern, wechselten sich mit Wäldern ab, die sich, ich weiß nicht warum, von allen anderen unterschieden, die wir zuvor

durchritten hatten. Diese Wälder glichen den

Parklandschaften, die ich später auf den Besitzungen reicher Männer sehen sollte: kein dichtes Unterholz, die Bäume standen so weit voneinander entfernt, daß ein jeder von ihnen seine Krone weit ausbreiten konnte. Zwischen den Bäumen wuchsen blühende Büsche und sprießte ein Rasen, der es ohne weiteres mit den Wiesen sorgsam angelegter und gepflegter Gärten aufnehmen konnte.

»Das ist das schönste Land, das meine Augen jemals

gesehen haben«, sagte ich hingerissen und ehrfürchtig zu Wyrd. »Glaubst du, in diesen Wäldern leben Zentauren,

Satyre und Nymphen?«

»So viele wie anderswo auch«, antwortete er sarkastisch, schien sich aber gleichzeitig darüber zu freuen, daß mir diese von ihm gepriesene Gegend so gut gefiel.

Nur ein unglücklicher Zwischenfall beeinträchtigte die Reise. Wir hatten für die Nacht neben einem kristallklaren Bach, der durch eine blumenbestandene, duftende Lichtung floß, Rast gemacht. Ich hatte mich bei der Suche nach

Brennholz vom Lager entfernt und war gerade mit einem

Armvoll Äste auf dem Rückweg, als ich einen überraschten Ausruf Wyrds hörte, dann ein seltsames Zwischending

zwischen Winseln und Knurren und zuletzt ein scharrendes Geräusch, das plötzlich verstummte. Ich rannte los, und am Lagerplatz sah ich Wyrd mit seinem Kurzschwert in der

Hand dastehen. Blut troff von der Klinge. Er selbst starrte grämlich auf eine sehr ansehnliche Wölfin, die er erschlagen hatte.

»Was ist los?« fragte ich. »Ich dachte, du seist ein Freund der Wölfe.«

»Das bin ich auch«, sagte er, ohne seinen Blick von dem Tier zu wenden. »Aber die da wollte mich angreifen.«

Es mußte ein plötzlicher und heftiger Angriff gewesen sein, denn ich sah einen Blutspritzer auf einer von Wyrds

geschnürten Gamaschen. Normalerweise tötete er sehr

sauber, selbst wenn es sich um einen angreifenden Eber handelte.

»Außerdem dachte ich, Wölfe würden sich an Menschen

nicht herantrauen. Das hast du mir selbst gesagt.«

»Die hier war krank«, sagte er bedrückt. »Ich habe diese Krankheit schon einmal zuvor gesehen. Die Wölfin wäre

unter schrecklichen Krämpfen gestorben. Ich habe sie aus Mitleid getötet.«

Wyrd sah so niedergeschlagen aus, daß ich es unterließ, weiter nach dieser Krankheit zu fragen. »Nun, zumindest hast du sie erwischt, bevor sie über dich oder die Pferde herfallen konnte.«

Für den Rest des Abends war Wyrd sehr einsilbig, aber

am nächsten Morgen war er wieder ganz der Alte - schroff, sarkastisch und reizbar. Die weitere Reise durch jene

wundervollen Wälder verlief ruhig und erbaulich.

Ich glaubte, auf unserem Weg schon mehr als genug

Schönheit gesehen zu haben. Aber alles das verblaßte in meiner Erinnerung, als ich unser Ziel erblickte. Eines Tages gegen Mittag ritten wir um den Felsvorsprung eines hohen Berges. Wyrd zügelte sein Pferd und wies mit einer

ausladenden Geste auf die Landschaft unter uns. Der

Anblick raubte mir den Atem.

»Haustaths«, sagte Wyrd stolz. »Die Hallstatt.«

2

Zu meinen Lebzeiten habe ich sowohl Roma Flora als

auch Konstantinopolis Anthusa gesehen. Beide, der

lateinische sowie der griechische Beiname, bedeuten »die Blühende«, und in der Tat, beide Städte verdienen ihn. Ich war in Vindobona, der nach Rom zweitältesten Stadt des Imperiums, in Ravenna und in vielen anderen historischen Städten. Ich habe das Land entlang der Donau gesehen,

vom Schwarzen Meer bis zum Schwarzwald, und bin mit

Schiffen über das Mittelmeer und das Sarmatische Meer

gefahren. Ich habe also mehr gesehen, als die meisten

Leute jemals sehen werden. Aber Haustaths ist mir immer noch als das schönste und bezauberndste Fleckchen Land dieser Erde in Erinnerung geblieben, das ich jemals erblickt habe.

Von dem Berg aus, von dem Wyrd und ich

hinunterblickten, erschien die Hallstatt wie eine längliche Schüssel, umgeben von hohen Gipfeln, deren Flanken

blaues Wasser umschloßen. Das Wasser war ein See, der

abgrundtief sein mußte, denn die Flanken der Berge fielen fast senkrecht ins Wasser ab, wo sie sich irgendwo tief, tief unten wieder trafen. Zwischen den Flanken gab es einige flacher ins Wasser abfallende Stellen und an den

Steilhängen selbst waren ein paar Matten sichtbar. Mehrere der auf der anderen Seeseite liegenden Bergriesen waren so hoch, daß selbst jetzt noch, am Anfang des Sommers, Schnee auf ihnen lag. Hier und da zeigten die Berge

Felsspitzen und Felswände aus braunem Sandstein. Aber

größtenteils bedeckte sie dichter Wald, der von unserem Aussichtspunkt aus einem dichtgewobenen, welligen und

gefalteten grünen Vlies glich mit blaugrünen Schatten, wo immer eine Wolke über es hinwegzog.

Der See, der Haustaths-Saiws, war winzig im Vergleich

zum Bodensee, aber unvergleichlich strahlender und

einladender. Das Blau - aah, dieses Blau! - von da, wo ich den See zum ersten Mal erblickte, erschien er wie ein

kostbarer blauer in die Falten des grünen Vlieses

eingefaßter Juwel. Es sollte lange dauern, bis ich wieder so ein dunkles und zugleich so leuchtendes Saphirblau zu

Gesicht bekam, und dann mußte ich unwillkürlich an den Haustaths-Saiws denken.

Auf dem Wasser schwamm etwas, aber was, war von hier

oben nicht zu erkennen. Haustaths lag auf einer der flachen Stellen am Seeufer. Nur die Häuser waren sichtbar, mit ihren steil aufgeschlagenen Dächern, damit im Winter der Schnee abrutschen konnte, außerdem der rechteckige Marktplatz und einige Stege, die ins Wasser hinausreichten. Es lag so tief unter uns, daß es an die Spielzeughäuser erinnerte, die die Holzschnitzer für Kinder machen, und ich konnte mir kaum vorstellen, wie so viele Häuser auf so engem Raum stehen konnten.

Wir ritten auf einem Pfad hinab, der einem breiten, lustig über eine Serie von Wasserfällen in die Tiefe rauschenden Strom folgte. Als wir uns Haustaths näherten, konnte ich sehen, wie die Stadt gebaut war. Nur wenige Gebäude,

darunter eine ansehnliche Kirche und der von Läden,

Tavernen und Wirtshäusern umringte Marktplatz, waren auf ebenerdigem Grund errichtet worden, da es kaum flaches Gelände gab. Die anderen Häuser und Bauwerke der Stadt waren ineinander verschachtelt und türmten sich

übereinander, bis auf halber Höhe der steilen Bergflanke.

Hier trennten keine rechtwinklig angelegten Straßen die Häuser, sondern schmale Gassen, und in Bergrichtung

verliefen keine Straßen, sondern Treppen. Die Gebäude

waren so dicht aufeinandergebaut, daß einige sehr schmal, dafür aber zwei oder sogar drei Stockwerke hoch waren.

Auf den ersten Blick erschien die Lage Haustaths

gefährlich, aber zweifellos war die Stadt sehr alt. Die Häuser waren aus Stein oder dicken Balken errichtet, die Dächer mit Schiefersteinen, Dachziegeln oder massiven Schindeln

gedeckt. Fast alle Vorderwände waren weiß getüncht und mit vielfarbigen Schneckenverzierungen dekoriert. An

manchen rankte sich blühender Wein oder sogar ein

blühender Baum hoch, kunstvoll getrimmt, flach an der

Hausfront und um die Türen und Fenster herum wachsend.

Mitten auf dem Marktplatz stand ein Brunnen, aus dessen vier Speirohren sich beständig Wasser ergoß, das in Röhren von dem Fluß, dem wir gefolgt waren, hergeleitet wurde. Auf den Simsen der Läden um den Platz herum blühten Blumen in Kübeln und Töpfen.

Niemals zuvor hatte ich eine Gemeinschaft gesehen, von der kleinsten Ansiedlung bis hin zur größten Stadt, die soviel Mühe darauf verwendete, sich ein so heiteres Äußeres zu verleihen. Ich glaube, die Leute hier wollten, daß sich ihre Stadt der herzerhebenden Schönheit der Umgebung als

würdig erwies. Und sie konnten sich diesen nicht

lebensnotwendigen, aber um so hübscheren Schmuck auch

leisten. Denn auf einem der Berge oberhalb von Haustaths befindet sich eine reiche Salzmine, die, wie ich hörte, die älteste der Welt sein soll. Die Bergleute haben in den Höhlen primitive Werkzeuge und uralte, vom Salz konservierte

Körper von Einsturzopfern gefunden, Kreaturen von solcher Häßlichkeit und solcher Stärke, daß sie jene Zwerge sein könnten, die immer unter der Erde lebten, wenn sie nicht die Art Lederbekleidung getragen hätten, die auch die heutigen Bergleute noch tragen. Folglich, so meinen die Leute von Haustaths, muß die Mine seit der Zeit, da sich Noahs Kinder über die Erde verteilten, ausgebeutet worden sein.

Auf jeden Fall ist sie noch immer unerschöpflich reich an dem hochwertigsten Salz und füllt die Geldbeutel der

Einheimischen. Sie alle leben seit Generationen hier und sind Abkömmlinge von praktisch allen germanischen

Stämmen, die vor langer Zeit mit römischen Kolonisten

Mischehen eingingen, so daß man unmöglich noch sagen

kann, wer welcher Abstammung ist. Abgesehen davon, daß sie alle Bürger der römischen Provinz Noricum sind.

Die einzigen Ställe lagen am Rand der Stadt. In einem

davon stellten Wyrd und ich gegen ein geringes Entgelt unsere Pferde unter. Dann schulterten wir die Beutel mit unseren persönlichen Habseligkeiten und schlenderten die Seepromenade, die einzige breite Straße in Haustaths,

entlang. Jetzt konnte ich auch die auf dem Wasser

treibenden Objekte identifizieren. Nicht weit vom Ufer wateten graue und rosa Reiher im flachen Wasser oder

meditierten auf einem Bein stehend. Etwas weiter draußen glitten blendend weiße Schwäne über das Wasser, und ganz weit draußen auf dem See lagen Fischerboote von einer

Bauweise, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte. Die einheimischen Fischer nennen sie Faurda, was soviel wie

»die Behenden« bedeutet. Jedes Boot ist geformt wie ein halbierter Melonenschnitz. Sein Bug ragt weit aus dem

Wasser, das Heck, wo der Fischer steht, sieht wie

abgeschnitten aus. Niemand konnte mir den Grund für die Form oder den Namen - nennen, aber ich glaubte kaum, daß dieses Boot, angesichts seiner Bauweise, seinem Namen

viel Ehre machen würde.

An diesem ersten Abend ließen wir uns frisch gefangenen und köstlich gegrillten Hecht munden. Die Taverne, in der wir speisten, ging auf den Marktplatz hinaus. Der Wirt, ein stämmiger Mann namens Andraias, war ein alter Bekannter Wyrds. Die Frontseite seiner Taverne war mit Schnörkeln verziert und von Blumenkästen flankiert, aber die

rückwärtige, auf den See hinausgehende Wand bestand aus Holzplanken, die der Caupo bei gutem Wetter entfernte. So genossen wir, als wir aßen und tranken, einen schönen

Ausblick auf den im Dämmerlicht liegenden Haustaths-Swais und die noch vom Sonnenlicht erleuchteten Bergspitzen

darüber. Wir warfen den unter unserer Terrasse

vorbeiziehenden Schwänen Brotkrümel zu und riefen hin

und wieder über den See, um die Antwort der Nymphe Echo immer schwächer und schwächer zurückhallen zu hören.

Nach dem Essen zogen wir uns in unsere Federbetten im

Obergeschoß zurück. Lange lag ich noch mit dem Kopf zum Fenster gewandt wach und sah dem Mond zu, der hinter

einem Bergkamm heraufzog und den tiefblauen See mit

silbrigem Glitzern überzog. Als ich meine Lider schloß, ging ein Tag zu Ende, den ich noch heute zu den glücklichsten meines ganzen Lebens zähle.

Als ich am nächsten Morgen erwachte, war Wyrd schon

auf, wusch sich und zog sich an. Bevor er seine Gamaschen überzog, hielt er kurz inne und examinierte einen kleinen roten Kratzer auf seinem Schienbein.

»Hast du dich verletzt?« fragte ich schläfrig.

»Die Wölfin«, murmelte er. »Sie hat mich erwischt, bevor ich sie erschlagen konnte. Ich hatte mir Sorgen gemacht, aber die Wunde heilt gut.«

»Warum sollte ein Kratzer dich besorgen? Ich habe dich schon in einem weitaus schlimmeren Zustand erlebt,

nachdem dich ein Beutel voller Wein erwischt hat.«

»Sei nicht respektlos gegenüber Älteren, Junge. Die

Wölfin litt an der Hundswoth, einer schrecklichen Krankheit, die von einem Biß übertragen werden kann. Ich hatte

gehofft, daß an ihrem Reißzahn, der zuerst meine dicken Gamaschen durchdringen mußte, kein giftiger Speichel mehr war. Meine Hoffnung hat mich anscheinend nicht getrogen.

Glaube mir, ich bin sehr erleichtert, eine Kruste über dem Kratzer zu sehen. Und jetzt gehe ich nach unten und sehe, was von dem Beutel, der mich gestern abend erwischt hat, übrig geblieben ist.«

Ich hatte schon von der Hundswoth, der Tollwut, gehört und wußte, daß sie den sicheren Tod mit sich brachte. Aber ich hatte noch kein von ihr befallenes Tier gesehen. Hätte ich von Wyrds Verletzung gewußt, dann wäre ich wohl

ebenso besorgt gewesen wie er. Aber nachdem er selbst

jetzt alle Bedenken abgetan hatte, war ich froh, daß er mir nicht früher davon erzählt hatte.

In der Taverne gesellte ich mich zu Wyrd, der zum

Frühstück nichts außer schwarzem Brot und Wein nahm.

Offensichtlich hatte er vor, mit seinem Freund Andraias den Rest des Tages durchzuzechen. Ich schlang eine Wurst, ein gekochtes Entenei und eine Schale Milch hinunter, denn ich war begierig, in das perlende Licht der Morgensonne

hinauszukommen und Haustaths zu erforschen.

Es mag so scheinen, als könnte eine so kleine und

isolierte Stadt wie Haustaths einem jungen Mann wie mir wenig zu bieten, aber ich fand an diesem und am nächsten Tag genug, was mich bezauberte, und ich freute mich

darauf, den Sommer hier zu verbringen. An diesem ersten Morgen entschied ich mich, die Gegend von oben nach

unten zu erkunden. Ich nahm den Pfad am Fluß, auf dem

Wyrd und ich am Tag zuvor in die Stadt gekommen waren.

Zu Fuß war es ein steiler Aufstieg, was ein guter Vorwand für häufige Pausen war. Während ich wieder zu Atem zu

kommen versuchte und meine Muskeln ausruhte, konnte ich geruhsam den Ausblick von immer weiter oben genießen.

Ich ließ die Stelle hinter mir, an der Wyrd und ich über den Bergsattel gekommen waren, und folgte einem Pfad, der

noch weiter nach oben führte. Schließlich erreichte ich die Saltwaurstwa, die Mine, der Haustaths seine Entstehung verdankte.

Bergmänner schleppten sich aus dem Eingang, den

Rücken gebeugt unter den länglichen, kegelförmigen

Körben, die mit Brocken grauen Steinsalzes gefüllt waren.

An ihnen vorbei schlurften andere mit leeren Körben wieder in die Mine hinein. Die Mine, eine ansehnliche Manufaktur, lag im Mittelpunkt einer kleinen Siedlung. Das größte Haus gehörte dem Minendirektor, etwas weniger groß waren die der Aufseher und Vormänner, und die Unterkünfte der

Arbeiter gruppierten sich zu einem ganzen Dorf von

Zweighütten mit kleinen Gärten. Alle Matten an den

Berghängen der Umgebung waren mit Deichen versehen

und unter Wasser gesetzt worden. In diesen Becken wurde das Steinsalz aufgelöst und von Verunreinigungen und

Verfärbungen befreit, dann getrocknet und als weißes Salz gebrauchsfertig granuliert. Es gab gesonderte Hütten, in denen das Salz in Säcke abgefüllt wurde, ein riesiges Lager, in dem sie zwischengelagert wurden, und Pferche, in denen die Esel gehalten wurden, die das Salz über die Berge zu den verschiedensten Bestimmungsorten trugen.