»Nun, vorenthält. Er behauptet, daß Ihr Eure neuen
Untertanen nicht regieren könnt, solange Ihr nicht mit einem streitsüchtigen Bischof fertig werdet und...«
»Senator«, unterbrach Theoderich ihn mit eisiger Stimme.
»Verschont mich mit langen Reden und Vornehmtuerei. Ich bin am Ende meiner Geduld.«
Jetzt begann Festus schnell zu sprechen. »Es scheint,
daß Gelasius' erste Handlung als Patriarch von Rom darin bestand, daß er seinen Amtsbruder Akakios, den
Patriarchen von Konstantinopel, öffentlich anklagte. Papst Gelasius hat den Eindruck, daß Bischof Akakios sich
schändlichen Elementen in der Ostkirche gegenüber allzu tolerant verhielt. Der Pontifex verlangt nun die Streichung aus den Diptychen, jenen Listen der Christenväter, denen die Gebete der Gläubigen gelten sollen. Wie ich erfuhr, verbreiten seine Kardinale diese Nachricht im gesamten westlichen Christentum. Wie Ihr Euch vorstellen könnt, hat dies eine Welle der Entrüstung in Konstantinopel ausgelöst.
Anastasius behauptet, er zögere, Euch zum Theodericus
Rex Romani zu ernennen, während seine eigenen
aufgebrachten Untertanen danach trachten, daß Rom in
Schutt und Asche gelegt und alle Römer in die Hölle
verbannt würden. Das behauptet er jedenfalls. Natürlich ist es nur ein willkommener Grund für ihn, Eure
Anerkennung...«
»Skeit!« bellte Theoderich und ließ seine Faust auf die Armlehne seines Stuhls herniederfahren, so daß sie fast zerbrach. »Erwartet der alte Narr von mir, daß ich zwischen zwei sich zankenden Bischöfen vermittle? Ein ganzes Land wartet darauf, von mir regiert zu werden, und man gibt mir nicht einmal die rechtmäßige Befugnis dazu. Ich weigere mich zu glauben, daß ein Streit unter Geistlichen Priorität hat.«
»Soweit ich weiß«, sagte Festus sanft, »geht es um die Monophysiten in der Ostkirche. Gelasius betrachtet sie als subversive Elemente und beschuldigt Akakios, ihnen
gegenüber allzu tolerant zu sein. Die Monophysiten glauben nämlich, daß die göttliche und menschliche Natur des
Erlösers...«
»Jesus Christus! Schon wieder diese pedantischen
Wortklaubereien! Die Bauern würden sagen, sie streiten um den Schatten eines Esels. Skeit! Das Christentum besteht nun seit fast fünfhundert Jahren, und immer noch nehmen die Väter der Christen keine Notiz von der Welt um sie herum. Stattdessen ergehen sie sich in theologischen
Haarspaltereien. Sie geben vor, weise zu sein und
gewichtige Fragen zu diskutieren, doch wissen sie nicht einmal, wie sie sich nennen sollen. Pontifex! Weiß Gelasius nicht, daß ein Pontifex ein heidnischer Oberpriester war?
Und Kardinale! Wissen die nicht, daß Cardea die heidnische Göttin der Türschwellen war? Beim Styx, wenn Anastasius die christliche Kirche verbessern will, soll er mit der höllischen Unwissenheit der Christen anfangen!«
»Laßt uns auf unsere heutigen Angelegenheiten
zurückkommen«, sagte der Senator. »Theoderich, wenn
Anastasius Euch Rom nicht gibt, überlaßt doch Rom diese Aufgabe. Jeder weiß, daß Ihr der neue König seid -
kaiserlicher Befehl hin oder her. Obwohl Rom nicht die Hauptstadt ist, kann ich den Senat sicher davon
überzeugen, Euch dort einen Triumph zu gewähren und...«
»Nein«, sagte Theoderich barsch.
»Warum nicht?« fragte Festus leicht gereizt. »Rom, die Ewige Stadt, gehört Euch, doch wie ich höre, habt Ihr sie Euch bislang noch nicht einmal aus der Ferne angesehen.«
»Und das werde ich auch jetzt nicht tun«, gab Theoderich zurück. »Ich habe mir geschworen, daß ich keinen Fuß in die Stadt setze, bevor ich nicht König von Rom bin. Und König kann ich nicht sein, bevor ich nicht in Ravenna
einmarschiere und dort den Triumph feiere. Hätte
Anastasius mir gewährt, was mir zusteht, ich hätte gewartet, bis Odoaker sich ergibt. Doch nun werde ich nicht länger warten.« Er wandte sich an mich. »Saio Thorn, du kennst diese Gegend am besten. Reite zurück nach Ravenna.
Finde heraus, wie dieser Feigling Odoaker so lange hat durchhalten können. Dann denk darüber nach, wie ich ihn am besten da herausbekomme. So sei es!«
10
»Was soll ich sagen?« Lentinus zuckte die Achseln.
»Vielleicht essen die da drin einander auf. Ich kann nur berichten, daß die Blockade nicht ein einziges Mal
durchbrochen wurde, weder zu Land noch zu See.«
Ich ließ ihn weiter so verdrießlich auf Ariminums Hafen starren und hing meinen eigenen Gedanken nach. Von einer Marmorbank aus betrachtete ich leeren Blickes das stolzeste Monument der Stadt, den Triumphbogen des Augustus,
ohne ihn wirklich wahrzunehmen. Wie konnte eine Stadt von der Größe Ravennas es so lange ohne die Zufuhr von
Lebensmitteln aushaken? Nur drei Dinge gelangten
ungehindert in die Stadt: Das eine war der Po, doch unsere khelai-Schreiner hätten es sicher gemerkt, wenn jemand versucht hätte, diesen Weg zu nehmen. Das zweite waren die See- und Sumpfvögel, doch ich bezweifelte, daß
Odoaker wie Elia von den Vögeln gefüttert wurde.
Schließlich gab es noch die Fackelzeichen. Diese wurden von der Bevölkerung Ravennas in ihrer Isolierung vom Rest der Welt vermutlich begierig erwartet, doch sie konnten niemanden ernähren...
Inzwischen marschierte Theoderich entschlossen mit einer beträchtlichen Streitmacht auf die Stadt zu und erwartete von mir einen Rat, wie er seine Soldaten am besten
einsetzen sollte. Ich wußte nicht, welchen Rat ich ihm geben sollte...
Nun, sagte ich mir, etwas hatte ich noch nicht getan: Ich hatte den nördlichen Endpunkt unserer Belagerungslinie noch nicht persönlich inspiziert.
Der für diesen Abschnitt der Belagerungslinie zuständige Mann hieß Gudahals, sprach Latein und trug den Titel eines Zenturio regionarius. Er sah aus wie ein Ochse, war träge wie ein Ochse und - wie sich bald herausstellen sollte - er besaß auch die Intelligenz eines Ochsen. Andererseits - wer sonst sollte diese öde Arbeit übernehmen und eine
langweilige Belagerung überwachen, bei der sich nichts tat und die nicht enden wollte? Das jedenfalls dachte ich, bis Gudahals, nachdem er, ich und Lentinus es uns bei Wein und Käse auf den Kissen seines Zeltes bequem gemacht
und uns zwanglos unterhalten hatten, ungefähr zum achten Mal selbstgefällig versicherte: »Absolut nichts geht nach Ravenna hinein, Saio Thorn«, und ebenso selbstgefällig hinzufügte: »Bis auf das Salz.«
Diese Worte hingen einen Augenblick in der Luft, bis
Lentinus und ich fassungslos ihre Bedeutung verstanden.
Dann fragten wir beide atemlos und wie aus einem Munde:
»Was?«
Immer noch selbstgefällig wiederholte Gudahals fröhlich und ohne unsere starren Blicke zu bemerken: »Die
Maultierzüge mit dem Salz.«
Der Nauarch und ich saßen inzwischen kerzengerade. Ich gab Lentinus mit einem Wink zu verstehen, er solle mir das Gespräch überlassen, und sagte so beiläufig wie möglich:
»Erzählt uns von den Maultierzügen, Zenturio.«
»Nun, sie kommen aus der Regio Salinarum der hohen
Alpen über die Via Popilia. Deshalb wurde die Straße
gebaut, habe ich mir von den Treibern sagen lassen. Sie bringen Salz von den Salzminen dort oben, und zwar schon seit Jahrhunderten, und es wird von den Kaufleuten in
Ravenna ins Ausland verschifft.«
Sanft, als würde ich zu einem Kind sprechen, sagte ich:
»Zenturio Gudahals, die Kaufleute in Ravenna treiben keine Geschäfte mehr.«
»Eben!« rief er aus und lachte vergnügt in sich hinein,
»dafür sorgen wir, nicht wahr? Weil das Salz in Ravenna nicht mehr verschifft werden kann, gehen die Maultierzüge durch Ravenna hindurch und stattdessen nach Ariminum.«
Lentinus war mittlerweile so rot angelaufen, daß ich
befürchtete, er würde wie Papst Felix gleich einen
Schlaganfall erleiden, also ließ ich ihn sprechen. Es ist ihm hoch anzurechnen, daß auch er seine Stimme unter
Kontrolle behielt: »Das bedeutet natürlich, daß die Züge erst hier durch Eure Belagerungslinie kommen, bevor sie
weiterziehen.«
Gudahals sah ihn verdutzt an. »Aber natürlich, Nauarch.
Wie anders würden sie nach Ariminum kommen?«
»Wie groß sind diese Züge?« fragte ich. »Wieviele
Maultiere sind es? Was tragen sie? Kommen sie
regelmäßig?«
»Ja, Marschall. Ungefähr zweimal die Woche, seit ich hier bin. Die Knechte sagen, das sei normal.« Er machte eine Pause, hielt den Weinschlauch hoch und schräg über seinen geöffneten Mund und trank einen großen Schluck. »In jedem Zug sind ungefähr zwanzig bis dreißig Maultiere, aber ich kann ihre Traglasten nicht in Pfund oder Amphoren
schätzen. Es ist gewiß furchtbar viel.«
Lentinus wiederholte, als hätte er das erste Mal nicht richtig gehört: »Und Ihr und Eure Männer habt jeden dieser Züge durch Eure Linie hier ziehen lassen, ohne daß Ihr jemanden befragt oder gehindert hättet?«
»Aber natürlich«, sagte Gudahals nochmals. »Ich würde
nie daran denken, mich den Befehlen meiner Vorgesetzten entgegenzustellen. «
»Den Befehlen?« krächzte Lentinus und seine Augen
traten hervor.
Besänftigend, als würde er zu einem Kind sprechen,
erklärte Gudahals: »Als General Herduich uns hier postierte, verbot er mir als befehlshabendem Zenturio und meinen
Männern ausdrücklich, zu plündern, zu vergewaltigen, zu stehlen - alles, was gutem Betragen entgegensteht. Wir sind hier Ausländer, sagte der General; wir müssen den Respekt der Leute gewinnen, damit sie Theoderich als ihren neuen König anerkennen. Vor allem dürften wir nichts
unternehmen, sagte der General, was das jeweilige
Gewerbe schädigen würde, mit dem sich die Bevölkerung
ihren Lebensunterhalt verdient - die Bürgerschaft Ravennas natürlich ausgenommen. Und die Maultiertreiber erzählten mir, daß Salz schon immer eines der einträglichsten Güter römischen Handels war.«
»Liufs Guth...« stieß ich entsetzt hervor.
»Es stimmt, Marschall! Seit die Römer jene reichen
Salzminen in den Alpen entdeckten, hat Rom das Monopol für den Salzhandel. Natürlich tue ich, was ich kann, um meinem König Theoderich in seinem Bemühen zur Seite zu stehen, die Zuneigung seiner neuen Untertanen zu
gewinnen. Ebenso achte ich sehr darauf, nichts zu tun, was sein Ansehen schmälern könnte, wie zum Beispiel das
römische Volk dadurch zu verärgern, daß ich seinen
Salzhandel behindere.«
Lentinus hatte inzwischen das Gesicht in den Händen
vergraben.
»Sagt mir, Gudahals«, seufzte ich. »Tragen diese
Maultierzüge, wenn sie von Ariminum zurückkommen,
irgendwelche Güter mit sich, die sie im Tausch gegen all das wertvolle Salz erhalten haben?«
»Eheu, Saio Thorn!« rief er heiter. »Ihr versucht, mir eine Falle zu stellen; ich soll zugeben, daß ich geschlafen habe!«
Immer noch heiter, nahm er einen großen Schluck aus
seinem Weinschlauch. »Nein, nein. Jedes Maultier kam
unbeladen hierher zurück. Was die Treiber für ihr Salz bekommen, weiß ich nicht - vielleicht einen Wechsel gegen spätere Bezahlung. Jedenfalls keine anderen Güter. Wie könnten sie? Wenn sie beladen aus Ariminum zurückkämen, würde der befehlshabende Zenturio am südlichen Endpunkt der Belagerungslinie sie anhalten und ihnen alles
abnehmen. Er würde sie nicht nach Ravenna hineinlassen, weil sie sonst ihre Güter nicht an Odoaker und seine
Verbündeten weitergeben könnten. Dem Feind Proviant
zuzuführen, würde die Belagerung brechen. Da jeder Zug unbeladen hier ankommt, gehe ich davon aus, daß unser
Befehlshaber am anderen Ende seine Arbeit tut. Es läuft alles ganz nach Befehl des Generals Herduich.«
Lentinus und ich tauschten verzweifelte Blicke und starrten dann entgeistert diesen naiven Stümper an, der in seiner Einfalt alle unsere Bemühungen und Pläne zunichte
gemacht hatte.
»Eines noch«, sagte ich, und seine Antwort war mir fast gleichgültig, »kam es Euch je in den Sinn, Zenturio, die Satteltaschen der Maultiere zu untersuchen, bevor Ihr sie durchgelassen habt?«
Gudahals spreizte die Finger und lächelte. »Nur den
ersten Zug, Marschall, die ersten zwei, drei Ballen... nun, Salz ist Salz. Und schwer ist das Zeug, sage ich Euch. Man hat direkt Mitleid mit den armen Maultieren, die solche Lasten so weit tragen müssen. Nach den ersten paar Tieren sieht man gnädig davon ab, sie abzuladen, die Satteltaschen zu inspizieren und dann wieder aufzuladen. Das quält die armen Tiere mehr als...«
»Benigne, Zenturio. Thags izvis, Gudahals, für Wein, Käse und die lehrreichen Geschichten über den Salzhandel.« Ich stand auf und ergriff das Abzeichen seines Ranges, sein Schwert, das am Gürtel über einem Zeltpfosten hing. »Ihr seid Eures Kommandos enthoben und unter Arrest.«
Gudahals, der gerade dabei war, noch einen Schluck aus seinem Weinschlauch zu nehmen, verschluckte sich, und
der Wein troff ihm von den Lippen. Ich ging zur Zelttür und rief nach dem stellvertretenden Kommandeur. Optio Landerit bewegte sich gewandt, als ich ihm befahl, Gudahals in
Gewahrsam zu nehmen und genügend bewaffnete Soldaten
antreten zu lassen, auf daß jeglicher Maultierzug, der aus jeglicher Richtung an der Via Popilia entlangkam, bei Tag oder bei Nacht angehalten und inspiziert werde.
»Auch mich sollte man absetzen und einsperren«, knurrte Lentinus, über sich selbst wütend.
»Dann hätte auch ich es verdient«, entgegnete ich. »Aber wie hätten wir denn wissen können, daß es ein schwaches Glied in der Kette gibt?« Und mit einem Anflug von
Galgenhumor fügte ich hinzu: »Außerdem seid Ihr doch ein neutraler Beobachter, nicht wahr? Ihr und ich - wir haben keine Befugnis, uns gegenseitig zu verhaften.«
»Soll sich dann jeder von uns in sein Schwert stürzen?«
entfuhr es ihm.
»Wir wollen unserem Schicksal die beste Seite
abgewinnen. Ich schlage folgendes vor...«
»Wer schickt das?« fragte ich schon zwei Tage später den Anführer eines Maultierzuges, indem ich mit dem Fuß an den Stapel von Waren stieß - hauptsächlich Pökelfleisch und Ölschläuche -, den Optio Landerit und seine Wachen in den Salzballen versteckt gefunden hatten.
Der Treiber war blaß und zitterte, aber er antwortete
beherzt: »Der Vorsteher der Salzwerke in Hanstaths.« Soviel hatte ich schon fast erraten, doch ich hätte den Mann, der vor mir stand, nicht erkannt, hätte er nicht mit einem Anflug von Stolz hinzugefügt: »Mein Vater.«
»Mir deucht, daß Georgius Honoratus mittlerweile zu alt für solch gefährliche Spiele sein dürfte«, sagte ich.
Mein Gegenüber sah mich verblüfft an, als ich den Namen nannte, doch er murmelte: »Er ist immer noch ein treuer Römer und nicht zu alt, unserem Vaterland mutig zu
dienen.«
Mir kam eine Bemerkung meines Mitmarschalls Soas in
den Sinn, daß gewisse Auswanderer sich aus sicherer
Entfernung in die Angelegenheiten ihres Vaterlandes
einmischen. Aber ich machte mir nicht die Mühe
herauszufinden, welche Gründe der alte Georgius XIII. oder XIV. gehabt haben mag, dem abgesetzten Odoaker dienen
zu wollen. Ich sagte nur: »Es ist einfach, andere ihren Mut beweisen zu lassen. Georgius schickt Euch, für ihn Verrat zu begehen. Vermutlich auch Euren Bruder. Wo ist der?«
»Wer seid Ihr?« fragte der Mann mit krächzender Stimme und kniff die Augen zusammen. »Müßten wir Euch
kennen?« Als ich nicht antwortete, murmelte er: »Mein
Bruder und ich wechseln uns ab. Das brauchten wir nicht, denn es gibt viele andere Treiber. Doch wir sind stolz darauf... tun es für unser Vaterland... um mit dabei zu sein...«
»Und von Eurem mutigen Vater wegzukommen«,
bemerkte ich kühl. »Dann freue ich mich darauf, bald auch Euren Bruder kennenzulernen. Und Eure Schwester?
Beteiligt sie sich auch an diesem mutigen Unternehmen
Eures Vaters?«
»Wer seid Ihr, Mann?« Wieder antwortete ich nur mit
einem grimmigen Blick, so daß er schleppend fortfuhr: »Sie hat vor Jahren geheiratet... einen reichen Händler... sie ist von zu Hause weggegangen.«
»Schade«, sagte ich. »Sie ist zu schade für einen Händler.
Wenigstens hat sie es geschafft, von ihrer langweiligen Familie loszukommen. Ich möchte wetten, daß Ihr oder Euer Bruder nicht geheiratet habt. Georgius wird seine zwei niedrigsten Sklaven wohl kaum freigegeben haben.«
Jetzt war er derjenige, der schwieg, doch er blinzelte verwirrt, als ich ihm befahl: »Zieht Euch aus!« Dann wandte ich mich an Optio Landerit: »Sobald alle Treiber nackt sind, stopft Ihr sie statt der konfiszierten Waren in die Säcke und füllt diese mit Salz auf. Währenddessen soll Zenturio
Gudahals in mein Zelt kommen.«
Zweifellos hatte Gudahals angenommen, ich würde ihn
ebenfalls einpökeln lassen, denn sein Ochsengesicht
leuchtete auf, als ich sagte: »Zenturio, ich gebe Euch Gelegenheit, den angerichteten Schaden zu bereinigen.« Er fing an, dankbar zu blöken, doch ich gebot ihm mit einer Handbewegung Schweigen. »Ihr nehmt vier Reitersoldaten und reitet in gestrecktem Galopp nordwärts - die Via Popilia, die Via Claudia Augusta, das Drautal entlang durch die Alpen - bis nach Hanstaths in der Regio Salinarum, denn von dort kommen die Schmuggler.« Ich erklärte ihm
genauestens den Weg bis zur Salzmine und gab ihm eine
detaillierte Beschreibung des Georgius Honoratus, wie ich ihn in Erinnerung hatte. »Ihr bringt diesen Mann hierher und übergebt ihn entweder Theoderich oder mir selbst - keinem geringeren Offizier. Georgius ist schon sehr alt, also geht sanft mit ihm um. Theoderich will den Mann bei bester
Gesundheit haben, wenn er ihn am Marterholz kreuzigen
läßt. Daher warne ich Euch: sollte es Euch nicht gelingen, Georgius zu finden oder zu stehlen, oder sollte er auf dem Weg hierher Schaden erleiden...« Ich wartete, bis Gudahals anfing zu schwitzen, und fuhr dann fort, »dann kommt
besser nicht zurück.«
Gudahals galoppierte gerade mit seinen vier Männern aus dem Lager hinaus und auf die Via Popilia, als Landerit mein Zelt betrat, salutierte und sprach: »Als es in den Salzsäcken aufhörte zu rumoren, Saio Thorn, waren sie ziemlich klumpig und merkwürdig verformt. Deshalb füllten wir sie mit noch mehr Salz auf, damit sie genauso rund und fest waren wie zuvor. Dann schnallten wir sie über die Packsättel von zehn ausgeruhten Maultieren. Zehn weitere Tiere wurden mit
Säcken beladen, die nur Salz enthalten. Damit haben wir wieder einen Zug von zwanzig beladenen Maultieren.«
»Sehr gut, Optio. Die anderen Maultiere könnt Ihr zu Eurer eigenen Herde von Zugtieren stellen; wir werden sie nicht brauchen. Jetzt gilt es, unsere - wie soll ich sagen
›trojanischen Maultiere‹ auf den Weg zu schicken. Ravenna muß trotz dieser heimlichen Verpflegung durch die Hintertür sehr lange mit jämmerlichen Rationen auskommen. Die
armen, ausgehungerten Leute werden jede Ankunft eines
Maultierzuges sehnlichst erwarten. Ob sie wohl das
Pökelfleisch mögen, das sie diesmal bekommen?«
Landerit murmelte: »Es wäre interessant zu sehen, ob sie hungrig genug sind, darüber herzufallen.«
»Wie dem auch sei«, sagte ich, »die Wachen, die Odoaker rings um die Stadt aufgestellt hat, sind disziplinierte römische Legionäre. Hungrig oder nicht, ihnen wird alles Verdächtige sofort auffallen. Deshalb muß dieser
Maultierzug aussehen wie alle anderen, was heißt, daß nicht mehr als fünf Treiber dabeisein dürfen. Geht und macht vier unserer besten Männer ausfindig, die bereit sind, sich unbewaffnet in die feindliche Feste zu begeben. Sie sollen zuerst die von den Treibern abgelegten Kleidungsstücke durchsuchen, ob sie etwas finden, was ihnen paßt.«
»Vier Männer nur?« Der Optio grinste erwartungsvoll.
»Und ich bin der fünfte?«
»Nein, ich. So jedenfalls sprach ich mich mit dem
Nauarchen Lentinus ab, bevor er südwärts segelte. Er
erwartet mich am anderen Ende von Ravenna - falls wir
Trojaner es schaffen, durchzukommen. Aber ich habe einen anderen Auftrag für Euch. Wie ich annehme, sind noch
weitere Maultierzüge aus dem Norden hierher unterwegs; konfisziert die Waren und pökelt die Treiber ein. Dann schickt Ihr die Züge zurück, aber mit Euren Männern als Treibern. Ich habe Gudahals aufgetragen, mir den Anführer der Verschwörer zu bringen; die andere Brut will ich nicht.
Und hier, Optio. Ich vertraue Euch meine Waffen und meine Rüstung an, während ich weg bin.«
Landerit sagte: »Ich weiß, es geht mich nichts an,
Marschall, aber ich bin neugierig. Wie kommt es, daß Ihr so viel über diesen Ort Hanstaths wißt, wo die Züge
herkommen?«
»In meiner Jugend verbrachte ich einmal einen Teil eines Sommers an jenem schönen Ort. Die Stätte des Echos.« Ich hielt inne und sinnierte: »Ich hätte nicht erwartet, jemals in meinem Leben nochmals ein Echo davon zu hören.«
»Selig sind die Friedfertigen!« Mit gesenkter Stimme
zitierte Theoderich den Apostel Matthäus, als er erstaunt mich und die anderen vier Treiber, den Nauarchen Lentinus und unsere Gefangenen betrachtete, die in Ariminum auf ihn warteten. »Erzähl mir, wie du es geschafft hast, sie
gefangenzunehmen.«
»Es war keine Heldentat«, antwortete ich bescheiden.
»Die Wachen um Ravenna ließen unseren trojanischen
Maultierzug unter prüfenden Blicken in die Stadt hinein. In der Mitte der Stadt wartete schon ein Trupp Soldaten auf uns. Meine Leute hielten den Mund, wie es ihnen befohlen worden war, und ich plauderte zwanglos mit dem Optio, dem ich den Zug übergab, über Hanstaths.«
»Was hättest du getan«, fragte Theoderich belustigt,
»wenn die Soldaten den einen oder anderen trojanischen Ballen aufgeschlitzt hätten?«
»Glücklicherweise taten sie das nicht. Wie man sich
denken kann, brachten sie die Maultiere in verschiedene Stadtteile, so daß die Lebensmittel gleichmäßig verteilt werden konnten. Übrigens fand ich während unseres kurzen Besuches dort heraus, daß Ravenna immer noch einen
beträchtlichen Vorrat an Korn und anderem Getreide hat, die Züge jedoch waren die einzige Quelle wirklich eßbarer Kost und geschmackverleihenden Öls. Die Soldaten jedenfalls kümmerten sich nicht mehr um uns, als sie die Maultiere hatten, und wir machten uns davon, ohne aufgehalten zu werden.«
Theoderich lachte. »Habt ihr das Geheul gehört, das
ausgebrochen sein muß, als die Ballen geöffnet wurden?«
»Ich war jeden Augenblick darauf gefaßt. Ich wußte, daß wir uns beeilen mußten, bevor die wütenden Soldaten sich auf die Suche nach uns machten. Nun, wir waren zu wenige, als daß wir der Verteidigung der Stadt bedeutsamen
Schaden hätten zufügen können, selbst wenn wir
untertauchen und wochenlang im Geheimen hätten arbeiten können. Uns blieb nur übrig, etwas zu stehlen. Etwas zu stehlen, das wir sozusagen als Brecheisen benutzen
konnten, wenn wir erst einmal außerhalb der Stadtmauern waren. Natürlich hätte ich Odoaker gerne entführt, doch uns blieb nicht genug Zeit, ihn zu suchen. Außerdem ging ich davon aus, daß er schwer bewacht sein würde, und wir
waren alle unbewaffnet. Dann erspähte ich die Basilika des Heiligen Johannes, die katholische Kathedrale der Stadt.
Selbst die gewissenhaftesten Legionäre machen sich nicht die Mühe, Kirchen zu bewachen. Als wir in die Basilika eindrangen, fanden wir im Presbyterium diese beiden unsere Beute.«
»Und nun seid ihr wieder hier«, sagte Theoderich und
schüttelte in unverhohlener Bewunderung den Kopf.
»Nun sind wir wieder hier«, erwiderte ich. »Erlaube mir, dir unsere priesterlichen Gefangenen vorzustellen. Der jüngere und dickere von beiden - wir haben schließlich zugelassen, daß er gut gefüttert wurde - derjenige, der so sehr versucht, heilig auszusehen, geduldig und seinen Entführern
gegenüber nachsichtig, das ist Erzbischof Johannes von Ravenna. Der andere, der schmächtige, gebrechliche,
zitternde Alte, das ist wirklich ein Heiliger. Er ist zu seinen Lebzeiten schon zum Heiligen erklärt worden - vermutlich der einzige Heilige, den ich und du, Theoderich, jemals zu Gesicht bekommen werden. Du hast von ihm gehört. Es ist Odoakers lebenslanger Mentor, Lehrer, Beichtvater und
persönlicher Kaplan, der Heilige Severinus.«
»Es liegt nun an Odoaker«, sagte Theoderich, »entweder gibt er die Stadt auf oder den Heiligen...«
Er, wir Offiziere und die beiden neu dazugekommenen
Gäste hatten uns zu einem Mahl im Speisezimmer des von Theoderich in Besitz genommenen Palastes in Ariminum
niedergelassen. Wir wurden mit kräftigen Speisen verwöhnt, doch während Bischof Johannes mit beiden Händen
zulangte, stocherte der Heilige Severinus nur gleichgültig mit zittrigen Fingern in seinem Essen herum.
»Theodericus, mein Sohn, mein Sohn«, sagte der Bischof, wobei er den Namen nach römischer Art aussprach. Er
schluckte einen großen Bissen Fleisch und wies dann auf mich. »Dieser Mensch ist bereits für den Rest seines Lebens der Verdammnis anheimgefallen und wird im Jenseits in alle Ewigkeit die Qualen der Hölle erleiden, weil er Hand an den Heiligen Severinus gelegt hat. Sicher werdet Ihr, Theoderich, Eure Hoffnung auf das Himmelreich nicht dadurch zunichte machen, daß Ihr einem christlichen Heiligen Schaden
zufügt.«
»Einem katholischen Heiligen«, sagte Theoderich
unerschütterlich. »Ich bin nicht katholisch.«
»Mein Sohn, mein Sohn, Severinus wurde vom höchsten
Pontifex des gesamten Christentums für heilig erklärt.«
Johannes schlug gottesfürchtig das Kreuz. »Deshalb muß jeder Christ einen Heiligen verehren und respektieren...«
»Nun, wenn Ihr ihn so sehr schätzt und bewundert«, fiel Theoderich ihm ins Wort, »werdet Ihr doch sicher nicht wollen, daß ihm etwas zustößt.«
»Mein Sohn«, sagte Johannes nochmals und rang die
Hände. »Wollt Ihr wirklich, daß ich zu Odoaker zurückgehe und ihm sage, Ihr droht, dem Heiligen Severinus etwas
anzutun, wenn...«
»Es ist mir gleichgültig, was Ihr ihm erzählt, Bischof. Wie ich Odoaker kenne, wird er seinen Kopf nicht einmal für seinen liebsten Heiligen riskieren. Um unbemerkt aus
Verona zu entkommen, versteckte er sich feige in der Menge seiner Untertanen. Er ließ Hunderte unbewaffneter und
hilfloser Gefangener abschlachten, um zu verhindern, daß sie seiner Flucht nach Ravenna im Wege stehen. Seither hat er die gesamte Bevölkerung dieser Stadt den größten
Entbehrungen ausgesetzt, nur, damit er sich weiterhin dort verstecken kann. Deshalb bezweifle ich, daß die Bedrohung eines anderen Menschen ihn dazu bewegen wird, Ravenna
aufzugeben. Doch genau dies muß er tun.«
»Aber... aber... wenn er dies nicht tut?«
»Wenn er dies nicht tut, werdet Ihr sehen, Bischof, daß ich genauso skrupellos und brutal sein kann wie Odoaker. Wenn Ihr Euch also um den Heiligen Severinus sorgt, denkt Ihr Euch besser ein überzeugendes Argument aus - ein
unwiderstehliches Argument -
mit dem Ihr Odoaker
überzeugen könnt. Und beeilt Euch. Ihr werdet morgen nach Ravenna zurückeskortiert.« Theoderich hielt inne und zählte nach. »Zwei Tage um hinzukommen, zwei für den Rückweg.
Ich gebe Euch bis morgen in einer Woche, um mit Odoakers bedingungsloser Kapitulation hierher zurückzukommen. So sei es!«
Es war meine Pflicht, den Bischof aus Ariminum hinaus
auf der Via Popilia sicher durch unsere Belagerungslinie hindurch zu geleiten. Dann kehrte ich zu unserer Linie zurück und wartete, weil ich nicht wußte, was als nächstes auf mich zukommen würde. Wenn die Soldaten dort eine
Wette auf das Ergebnis dieser Verhandlungen
abgeschlossen hätten, ich wäre mir nicht sicher gewesen, ob ich mein Geld auf Erfolg oder Mißerfolg gesetzt hätte. Selbst als ein Legionär mit einer weißen Fahne angeritten kam, und Bischof Johannes neben ihm, wußte ich noch nicht, was ich denken sollte. Immerhin kam der Erzbischof unversehrt aus dem feindlichen Lager zurück, und sein Kopf baumelte nicht am Sattelknauf. War dies ein gutes Zeichen? Sein Gesicht war ausdruckslos.
Als wir schließlich allein nebeneinander die Via Popilia entlangritten, konnte ich meine Neugier nicht länger
zurückhalten. »Nun?« fragte ich.
»Wie Theoderich es verlangt«, antwortete er, allerdings nicht sehr fröhlich, »Odoaker kapituliert.«
»Euax!« rief ich aus. »Ich gratuliere Euch, Erzbischof! Ihr habt sowohl Eurer Vaterstadt als auch Eurem Vaterland
einen großen Dienst erwiesen. Doch erlaubt mir eine
heimliche Vermutung: Odoaker war mehr als bereit, sich zu ergeben, nicht wahr? Er gibt vor, es für den armen, alten Severinus zu tun und bewahrt dadurch seine
Glaubwürdigkeit. Dies verleiht ihm sogar den Schein nobler Selbstaufopferung. Ist es nicht so?«
»Nein«, antwortete er recht mürrisch. »Theoderich hatte recht. Odoaker hätte es nicht um Severinus' willen getan. Ich mußte ihm mehr bieten als einen Heiligen.«
»Dann habt Ihr ein zusätzliches Argument eingebracht?
Nun, wenn es dazu dient, Odoaker zu überzeugen, billige ich Eure Erfindungsgabe.«
Da der Erzbischof dahinritt, ohne etwas zu sagen, fuhr ich fort: »Ihr scheint über Euren Erfolg nicht sehr glücklich zu sein.«
Noch immer sagte er nichts, also fragte ich stirnrunzelnd:
»Bischof, was habt Ihr Odoaker geboten? Sein Leben?
Sicheres Exil? Eine Befugnis? Was?«
Er stieß einen Seufzer aus, daß seine Backen zitterten.
»Mitregentschaft. Herrschaftsteilung mit Theoderich. Beide regieren Seite an Seite wie die königlichen Brüder
Burgunds.«
Ich zügelte Velox und brachte durch einen Griff in seine Zügel auch das Pferd des Erzbischofs zum Stehen. »Seid Ihr verrückt?« zischte ich.
»Theoderich sagte - Ihr wart dabei, Ihr habt es gehört -
daß es ihm gleichgültig sei, was ich vorschlage.«
Ich starrte den Bischof entgeistert an. »Theoderich nahm fälschlicherweise an, daß Ihr gesunden Menschenverstand habt. Wenn er herausfindet, daß er sich geirrt hat, wird er es außerordentlich bereuen - und Ihr auch, eheu, das sehe ich schon jetzt.«
Johannes' dicke Unterlippe zitterte, als er eigensinnig beharrte: »Ich habe mein Wort gegeben. Odoaker hat es
akzeptiert, und das wird auch Theoderich tun müssen.
Schließlich bin ich Erzbischof.
»Ein Dummkopf seid Ihr! Theoderich wäre besser
gefahren, hätte er den sabbernden Greis Severinus
geschickt. Das ist mir neu, daß der Besiegte dem Sieger die Bedingungen stellt. Schaut her! Hier steht Theoderich, triumphierend über das ganze Land. Und hier liegt Odoaker, niedergestreckt, zermalmt, doch er schüttelt die Faust und prahlt: »Ich bin Euch ebenbürtig, auf Befehl des Erzbischofs Johannes!« Angewidert warf ich die Zügel zurück. »Kommt weiter. Ich kann kaum erwarten, dies zu sehen.«
Wieder betonte er, diesmal allerdings mit einem Zittern in der Stimme: »Ich habe mein Wort gegeben. Das Wort eines Erz...«
»Haltet ein«, unterbrach ich ihn und brachte Velox
nochmals zum Stehen. »Ihr habt doch sicher
Vereinbarungen getroffen, nach denen die Begegnung
dieser beiden brüderlichen Könige vonstatten gehen soll, nach denen ihre groteske Herrschaftsteilung besiegelt wird.
Welche Vereinbarungen habt Ihr getroffen?«
»Nun, natürlich wird eine prunkvolle Zeremonie stattfinden.
Theoderich zieht an der Spitze seiner Truppen in Ravenna ein. Er erhält einen Triumph nach den festgelegten Regeln des Zeremoniells. Ich selbst verleihe ihm den Lorbeer und die Toga picta. Das Heer leistet den Treueeid. Das Volk auf den Straßen wirft sich demütig vor ihm in den Staub. Nach den Siegesgebeten in der Kathedrale begibt sich Theoderich zu Odoakers Residenz, dem Kaiserpalast ad Lauretum. Dort wartet ein Festessen auf ihn. Die beiden Männer umarmen sich in aller Freundschaft und...«
»Das reicht«, unterbrach ich ihn und er schwieg, während ich mir alles nochmals vergegenwärtigte. »Ja, das ist
großartig«, meinte ich dann, »Theoderich hält Einzug, das Verteidigungsheer und die Bevölkerung unterwerfen sich. Er wird nicht mehr erwarten, weil Ihr ihm nicht mehr sagen werdet, Erzbischof. Laßt ihn glauben, daß er Odoaker nur begegnen wird, um als Zeichen der Unterwerfung sein
Schwert entgegenzunehmen.«
Der Erzbischof wich entsetzt zurück. »Ihr befehlt einem Erzbischof, er solle sündigen! Ich würde Theoderich
anlügen! Ich würde Odoaker gegenüber mein verbürgtes
Wort brechen!«
»Ein weiser Abt sagte mir einst, daß die Mutter Kirche es ihren Priestern gelegentlich erlaubt, zu einer frommen Lüge Zuflucht zu nehmen.«
Zum letzten Mal begehrte Johannes auf: »Ihr wollt, daß ich Theoderich unterstütze. Einen Arianer. Einen Ketzer. Wie könnte ich auch nur mein eigenes Gewissen davon
überzeugen, daß ich damit der Mutter Kirche diene?«
Spitz entgegnete ich: »Ihr erspart es ihr, einen neuen Erzbischof für ihr Episkopat in Ravenna suchen zu müssen.
Jetzt kommt und erzählt Theoderich, daß er die
bedingungslose Kapitulation hat, die er wollte.«
Und so kam es, daß Theoderich - weil ich sicherstellte, daß mein König nichts von dem Pakt der Mitregentschaft erfuhr, dem Odoaker zugestimmt hatte - seine Herrschaft mit einer bedauerlich unklugen Tat begann. Ich hätte es
vorhersehen müssen, weil ich wußte, wie er auch bei
anderen Gelegenheiten gehandelt hatte, ohne zu zögern
oder nachzudenken. Und später, wenn ich daran
zurückdachte, wünschte ich mir oft, ich hätte ihn vor einer solch impulsiven Tat gewarnt. Doch damals dachte ich nur, daß Theoderich allen Grund für seine Tat hatte.
An einem Tag im Monat März des Jahres 493 nach
christlicher Zeitrechnung hielt Flavius Theodericus rex seinen triumphalen Einzug in Ravenna - doch was er an
jenem Frühlingstage tat, warf ein dunkles Bild auf all die kommenden Jahre seiner Regentschaft. Als die Zeremonie vorüber war, begab er sich mit uns Begleitern in den
Kaiserpalast und begegnete Odoaker dort zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht. Odoaker war alt, gebeugt und kahl und offenbar über alle Heuchelei erhaben, denn er hieß uns mit einem freundlichen Lächeln willkommen, die Arme hielt er zur brüderlichen Umarmung ausgestreckt. Doch
Theoderich ignorierte die Geste und griff stattdessen zum Schwert.
An jenem Märztag des Jahres 1246 nach der Gründung
Roms erlebte das weströmische Reich seine Wiedergeburt und seine Erneuerung. Es würde unter Theoderichs
Herrschaft herrlich gedeihen, jedoch nie ganz verzeihen, was er an jenem Tage. tat. Theoderich zog seine
Schlangenklinge. Odoaker trat überrascht und entsetzt
zurück. »Wo ist Bischof Johannes?« stieß er hervor, und seine Augen suchten den mitverschworenen Erzbischof, der vorsichtigerweise nicht mit zum Palast gekommen war.
An jenem Märztag begann die rühmenswerteste
Herrschaft, die Europa in vielen Jahrhunderten gesehen hat, aber Theoderich hatte Feinde, Rivalen und Verleumder, und diese erinnerten sich an das, was er an jenem Tag getan hatte und sie sorgten dafür, daß auch andere sich daran erinnerten. Theoderich schwang sein Schwert beidhändig wie eine Axt und spaltete Odoaker mit einem Hieb vom
Schlüsselbein bis zur Hüfte. Dann, als Odoaker vor ihm zusammenbrach, wandte Theoderich sich an uns und sagte:
»Herduich, Ihr hattet recht. Er muß im Alter wirklich sein Rückgrat und alle Knochen verloren haben.«
Von jenem längstvergangenen Tag bis heute hing stets
eine dunkle Wolke selbst am strahlendsten Himmel der
Herrschaft Theoderichs des Großen.
Das Königreich der Goten
1
Obwohl Johannes sich geweigert hatte, mir zum Gefallen die Wahrheit ein wenig zurechtzubiegen, fabrizierte er selbst später eine viel schlimmere Lüge. Eine Sünde, die seine Seele, so sagte es wenigstens der christliche Glaube, dem er anhing, in eine große Gefahr brachte. Was war
geschehen?
Theoderich hatte in Ravenna kaum Gelegenheit gehabt,
seine Satteltaschen zu leeren, als auch schon eine
Gesandtschaft kirchlicher Würdenträger aus Rom eintraf.
Bischof Gelasius, der Erzbischof, war nicht unter ihnen, denn er empfand es als unter seiner Würde, einem König seine Aufwartung zu machen. Die entsandten
»Kardinaldiakone« bestanden darauf, er habe ihnen
Vollmacht gegeben, für »die gesamte Heilige Kirche« zu sprechen. Die Kirchenleute ergingen sich in immer
wiederkehrenden Umschreibungen, und Theoderich
brauchte eine Zeitlang, bis er dahinter kam, was sie
eigentlich wollten. Zuletzt begriff er, daß der katholische Klerus besorgt, ja geradezu verzweifelt war. Und
weswegen? Nun, Theoderich hatte einen König gestürzt,
einen katholischen König wohlgemerkt. Und er, der neue König, war ein Arianer. Die Diakone waren begierig zu
erfahren, ob er (wie es bei katholischen Monarchen die Regel war) seine Religion zur Staatsreligion erheben würde.
»Warum«, lachte Theoderich, »sollte ich das tun wollen?
Es ist mir gleich, welchem Glauben oder Aberglauben mein Volk anhängt, solange es zu keinem ungebührlichen
Betragen führt. Und selbst wenn es mir wichtig wäre, wie könnte ich darüber entscheiden, was in den Köpfen meiner Untertanen vor sich gehen soll?«
Kurz nach dieser Unterhaltung gab Theoderich ein Dekret heraus, an dessen Inhalt er sich während seiner gesamten Regierungszeit hielt. Damals wie heute haben viele
Staatsführer, Geistliche und Philosophen Theoderichs
Aufgeklärtheit bewundert - und genausoviele über seine Torheit mitleidig den Kopf geschüttelt. »Religionem imperare non possumus, quis nemo cogitur ut credat invitus.
Galäubeins ni mag wei anabudäima; ni ains hun galäubjäith withra is wilja. Wir können keine Religion befehlen; niemand kann gegen seinen Willen zu einem Glauben gezwungen
werden.« Genau das aber hatte die römische Kirche im
Sinn: die ganze Menschheit ihrem Glauben zu unterwerfen.
Wenn die Kleriker Theoderich, dem ungläubigen
Eindringling, bisher nur Mißtrauen entgegengebracht hatten, dann schlug dieses Mißtrauen nach seinem »non
possumus« um in Haß. Sie verdammten ihn als eine tödliche Gefahr für ihre Mission in dieser Welt, für ihre heilige Berufung, für ihre bloße Existenz, und zitierten zur
Rechtfertigung Jesus: »Wer nicht für mich ist, ist gegen mich.« Von diesem Zeitpunkt an arbeitete die katholische Kirche unablässig und unbarmherzig am Sturz Theoderichs und setzte allen seinen Anordnungen erbitterten Widerstand entgegen.
Um der Gerechtigkeit Genüge zu tun, muß ich hinzufügen, daß nicht alle Kirchenleute Theoderich Steine in den Weg warfen. Der Bischof von Ticinum, ein Mann namens
Epiphanias, kam eines Tages mit einem interessanten
Vorschlag zu Theoderich. Ich glaube zwar, daß Epiphanius nur seine Position, sei es in der Kirche oder unter den Gläubigen, festigen wollte. Nichtsdestoweniger konnte auch Theoderich von seinem Vorschlag profitieren. Epiphanius erinnerte an die mehr als tausend italienischen Bauern, die von den brandschatzenden Burgundern unter König
Gundobad verschleppt worden waren. Deren Auslösung aus der Gefangenschaft und Heimführung würde, so Epiphanius, Theoderich viele Freunde gewinnen. Er selbst, Epiphanius, würde sich als Unterhändler zur Verfügung stellen.
Theoderich akzeptierte diesen Vorschlag nicht nur, sondern gab Epiphanius zudem noch eine berittene Zenturie und
genügend Gold als Lösegeld mit auf den Weg. Außerdem
vertraute er dem Bischof seine Tochter Arevagni an, die er König Gundobads Sohn, dem Kronprinzen Sigismund, zur
Frau anbieten sollte.
»Was soll das, Theoderich?« protestierte ich. »Gundobad hat dich hinterrücks überfallen und ausgeraubt, während du in einen Krieg verwickelt warst. Du selbst hast ihn als den feigen Sohn einer räudigen Hündin beschimpft. Der Mann hat eine Lektion verdient, eine gewaltsame Lektion. Aber nein, nicht genug, daß du ihm ein Lösegeld für die Heimkehr der Gefangenen anbietest. Du willst ihn auch noch zum
Schwiegervater deiner königlichen Tochter machen?«
»Arevagni ziert sich nicht«, entgegnete er mir geduldig.
»Warum also du? Irgendwann muß das Mädchen irgend
jemanden heiraten. Sigismund wird dereinst König eines stolzen Volkes werden - eines Volkes, das an Italiens
nordwestlicher Grenze lebt. Denk nach, Saio Thorn. Je
besser es diesem Land geht, und das ist schließlich mein Ziel, desto mehr wird es habgierige Fremdlinge anziehen.
Indem ich die anderen Könige, besonders die Söhne von
räudigen Hündinnen, zu meinen Verwandten mache,
verringere ich die Gefahr, daß sie meine Feinde werden.
Väi, ich wünschte nur, ich hätte mehr Nachkommen, für die ich vorteilhafte Heiraten arrangieren könnte.«
Nun, es war Theoderichs Reich, und Arevagni war seine
Tochter, die er verheiraten konnte, wie es ihm beliebte. Mir blieb nichts als einzusehen, daß in der Kunst der
Staatsführung der Zweck die Mittel heiligt, und Theoderich, wie jeder andere Herrscher auch, diese Kunst beherrschen mußte.
Fortuna, die Schicksalsgöttin, war Theoderich in jener Zeit wohlgesonnen. Dafür geizte sie mir gegenüber mit ihrer Gunst um so mehr. Man hätte fast glauben können, Bischof Johannes' Drohung, ich würde für die Mißhandlung des
geheiligten Severin bestraft werden, bewahrheitete sich.
Hatte er mich mit einer christlichen Version der Insandijs der Alten Religion, mit einem Fluch, belegt?
Folgendes hatte sich zugetragen: Obwohl wir nie
herausfanden, wer die Verräter waren, die Odoaker und
Ravenna vom Meer her mit Vorräten versorgt hatten, war ich doch zufrieden mit mir selbst, weil ich den Exilanten erwischt hatte, der für die falschen Salzzüge verantwortlich war.
Zenturio Gudahals war es, der den alten Georgius
Honoratus aus Haustaths anschleppte. Georgius, nicht zu unrecht um sein Wohl fürchtend, war bei guter Gesundheit.
Wenn seine Haare, seine Haut, ja, sein Geist schon seit jeher grau waren, dann waren sie es jetzt um so mehr. Ich bezweifle, daß ich ihn ohne weiteres wiedererkannt hätte. Er jedenfalls erkannte mich nicht, und ich wechselte kein Wort mit ihm, sondern befahl, daß er im Kerker von Ravenna zur Vernehmung durch mich bereitgehalten würde. Ich
gratulierte Gudahals zu seiner guten Arbeit und meinte, damit habe er seine früheren Fehler wettgemacht.
»Das hoffte ich, Saio Thorn«, erwiderte er. »Übrigens, wir haben auch die Helfershelfer des Verräters, nach denen Ausschau zu halten Ihr mir ebenfalls aufgetragen habt, gefunden. Ein Händler und seine Frau. Wir haben sie
praktisch auf frischer Tat ertappt und an Ort und Stelle hingerichtet. Genauso, wie Ihr es befohlen hattet, Saio Thorn.«
»Genauso, wie ich es befohlen hatte«, wiederholte ich mit plötzlich verzagtem Herzen. Ich erinnerte mich daran, was Georgius' Sohn mir erzählt hatte. Seine Schwester hatte einen Händler geheiratet und mit ihm die Hallstatt verlassen.
»Das Ehepaar«, fragte ich, »wie hießen die?«
»Der Händler nannte sich Alypius. Er hatte einiges
Vermögen, Läden, Ställe, eine Schmiede. Er versorgte die Handelszüge, die über die Alpen zogen. Georgius erwähnte später, daß Alypius' Frau Livia geheißen hätte. Ich bin sicher, er hat noch mehr zu erzählen, Saio Thorn. Aber wir haben ihn nicht weiter vernommen, denn Ihr hattet befohlen, ihn nicht zu mißhandeln.«
Diese Nachricht erschütterte mich so sehr, daß ich nicht einmal Georgius im Kerker aufsuchte, weder um mich an
seinem Anblick zu weiden noch um ihn zu fragen, warum er seine Familie für den Dienst an Odoaker eingespannt hatte.
Erst als es zu spät war, fielen mir ein paar Fragen ein, die ich ihm hätte stellen können. Vielleicht weil es meine Schuld war, daß das Leben seiner Tochter so vorzeitig zu einem Ende gekommen war, interessierte ich mich dafür, was für einen Mann sie geheiratet und wie ihr Leben ausgesehen hatte. Aber als ich Georgius in der Mühle, in der er zum Sklavendienst eingeteilt war, aufsuchen wollte, war er schon gestorben und seine unwürdigen Überreste unter der Erde -
an demselben unheiligen Ort, an dem auch Odoakers
Gebeine ruhten, auf jenem Friedhof, der an die jüdische Synagoge angrenzte.
Auch die Tatsache, daß die fränkische Prinzessin
Audefleda jetzt in Ravenna lebte, konnte meine Stimmung nicht heben. Sie war mit ihrer schönen Figur und dem von einer Kaskade blonden Haars umrahmten Gesicht, in dem
ihre blauen Augen glänzten, auffällig hübsch. Ihre Haut hatte die Farbe von Elfenbein, und ihr Busen war wohlgeformt.
Auch ihre Sprache und ihr Benehmen machten ihrem
königlichen Stand alle Ehre. Dabei protzte sie mit ihrer Schönheit keineswegs. So zuvorkommend und großzügig
wie mich behandelte sie alle Angehörigen des Hofes - bis hinunter zu den Dienern und Sklaven. Audefleda würde, kurz gesagt, die ideale Königin an Theoderichs Seite sein.
Das letzte Mal, als wir uns vor seiner Hochzeit
unterhielten, sagte Theoderich: »Thorn, ich kenne deine vagabundierende Natur. In der Zwischenzeit habe ich so viele Marschälle ernannt, um auf Dauer in jeder Stadt von Bedeutung einen zu stationieren. Soas etwa wird als mein Statthalter in Mediolanum dienen. Aber dich, Thorn, bitte ich, mein reisender Statthalter zu sein, so, wie du es auch bisher gewohnt warst. Reise durch Italien, in ferne Länder, wohin immer es dich zieht, und erstatte mir Bericht über alle Vorgänge, die für mich von Wichtigkeit sein könnten. Wäre das nicht eine Aufgabe nach deinem Gefallen?«
Natürlich war es das, aber etwas steif erwiderte ich: »Ich erwarte, Befehle von meinem König zu erhalten, keine
Gefallen.«
»Nun gut. Zuerst solltest du dich nach Rom begeben,
denn ich habe noch nicht entschieden, wer dort mein
Vertreter sein soll. Und es wird noch eine ganze Zeit dauern, bis ich selbst gehen kann. Komm zurück und berichte mir...
nun... alles, was ich über Rom wissen muß.«
Ich grüßte und sagte: »Ich mache mich sofort auf den
Weg.«
Ich hatte »sofort« gesagt, um eine annehmbare
Entschuldigung für meine Abwesenheit am Hochzeitstag zur Verfügung zu haben. Denn von Herizogo Thorn, dem
verläßlichen Marschall und guten Freund des Königs, hätte sonst jeder erwartet, daß er einen prominenten Platz unter den Gratulanten und Gästen an diesem glücklichen Tag
einnehme.
2
Kurz nach Sonnenuntergang ritten ich und die wenigen
Soldaten, die mich begleiteten, auf der Via Nomentana in die nördlichen Bezirke Roms ein. An einer Taverne mit einem großen Hof und einem Stall für die Tiere ließ ich für die Nacht Halt machen. Als wir die Taverne betraten, begrüßte mich der Wirt zu meiner großen Überraschung aufs
herzlichste: »Hails, Saio Thorn!«
Verwirrt blieb ich stehen, als er mit ausgestreckter Hand auf mich zukam. »Ich habe mich schon gefragt«, sagte er,
»wann endlich meine Leute hier ankommen werden.« Jetzt erkannte ich ihn. Er war Ewig, ein berittener Soldat, den ich in Bononia, wo ich ihn zum letzten Mal gesehen hatte, dem südwärts fliehenden Tufa auf die Fährte gesetzt hatte.
Zuerst war ich etwas verblüfft, denn Ewig hatte mich damals als Veleda kennengelernt. Aber dann sagte ich mir, daß er den Marschall Thorn vom Sehen her noch viel länger
kennen mußte.
Wir reichten uns auf die römische Art die Hände, während er ohne Unterlaß weiterfaselte. »Ich brach in Freudenschreie aus, als ich hörte, daß der verruchte Tufa tot war. Ich wußte, es war Euer Werk, Saio Thorn. So hatte es die Dame Veleda versprochen. Ach ja, wie geht es der edlen Dame?«
Ihr ging es gut, versicherte ich ihm. Aber auch er,
bemerkte ich ihm gegenüber, schien nicht schlecht
dazustehen, zumindest für einen gemeinen Soldaten auf
Spähdienst.
»Ja. Die Dame Veleda trug mir auf, hier in der Gegend zu bleiben und die Augen offenzuhalten. Was ich seitdem von hier aus auch getan habe. Doch mir schien, es könne nicht schaden, sich auch anderweitig umzusehen. Als der Wirt dieser Herberge starb, verlor ich keine Zeit, seine Witwe zu umwerben. Wie Ihr seht, sind die Taverne, sie und ich
selbst« - dabei tätschelte er sein Bäuchlein - »damit ganz gut gefahren.«
Wir, meine Eskorte und ich, quartierten uns bei Ewig ein.
Ewig, der inzwischen fließend Lateinisch sprach und sich in der Stadt gut auskannte - zumindest in jenen Teilen, die einem Gemeinen zugänglich waren - übernahm hocherfreut die Rolle meines ortskundigen, wohlbewanderten Führers durch Rom. Er zeigte mir all jene Monumente und
Wahrzeichen, die jeder Besucher der Stadt einmal gesehen haben muß - und ebenso viele Plätze, von deren Existenz die meisten Besucher keine Ahnung haben. Etwa das
Subura-Viertel, wo einem Gesetz zufolge alle Prostituierten leben müssen. Ich will mich nicht damit aufhalten, die zahllosen Bauwerke und Aussichten zu beschreiben, die
sowieso jeder, auch wenn er noch nie in Rom war, kennt.
Wer etwa weiß nicht, wie das Amphitheater Flavians
aussieht, im Volksmund auch Kolosseum genannt, nach
dem Koloss Neros, der unmittelbar davor in die Höhe ragt.
Hier finden Spiele, Vorführungen, Spektakel und
Wettkämpfe von Ringern, Faustkämpfern und bewaffneten
Männern mit wilden Bestien statt.
Mehr als einmal nahm Ewig mich mit, wenn er mit seinem kleinen Eselskarren dies und das für seine Taverne
besorgen ging. So gut wie nie erledigte er seine
Besorgungen auf den großen Marktplätzen der Stadt, und die Personen, die er mir vorstellte, kamen mir nicht gerade besonders ehrbar vor. Oft führten ihn seine Wege in die Straße des Janus, in der es vor Wucherern, Geldwechslern und Pfandleihern nur so wimmelt; oder in das Viertel, wo die Warenhäuser Pfefferlager genannt werden, obgleich dort weit mehr als nur Pfeffer feilgeboten wird. Ab und zu sah man uns auch auf der Via Nova, wo Roms eleganteste
Geschäfte die allerfeinsten Güter anbieten. Allerdings wickelte Ewig seine Geschäfte hier an den Hintertüren ab.
Meistens jedoch tätigte er seine Einkäufe an den Ständen bei den Bootsanlegestellen unten im Hafen.
Nach einiger Zeit hatte Ewig mir alle Teile der Stadt
gezeigt, die er kannte, und mir das einfache Volk Roms vorgestellt, von räuberischen Seemännern über
verschlagene Pfandleiher bis hin zu den käuflichen Frauen.
Jetzt war es, so entschied ich, an der Zeit, Roms
Oberschicht zu erkunden. Ich erfragte den Wohnort von
Senator Festus, der in einer der imposanten Villen entlang der Via Flamina residierte. Das Wort »Villa« bezeichnet eigentlich einen Landsitz, und vielleicht hatte einst sogar offenes Land Festus' Haus umgeben. Aber das Wachstum
Roms hatte schon vor langer Zeit die Stadtmauern weit über diesen Ort hinausgeschoben. Nur noch der Name
»Marsfelder« gemahnte an diese vergangene Zeit, längst schon war der freie Platz zwischen der Via Flamina und dem Tiber eng mit vornehmen Häusern bebaut.
Der Senator begrüßte mich herzlich - natürlich als »Torn« -
sandte Sklaven nach Süßspeisen und Wein. Eigenhändig
schenkte er mir Wein vom Berg Massicus ein, den er mit mosylonischem Zimt, dem besten, nur von den Spitzen
gepflückten Zimt, würzte. Die Villa, eher schon ein kleiner Palast, war aufs reichste ausgestattet mit Standbildern und Seidenvorhängen. Die Fenster waren aus marmornen
Gittern gearbeitet, in deren Zwischenräume blaue, grüne und violette Glassteine eingesetzt waren. An den Wänden des Raumes, in dem wir uns unterhielten, befanden sich vier Mosaike, auf denen die vier Jahreszeiten dargestellt waren: Die Blumen des Frühlings, die sommerliche Kornernte, die Weinlese im Herbst und das Beschneiden der Olivenbäume im Winter. In einem aber unterschied sich die Villa nicht einmal von den schäbigsten Hütten unten am Hafen: Hier wie dort hingen feuchte, die heißen Sommerwinde kühlende Matten an den Eingängen.
Festus erbot sich, dem Marschall und Botschafter des
Königs eine angemessene Unterkunft zu besorgen.
Innerhalb weniger Tage konnte ich ein Stadthaus in der Vicus Jugarius beziehen, der Straße, wo vor ihrem Umzug nach Ravenna die Abgesandten der fremden Mächte
residiert hatten. Das Haus war weder ein Palast noch eine Villa, aber für meine Ansprüche luxuriös genug, und hatte gesonderte Unterkünfte für die Haussklaven, bei deren Kauf mir Festus ebenfalls behilflich war. (Etwas später erwarb ich ohne den Beistand von Ewig oder Festus in einem
Wohnviertel jenseits des Tiber, auf der anderen Seite der aurelianischen Brücke, ein etwas bescheideneres Haus, das Veledas Refugium in Rom sein sollte.)
Festus stellte mich anderen Römern aus seinen Kreisen
vor. Einmal begleitete er mich zu einer Sitzung des Senats in die Kurie, ein Ereignis, das ich, so versicherte er mir, beeindruckend finden würde. Wie jeder Provinzler stellte ich mir unter einer Senatssitzung eine Angelegenheit größter Feierlichkeit und Bedeutung vor. Ich wurde aber enttäuscht und fand das Ganze äußerst langweilig. In den Reden ging es um unwichtige Nebensächlichkeiten, und selbst die
törichtsten, langatmigsten Vorträge wurden mit Ausrufen wie
»Gut gesagt!«, »Vere diserte!« und »Nove diserte!« von allen Rängen begrüßt.
Was diese Sitzung für mich rettete, war, daß Senator
Festus selbst sich erhob und einen Antrag stellte: »Ich bitte diese Zusammenkunft der Senatoren und Götter...«
Die Vorrede zog sich in die Länge und unterschied sich darin von keiner der anderen Reden, die ich an diesem Tag vernommen hatte. Aber dann beantragte Festus, die
Oberherrschaft des Flavius »Teodericus« Rex über Rom
anzuerkennen. Der Vortrag wurde von allen Anwesenden
pflichtbewußt mit »Vere diserte!« und »Nove diserte!«
gelobt, selbst von den Senatoren, die, als Festus ein
Zeichen des »Willens von euch Senatoren und von den
Göttern« erbat, dagegen stimmten. Der Antrag wurde mit einer bequemen Mehrheit (der Senatoren, die Götter hatten offensichtlich vorgezogen, sich der Stimme zu enthalten) angenommen. Der Segen des Senats mochte zwar wenig
wert sein, aber mir gefiel, daß er dem Erzbischof von Rom ganz erheblich mißfiel. Das nämlich fand ich an einem der nächsten Tage während einer Audienz beim Erzbischof
heraus, die Festus arrangiert hatte.
Vor Gelasius' Kirche, der Lateranbasilika, wurde ich von einem der Kardinaldiakone erwartet, dessen Bekanntschaft ich bereits in Ravenna gemacht hatte. Er geleitete mich zum Audienzraum des Bischofs und wies mich ernsthaft an: »Es wird erwartet, daß Ihr den souveränen Pontifex mit
›glorissimus patricius‹ ansprecht.«
»Das werde ich nicht tun«, antwortete ich kalt.
Der Diakon schnappte nach Luft, aber ich ignorierte ihn einfach. In meiner Kindheit hatte ich als Schreiber von Dom Clement viele seiner Briefe an andere Erzbischöfe
geschrieben und kannte daher die traditionelle Anrede -
Auctoritas. Zu mehr wollte ich mich nicht herablassen.
»Auctoritas«, begrüßte ich ihn, »ich bringe Euch Grüße von meinem Souverän, König Flavius Theodericus. Ich habe die Ehre, sein Stellvertreter in dieser Stadt zu sein, und ich biete Euch meine Dienste an, die Botschaften, die Ihr ihm übermitteln möchtet -«
»Übermittelt ihm meine Grüße«, unterbrach er mich
frostig. Dann raffte er seine Robe, gerade so, als ob er die Unterhaltung für beendet hielte.
Gelasius war ein großgewachsener, hagerer Greis, blaß
wie Pergament und von sehr asketischem Äußeren. Seine
Gewänder aber waren alles andere als asketisch, sondern üppig, aus weicher Seide, reich bestickt und gänzlich anders als die einfachen braunen Roben aus Bauernleinen, die der Klerus normalerweise, vom einfachsten Mönch bis hinauf zum Erzbischof von Konstantinopel, trug.
Beim Gedanken an den Erzbischof von Konstantinopel fiel mir der Streit ein, der zwischen ihm und Gelasius schwelte.
»Mein König«, griff ich den Gedanken auf, »würde sich sehr glücklich schätzen, wenn er von Euch, Auctoritas, hören würde, daß Ihr und Erzbischof Akakios Eure
Auseinandersetzung beigelegt habt.«
»Ohne Zweifel würde ihn das beglücken«, fauchte
Gelasius, »und seiner Anerkennung durch den Kaiser
förderlich sein. Doch wozu braucht Theoderich das
überhaupt noch? Hat ihn nicht erst gestern dieser
kleingeistige, kriecherische, stiefelleckende Senat
anerkannt? Ich sollte über jeden Christen im Senat den Kirchenbann verhängen. Sollte jedoch Theoderich mir einen Gefallen tun wollen, dann braucht er nichts weiter zu tun als meine Kritik an Akakios wegen dessen Laxheit hinsichtlich der verderblichen Monophysiten zu unterstützen.«
»Auctoritas, Ihr wißt, daß Theoderich sich in religiöse Angelegenheiten nicht einmischt.«
»Und ich weigere mich, in Angelegenheiten der Doktrin
einem rangniedrigeren Bischof nachzugeben.«
»Rangniedriger?« So taktvoll wie nur möglich wies ich
darauf hin, daß Akakios schon über zehn Jahre Erzbischof gewesen war, als Gelasius erst in diesen Stand erhoben wurde.
»Was fällt Euch ein, uns zu vergleichen? Konstantinopel und Rom? Das hier« - mit einer Handbewegung umfaßte er das Gebäude, in dem wir uns befanden - »ist die
Mutterkirche des gesamten Christentums.«
»Ist das«, fragte ich sanft, »auch der Grund dafür, warum Ihr Euch ein auffälligeres Gewand für die Liturgie zugelegt habt?«
»Warum nicht«, schnappte er, als habe ich ihn scharf
kritisiert. »Jene, die in ihrer Tugendhaftigkeit einmalig sind, sollten das auch im Reichtum ihrer Gewänder sein.«
Ich schwieg, und er fuhr fort: »Auch meine
Kardinaldiakone und Priester sollen, wenn sie ihrem Papst Ergebenheit beweisen, nach und nach mit schöneren
liturgischen Gewändern belohnt werden.«
Ich schwieg noch immer, also setzte er seinen Monolog
fort: »Schon lange bin ich der Überzeugung, das
Christentum - Gewänder, Rituale, Devotionalien - sei im Vergleich zu den heidnischen Religionen zu unscheinbar, zu farblos. Kein Wunder, daß die Heiden das Bauernvolk, das jede Belustigung und allen Prunk, der ein bißchen
Abwechslung in sein armseliges Leben bringt, so leicht verführen können. Und die vornehmen Bürger, wie kann
man von ihnen erwarten, Unterweisungen oder
Ermahnungen von Priestern entgegenzunehmen, die
aussehen wie gemeiner Bauernpöbel? Wenn das
Christentum die heidnischen und häretischen Kulte
übertrumpfen möchte, dann müssen unsere Kirchen,
Priester und Zeremonien die ihren an Großartigkeit
überbieten. So hat schon der Schutzheilige dieser Kirche, der Heilige Johannes, gesagt: ›Du hast den guten Wein
bisher behalten.‹ Da es nichts gab, was ich hätte sagen können, um Gelasius' Opposition gegen seinen bischöflichen Bruder oder den Häretiker Theoderich zu besänftigen,
verließ ich ihn, ohne ihn jemals wieder zu sehen.
Als er ein Jahr später starb, weinte ich ihm keine Träne nach. Sein Nachfolger war ein weniger verbitterter Mann.
Falls er und Akakios sich in Fragen der Kirchendoktrin unterschieden, dann gelang es ihnen, diese Differenzen zu überwinden. Die Tatsache, daß der neue Erzbischof von
Rom den Namen Anastasius II. annahm, war meiner
Meinung nach bloßer Zufall. Selbst wenn es Absicht
gewesen sein sollte, glaube ich kaum, daß es dem Kaiser gleichen Namens in Konstantinopel sonderlich
geschmeichelt hätte. Nichtsdestoweniger proklamierte der oströmische Kaiser Anastasius kurz darauf die Anerkennung von König Theoderich und übersandte ihm die kaiserlichen Insignien - das Diadem, die Krone, das Zepter, Reichsapfel und Wagen - jene kaiserlichen Insignien, die Odoaker Zenon vor dreizehn Jahren hatte aushändigen müssen.
Theoderich blieb trotz der weltweiten Anerkennung seiner Regentschaft bescheiden. Er begnügte sich immer noch mit dem Titel des Flavius Theodericus Rex. Er nahm aber nie für sich in Anspruch, der König von irgend etwas zu sein, weder eines Landes noch eines Volkes. Weder auf den Münzen,
die zu seiner Zeit geprägt wurden, noch auf den
Widmungstafeln, die an vielen unter seiner Herrschaft
errichteten Bauwerken angebracht wurden, ließ er sich als König darstellen, weder als König Roms noch Italiens, noch des westlichen Imperiums, ja, noch nicht einmal als der der Ostgoten. Theoderich zog es vor, seiner Herrschaft durch Taten und Werke Ausdruck zu verleihen.
Als ich nach Rom kam, hatte ich natürlich angenommen,
die Stadt sei durch und durch christlich. Bald aber schon hatte ich feststellen müssen, daß Rom nur zum Teil christlich war, denn nur die Handwerker und Händler (mit Ausnahme der jüdischen) glaubten an den Gott der Christen. Ewig und die meisten anderen Fremden in der Stadt waren
arianischen Glaubens, mithin Häretiker. Und fast alle
einfachen Bürger, die Ewig mir vorstellte, glaubten, falls sie überhaupt irgendeiner Religion folgten, an die heidnischen Götter, Göttinnen und Geister des römischen Pantheons.
Am meisten überraschte mich, daß auch die Mehrheit der Patrizier und viele Senatoren, die Festus mir vorstellte, unbekehrbare Heiden waren. Vor dem Erstarken von
Konstantinopel hatte Rom neben seiner eigenen formlosen Religion die sogenannten »religiones licitae« anerkannt, das heißt die aus Ägypten importierte Anbetung der Isis, die aus Syrien gekommene Verehrung der Astarte, den aus Persien stammenden Mithraismus und den jüdischen Glauben an
Jehova. Diese Religionen, obwohl vom Staat mit Mißfallen betrachtet und von den christlichen Priestern mit aller Macht bekämpft, waren alles andere als ausgerottet oder
todgeweiht.
Nicht daß irgend jemand wirklich an irgend etwas geglaubt hätte. Wie auch die römische Nobilität in Vindobona sahen die Römer hier in den Religionen wenig mehr als nur einen Zeitvertreib, mit dem sie sich in ihren Mußestunden
vergnügten. An einem Tag beteten sie diesen, am nächsten Tag jenen Gott an, und zwar nur, um so viele Feste und Convivas wie möglich feiern zu können. Dabei schienen die römischen Edlen, egal welcher Religion auch immer sie
angehörten, die müßiggängerischen und indezenten
Aspekte am höchsten zu schätzen. In vielen Eingängen
konnte man die Statue der Göttin Murtia sehen. Um
hervorzuheben, daß Murtia die Göttin der Faulheit und des Müßiggangs war, ließen die Gärtner der Familien die
Statuen mit Moos überwuchern. Der Senator Symmachus,
gleichzeitig »urbis praefectus«, Gouverneur Roms, ein
äußerst respektierter Patrizier und Illustris, hatte im Vorhof seiner Villa eine Statue von Bacchus aufgestellt. Dieser Bacchus protzte mit einem überlebensgroßen, hoch
aufgerichteten Glied. Darunter stand geschrieben
»Rumpere, invida!«
Mir waren solche Dinge ja keineswegs fremd oder
unangenehm, und so gefiel mir die Gesellschaft dieser freien und lebenslustigen Menschen. Vier der Männer, die ich hier traf, sollten hohe Beamte in Theoderichs Regierung und enge Berater von ihm werden hauptsächlich wegen ihrer
Talente, aber zum Teil auch, weil ich sie mochte und sie ihm empfohlen hatte.
Einer davon, Anicius Manilus Severinus Boethius, war, wie sein Name schon andeutet, Abkömmling einer der ersten
Familien Roms, der Anicii. Er war gutaussehend,
vermögend, witzig und mit einer schönen und
temperamentvollen Frau namens Rusticana verheiratet.
Obwohl Boethius nur halb so alt war wie ich, als ich ihn kennenlernte, erkannte ich sofort seine überaus große
Intelligenz und Begabung. Er enttäuschte die in ihn
gesetzten Erwartungen nicht und stieg auf zu Theoderichs Magister officiorum, dem höchsten Beamten in der
Verwaltung. Auch ansonsten war Boethius nicht müßig. Er übersetzte über dreißig wissenschaftliche und
philosophische Werke aus dem Griechischen ins
Lateinische, darunter Bücher von Ptolemäus über
Astronomie, von Euklid über Geometrie, Phytagoras'
Abhandlungen über die Theorie der Musik und Aristoteles'
Betrachtungen über die gesamte Schöpfung. Boethius'
Privatbibliothek (deren Wände aus Glas und Elfenbein
gefertigt waren, ein angemessenes Behältnis für den darin enthaltenen Schatz) war umfassender als jede andere, die ich jemals zu Gesicht bekommen hatte. Doch war er kein staubbedeckter Gelehrter, er war auch ein überaus
geschickter Konstrukteur und Handwerker. Aus Anlaß
irgendeiner Festlichkeit beispielsweise entwarf und baute er für Theoderich eine fein gearbeitete, ornamentierte
Standuhr, ein geniales, kompliziertes Himmelsgewölbe mit einer Sonnenuhr, auf der eine Statue des Königs von einer einfallsreichen Mechanik so bewegt wurde, daß er sich
immer der Sonne zuwandte. Wahrscheinlich verdankte
Boethius seine literarische Neigung dem Präfekten und
Senator Symmachus. Symmachus, Autor einer
siebenbändigen Geschichte Roms, hatte Boethius, der
schon als Kind seine Eltern verloren hatte, aufgenommen und erzogen. Später adoptierte er ihn und blieb sein
lebenslanger Freund und Mentor. Der gute Symmachus
hatte schon Odoaker als Roms Urbis praefectus gedient, war ihm aber als Abkömmling einer edlen, reichen und
unabhängigen Familie auf keine Weise verpflichtet gewesen.
Theoderich beließ Symmachus im Amt, bis er einige Jahre später vom Senat zum Princeps Senatus, dem höchsten
Senatsmitglied, erhoben wurde und der Senator sich
entschied, sich von nun an ausschließlich diesem Ort zu widmen.
Auch Cassiodor Pater war, wie Symmachus, schon von
Odoaker eingesetzt worden. Theoderich behielt ihn ebenfalls im Amt, aus dem einfachen Grund, daß es dafür keinen
besseren gab. Eigentlich nahm Cassiodor die Aufgabe von zwei Beamten gleichzeitig wahr, einmal als Comes rei
privatae und als Comes sacrarum largitionum. Das
bedeutete nicht mehr und nicht weniger, als daß er allein für die gesamten Finanzen, Steuereinnahmen und Ausgaben
der Regierung verantwortlich war.
Cassiodor Filius, sein Sohn, war im gleichen Alter wie Boethius und wurde von Theoderich zu seinem Schreiber
und Schatzmeister bestellt. Er verfaßte die gesamte offizielle Korrespondenz und die zu veröffentlichenden Dekrete.
Cassiodors Stil war sehr blumig und wortreich - und das war auch der Grund, warum Theoderich ihn verpflichtet hatte.
Jene »non possumus«-Erklärung bezüglich der Religionen, die Theoderich in der ihm eigenen, direkten Art abgefaßt hatte, war so ablehnend aufgenommen worden, daß er es
aus politischen Überlegungen heraus für angebracht hielt, sich in seinen Erklärungen fürderhin einer hochtrabenden Sprache zu befleißigen.
Diese (und noch etliche andere) gelehrten und fähigen
Römer, bildeten eine Regierung von so viel Intelligenz, Belesenheit und Tatkraft, wie man es seit den goldenen Tagen des Marcus Aurelius nicht mehr erlebt hatte.
3
Mit fähigen römischen Männern in der Verwaltung und
verläßlichen gotischen Waffenbrüdern, die sich um die
inneren Belange des Reiches kümmerten, konnte
Theoderich schon früh seine Aufmerksamkeit auf die
Absicherung der äußeren Grenzen konzentrieren und
potentiell gefährliche Könige verwandtschaftlich an sich binden. Glücklicherweise war Theoderich mit heiratsfähigen weiblichen Verwandten reich versehen. Durch die
Vermählung seiner Tochter Arevagni mit dem Prinzen
Sigismund hatte er die herrschende Familie Burgunds an sich gebunden, und seine eigene Hochzeit mit Audefleda hatte ihn zum Schwager des fränkischen Königs Clovis
gemacht. Jetzt verheiratete er kurz nacheinander seine verwitwete Schwester Amalafrida mit dem Vandalen-König Thrasamund, seine jüngere Tochter Thiudagotha mit dem
Westgoten Alarich II. und seine Nichte Amalaberga mit
König Hermanafrid vom Volk der Thüringer.
Als Amalaberga sich auf den Weg in die nördlichen Lande von Thüringen machte, begleitete ich ihren Zug ein gutes Stück, denn ich wollte meinem Hof in Novae, den ich so lange vernachlässigt hatte, einen Besuch abstatten. Diese Reise, und weitere Reisen, die mich über die Jahre nach Novae führten, unternahm ich aus einem ganz bestimmten Grund. Überflüssig zu sagen, daß ich, da dieses Anwesen mein erstes richtiges Zuhause gewesen war, so etwas wie Heimweh verspürte und die Zeit dort stets genoß. Doch
abgesehen von solch sentimentalen Gefühlen führte ich
ganz pragmatische Absichten im Schilde.
Ich war mir sicher gewesen, meinen Besitz gut geführt, ertragreich und blühend vorzufinden, und wurde auch nicht enttäuscht. Meine freien Pächter und die Sklaven hatten sich in Abwesenheit ihres Herren nicht zum Müßiggang oder
Schlendrian hinreißen lassen. Der Hof war in glänzendem Zustand, und erfreut fand ich in den Aufzeichnungen meiner Verwalter viele Gewinne und nur wenige Verluste
verzeichnet. Und das war der Grund, aus dem ich
zurückgekommen war. Mit meinen fähigen Verwaltern und
Arbeitern wollte ich aus der Ausbildung und dem Verkauf von Sklaven ein Geschäft machen. Sklaven, die so geschickt und fähig wie meine eigenen waren.
»Meine Sklaven werden zu gut für Rom sein«, sagte ich zu Meirus. »Man wird mich noch anklagen, die Moral Roms zu untergraben.«
»Welche Moral?« lachte Meirus laut los.
Er war immer noch derselbe alte Schlamm-Mann.
Inzwischen mußte er wirklich alt sein, dachte ich, aber sein wallender Bart war tiefschwarz wie eh und je, und auch sein essigsaures Temperament war durch das Alter nicht milder geworden. Wenn sich überhaupt etwas an ihm verändert
hatte, dann nur, daß er noch korpulenter geworden war und feinere Kleider und viele Ringe an seinen Fingern trug. Das, so sagte er, verdankte er seinem zunehmenden Reichtum, den er seinem Erfolg im Bernsteinhandel zu verdanken
hatte. Der wiederum wäre ohne seinen Geschäftspartner
Maghib (sein Partner jetzt!) an der Bernsteinküste nicht möglich geworden.
Auf dem Sklavenmarkt von Novae hatte ich nur sehr
wenige junge Sklaven gefunden, die meinen Ansprüchen
genügten. Auch in Prista und Durostorum war es nicht
anders gewesen. Die Hafenstädte an der unteren Donau
boten einfach eine zu geringe Auswahl. Deshalb hatte ich den ganzen Weg hinunter nach Novidunum auf mich
genommen, denn hier, an der Küste des Schwarzen Meeres, fand ein schwunghafter Sklavenhandel statt. Und natürlich hatte ich es mir nicht nehmen lassen, bei dem alten Meirus vorbeizuschauen.
»Was du tun mußt«, fuhr er fort und goß uns beiden Wein ein, »ist folgendes: Lehre deine Sklaven ihr Handwerk so gut, daß ihr Herr, wenn er sie mit seiner Frau im Bett erwischt, nicht sie, sondern seine Frau davonjagt.«
»Ich hoffe, sie so weit zu bringen. Die Jungen und
Mädchen, die ich bereits gekauft habe, habe ich schon
meinen eigenen Bediensteten in die Lehre gegeben, dem
Kellermeister, dem Hausverwalter, dem Notar und so weiter.
Jedes Kind dorthin, wo es die Anlagen, die ich an ihm
feststellen konnte, am besten wird entfalten können. Doch wünschte ich, jeder Tutor würde mit mehreren Kindern
gleichzeitig arbeiten. Aber in den Städten am Fluß war das Angebot zu dürftig.«
»Hier bist du am richtigen Ort. In Noviodunum finden sich Sklaven jeder Größe, jeden Alters und jeder Hautfarbe.
Männer, Frauen und Eunuchen. Perser, Chasaren, Myser
und Tscherkessen. Alles, wovon du jemals gehört hast und wahrscheinlich noch mehr. Hast du irgendwelche Vorlieben?
Die Tscherkessen sind die hübschesten, sagt man.«
»Ich will nur, daß sie jung sind - höchstens im Jugendalter verständig, robust und noch nicht ausgebildet, billig also. Ich handle nicht mit Konkubinen, Lustknaben oder sonstigem Spielzeug. Was ich brauche, ist guter Rohstoff, den meine Akademie behauen, formen und polieren kann.«
»Schon verstanden. Laß uns morgen die Sklavenmärkte
besuchen. Ich bin sicher, du wirst eine ganze Schiffsladung voll flußaufwärts mitnehmen können. Ich könnte dein
Spürhund hier in Noviodunum sein und dich mit dem besten Material versorgen. Wenn wir schon davon sprechen, erst kürzlich trafen auf dem Sklavenmarkt zwei oder drei junge Frauen von einem Volk aus dem fernen Osten, den
Chinesen, hier ein. Klein, zartgliedrig und von gelber Haut -
überall! Ich frage mich, wie so zerbrechliche Wunderwerke solch eine lange Reise überstehen konnten. Doch billig waren sie nicht. Nur eine ist noch in der Stadt. Apostolides, Besitzer des besten Bordells in Noviodunum, hat sie
erstanden. Nach dem Abendessen werde ich dich dort
einführen. Du mußt sie erlebt haben! Das wird zwar nicht billig sein, aber ich versichere dir, es lohnt sich.«
Während wir uns an Austern, Spargel und mit eingelegten Pflaumen gefülltem Hasen, begleitet von cephalischem
Wein, gütlich taten, fragte ich Meirus, wie man hier im Osten Theoderichs Regentschaft über das ehemalige westliche
Reich beurteilte.
»Vai, nicht anders als die Könige und Edelmänner, die
Gemeinen und die Sklaven von hier bis nach Britannien sie beurteilen. Überall wird gesagt, daß unter ihm Rom endlich wieder an die friedlichen und prosperierenden Zeiten unter den fünf guten Kaisern, also von Nerva dem Freundlichen bis zu Marcus dem Goldenen erinnert. Und das ist
vierhundert Jahre her.«
»Es freut mich zu hören, daß er von so vielen geschätzt wird.«
»Sie schätzen seine Regierungskunst, nicht
notwendigerweise ihn selbst. Niemand hat vergessen, wie er Odoaker hinterrücks erschlagen hat. Man ist im allgemeinen der Ansicht, daß seine Berater nur auf Zehenspitzen gehen können, immer auf der Hut vor einem plötzlichen
Schwerthieb.«
»Balgsdaddja«, grollte ich. »Ich bin einer seiner engsten Berater und ich schleiche gewiß nicht auf Zehenspitzen herum.«
»Und dann gibt es noch jene, die ihn ganz offen um seine Erfolge beneiden. Unser Kaiser Anastasius zum Beispiel hat etwas gegen Theoderich. Der nörglerische Anastasius hat zwar gegen alles und jeden etwas, aber es ärgert ihn
ungemein, sich von einem Regenten in Rom überflügelt zu sehen.«
»Glaubst du, Anastasius wird ihm Schwierigkeiten
bereiten?«
»Nicht in nächster Zeit. Dringendere Angelegenheiten
beschäftigen ihn, zum Beispiel das Wiederaufleben des
ewigen Streits mit den Persern an den östlichen Grenzen.
Ne, Theoderichs Schwierigkeiten werden nicht von außen hereingetragen werden, sondern direkt unter seiner Nase ausgebrütet. Nicht ohne Absicht habe ich gesagt, er würde von hier bis Britannien bewundert, denn hier wie dort verfügt die katholische Kirche über wenig Einfluß. In Italien und den restlichen Provinzen jedoch, wo sie Einfluß hat, setzt sie alles daran, Theoderich in Verruf zu bringen und ihm das Leben schwer zu machen.«
»Ich weiß, ich weiß. Es ist schändlich. Warum können die Kirchenmänner ihn nicht einfach in Ruhe lassen, so wie er sie ihn Ruhe läßt?«
»Du hast es gerade gesagt. Eben weil er sie nicht
beachtet. Sie wären glücklicher, wenn er sie verfolgen, sie unterdrücken und verbieten würde. Nichtbeachtung ist für den Klerus ein viel bösartigerer Angriff als offene Verfolgung.
Er nimmt ihnen die Freuden und Ehren des Martyriums. Sie leiden, weil er sie nicht für das Heil ihrer Mutter Kirche leiden läßt.«
»Wahrscheinlich hast du recht.«
»Was noch schlimmer ist, er hat dem Klerus auf einem
Gebiet einen Rückschlag versetzt, wo er sich auf dem
Vormarsch wähnte.«
»Aber er hat doch gar nichts gegen die Kirche
unternommen.«
»Doch, sie erneut übergangen! Anastasius empfing die
Kaiserkrone, die purpurne Robe und die anderen Insignien des Östlichen Reiches aus den Händen des Erzbischofs von Konstantinopel. Anastasius lag hingestreckt zu seinen
Füßen, in der unterwürfigen Position demütigster Verehrung.
Und was hat Theoderich getan? Er hat sich den Thron
erobert, mit der Zustimmung der Massen, gewählt vom
römischen Senat. Im Gegensatz zu Anastasius hat er nicht einen Moment innegehalten, um den Segen Gottes oder
wenigstens den der Kirche zu erbitten. Kein Bischof der arianischen Kirche, von diesem sogenannten Papst ganz zu schweigen, hat ihn gekrönt. Das bedeutet für alle Bischöfe des Christentums einen Rückschlag, und ganz besonders
vergällt es die Seele dessen in Rom.«
Später führte mich Meirus in das Bordell. Das Mädchen
von China erwies sich als solch eine erlesene Köstlichkeit, daß ich halb versucht war, die Sklavenhändler der Stadt für mich nach einer Chinesin Ausschau halten zu lassen. Ihre Hautfarbe und ihr Körper waren so anders, sehr sanft, weich und glatt wie die Seide, die aus ihrem Heimatland zu uns kommt. Sie sprach keine menschliche Sprache, zwitscherte nur wie ein Vogel, ein Makel, den sie mit ihren sexuellen Talenten mehr als wettmachte. Sie war biegsam wie ein
Schlangenmensch - und so eng, wie ich es erwartet hatte, als ich ihren blütengleichen kleinen Mund erstmals erblickte.
Der Herr des Hauses, Apostodiles, versicherte auf meine Rückfrage, daß sie trotz ihrer engen Öffnung nicht, wie westliche Frauen gleicher Physiognomie, widerspenstig sei.
»Nicht im mindesten, Saio Thorn. Man hat mir gesagt, alle Frauen der Chinesen hätten kleine Münder, sowohl oben wie auch unten. Diese, so hat man mir bedeutet, hat einen
größeren Mund als die meisten. Also ist sie von besonders süßem und liebenswürdigem Wesen. Wer weiß, vielleicht
sind ihre schmalmündigeren Schwestern ebenso mißmutig
wie die Frauen hier? Aber, ah! Denkt nur daran, wie eng ihre unteren Öffnungen sein müssen.« Trotzdem entschloß ich mich schließlich, doch keine Chinesin für meinen
Privatgebrauch zu erstehen. Mein Geld war in weniger
frivolen Vergnügungen besser angelegt. So war mein Kahn, als ich Noviodunum verließ, schwer beladen mit Jungen und Mädchen von weniger exotischem Aussehen, größtenteils
Chasare sowie ein paar wenige Griechen und
Tscherkessen. Auf der langen Fahrt flußaufwärts blieb mir viel Zeit, mit ihrer Ausbildung zu beginnen. So beherrschten sie schon die Grundlagen der lateinischen Sprache, als ich sie der Obhut und Sorge meiner Lehrmeister in Novae
übergab.
Auf der inzwischen begradigten und ausgebesserten Via
Popilia kehrte ich nach Ravenna zurück, das viel
ansehnlicher war als früher. Caesarea, die Vorstadt der Arbeiter, zuvor ein schäbiges und verdrecktes Loch, war gesäubert worden. Das Aquädukt versorgte noch die vor
kurzem ausgetrockneten Brunnen und Fontänen mit
Trinkwasser. Und als ob der Fluß des Wassers auch die
Steine, Ziegel und Kacheln zum Wachsen verleitet hatte, wuchsen an vielen Ecken neue und imposante Bauwerke in die Höhe. Besonders ins Auge stachen Theoderichs Palast und die arianische Kirche, die Theoderich Bischof Neon versprochen hatte, obwohl dieser verdiente Mann schon vor längerer Zeit gestorben war.
Das umfassendste, großartigste Projekt aber, das in
Angriff genommen worden war, war jenes, das die Stadt
wirklich bewohnbar machen würde: die Trockenlegung des stinkenden Krankheitsherdes der Sümpfe. Tausende von
Männern und Hunderte von Ochsen häuften Raine auf und
gruben Furchen in das flache Feuchtgebiet, in denen das Wasser aufgefangen und über tiefer liegende Gräben in
dauerhafte Kanäle aus Stein und Eisenstein geleitet werden sollte, die sich schließlich ins Meer ergießen würden. Das war keine Arbeit, die in ein paar Jahren erledigt sein würde.
Noch immer wird daran gearbeitet, und daran wird sich wohl auch noch einige Jahrzehnte nichts ändern. Aber kaum
hatten sich die ersten Ausgräber an die Arbeit gemacht, floß in den zahllosen Kanälen von Ravenna Wasser, das fast so klar und geruchlos war wie jenes, das sich aus den Brunnen und Fontänen ergoß.
Boethius, der junge Magister officiorum, führte mich durch die Stadt und zeigte mir alle Neuerungen. Eine seiner
Pflichten bestand darin, spezialisierte Arbeiter wie
Architekten, Feuerwerker oder Bildhauer oft von weit her anzuwerben.
»Und das«, stolz deutete er auf ein großartiges Bauwerk, an dem noch gearbeitet wurde, »wird Theoderichs
Mausoleum sein. Möge das Schicksal geben, daß es noch
viele Jahre dauern wird, bevor es gebraucht wird.«
Das massive, unerschütterlich wirkende Gebäude bestand aus Marmorblöcken. Das zweistöckige Äußere war
zehneckig, aber der geräumige Innenraum war rund und
sollte noch eine Kuppel aufgesetzt bekommen.
»Keine normale Kuppel«, sagte Boethius. »Ein einziges, massives Stück Marmor, von Bildhauern abgerundet. Dort drüben liegt es. Dieser enorme Fels kam aus den
Steinbrüchen von Istrien. Wenn man ihn wiegen könnte,
würde man herausfinden, daß er mehr als sechshundert
Libramenta wiegt. Welch ein phantastisches Unternehmen, diesen Stein hierher zu schaffen!«
»Darunter wird Theoderich sicher ruhen«, sagte ich, »und genügend Platz finden, um sich im Schlaf zu recken und zu strecken.«
»Er hat nicht vor, dort alleine zu ruhen«, entgegnete
Boethius. »Seinem Willen nach soll das die letzte Ruhestätte aller seiner Nachfahren sein. Doch gerade eben erst hat Audefleda einem Kind das Leben geschenkt. Habt Ihr es
schon gehört? Ja, eine Tochter. Wenn die Königin ihm nicht bald ein paar Söhne gebiert, werden nur Abkömmlinge der mütterlichen Linie oder von einer Seitenlinie neben ihm aufgebahrt liegen.«
Doch das schien Theoderich wenig zu kümmern. Er war
bestens gelaunt, als ich mit ihm speiste und von meinen letzten Reisen und Erlebnissen berichtete.
»Und, Thorn, bist du wieder auf dem Weg zurück nach
Rom? Du könntest ein Mandat von mir überbringen. Wußtest du schon, während deiner Abwesenheit war ich selbst
einmal dort.«
Boethius hatte mir bereits davon berichtet. Theoderich war ein triumphaler Empfang bereitet worden, ein rauschender Umzug. Er war mit ausgefallenen Spielen unterhalten
worden - Wagenrennen im Circus, Kämpfe von Menschen
gegen wilde Bestien im Kolosseum, Vorführungen im
Marcellianischen Theater, Festlichkeiten und Convivas in den vornehmsten Häusern. Der Senat hatte ihn eingeladen, vor dem versammelten Haus zu sprechen. Am Ende seiner
Rede waren alle Senatoren aufgesprungen und hatten ihn laut gepriesen.
»Vor allem aber«, sagte er, »sah ich mit eigenen Augen die langsam voranschleichende Zerstörung der Stadt, die bereits dir so unangenehm aufgefallen war. Nun, ich habe angeordnet, daß jede nur mögliche Maßnahme ergriffen
wird, um die Entweihung dieser künstlerischen und
architektonischen Schätze zu verhindern. Dafür stelle ich Rom jährlich zweihundert Librae Gold zur Verfügung, die nur für die Erhaltung und Instandsetzung von Gebäuden,
Monumenten, Mauern und dergleichen verwendet werden
dürfen.«
»Ich beglückwünsche dich zu deiner Entscheidung«, sagte ich, »aber kann die Schatzkammer eine solche Ausgabe
verkraften?«
»Nun, unser geiziger Comes Cassiodor zog ein Gesicht.
Aber er hat eine Steuer auf importierten Wein erlassen. Das sollte genügen.«
»Dann beglückwünsche ich ihn ebenfalls. Du hast ein
Mandat erwähnt. Hat es mit dieser Sache zu tun?«
»Ja, ich muß eine Unterlassung meinerseits korrigieren.
Als ich zum Senat sprach und diese Unterstützung
ankündigte, sprach ich nur von Bauwerken und Monumenten und dergleichen, vergaß darüber aber die Statuen der Stadt.
Wie du weißt, leiden sie an derselben Schwindsucht. Ich wünsche klarzustellen, daß auch sie mit diesem Geld
restauriert und erhalten werden. Mein Quaestor und
Schreiber Cassiodor Filius ist schon dabei, das Mandat auszuformulieren. Du kannst es bei ihm abholen, Thorn. Und bitte sorge dafür, daß es im Senat verlesen wird. Außerdem soll es im Diurnal ausgehängt und in den Straßen ausgerufen werden.«
Ich begab mich zu dem jüngeren Cassiodor, der mich
lachend aufforderte: »Ihr wollt es vielleicht lesen, bevor ich es versiegle.« Mit diesen Worten schob er mir einen Haufen Papyrus-Rollen herüber.
»Welches davon ist das Mandat?« fragte ich und
durchstöberte den Haufen.
»Bitte?« Er blickte mich überrascht an. »Nun, das alles ist das Mandat.«
»Das ganze Bündel? Theoderichs Befehl, der Zerstörung
von irgendwelchen Dingen in Rom Einhalt zu gebieten?«
»Natürlich.« Er sah etwas perplex aus. »Seid Ihr nicht deswegen gekommen?»
»Cassiodor, guter Cassiodor«, sagte ich. »Ein Mandat
dient nur dazu, einen Befehl offiziell zu machen. Es reicht, daß ich nach Rom gehe und drei Worte äußere: ›Hört auf damit!‹ Drei Worte!«
»Ja und?« sagte er gekränkt. »Mehr steht hier auch nicht drin. Lest!«
»Lesen? Ich kann es kaum in der Hand halten«, übertrieb ich, nahm dann aber doch ein Blatt auf.
Auf dem obersten Papyrus, gerichtet »An den Senat und
das Volk von Rom«, stand: »Die edle und preisenswerte
Kunst der Bildhauerei wurde, so sagt man, in Italien schon von den Etruskern ausgeübt und verlieh der Stadt eine
künstliche Einwohnerschaft, die ihrer natürlichen fast gleichkommt. Ich beziehe mich hier auf den Überfluß an Statuen von Göttern, Helden, ausgezeichneten Römern der Vergangenheit und auf die mächtigen Herden steinerner und metallener Pferde, die unsere Straßen, Plätze und Foren schmücken. Wenn die Menschen Ehrfurcht verspürten,
würde diese Ehrfurcht allein, und nicht die Wachen der Stadt, als Beschützer dieses Schatzes von Rom ausreichen.
Aber was sollen wir von dem kostbaren Marmor, der teuren Bronze sagen, kostbar sowohl vom Rohstoff wie auch vom Kunsthandwerk her? So viele Hände gieren danach, wenn
sich die Stunde günstig erweist, davon zu pflücken. Wie Roms Wald aus Wällen, so sollte auch seine Bevölkerung aus Statuen so weit wie nötig wieder instandgesetzt werden.
Unterdessen müssen alle aufrechten Bürger darüber
wachen, daß diese künstliche Einwohnerschaft nicht weiter beschädigt, in Stücke gebrochen und weggekarrt wird. Oh ehrbare Bürger, wir fragen euch, wer, wenn ihm solch eine Aufgabe übertragen wird, kann davor seine Augen
verschließen? Wer sich bestechen lassen? Ihr müßt nach solchen diebischen Schurken, wie wir sie beschrieben
haben, Ausschau halten. Wenn der Verbrecher gefangen ist, wird die geschädigte Gemeinschaft, der die Schönheit der Vergangenheit durch das Abschlagen von Gliedern
beeinträchtigt hat, ihn genauso leiden lassen, wie er die Statuen leiden ließ...«
Hier brach ich ab, sammelte die Papyri zusammen,
räusperte mich und sagte: »Ihr hattet recht, Cassiodor. Ihr sagt ›Hört auf damit‹. Nur sehr viel... sehr viel...«
»Unmißverständlicher«, schlug er vor. »Vollkommener.«
»Vollkommener. Genau! Das war das Wort, nachdem ich
gesucht habe.«
»Wenn Ihr weiterlesen werdet, Saio Thorn, wird es Euch noch sehr viel besser gefallen. An einer Stelle läßt sich König Theoderich aus über die Notwendigkeit -«
»Nein, nein, Cassiodor«, wehrte ich ab und schob ihm die Rollen zu. »Nehmt mir nicht die Vorfreude darauf, zu sehen, wie diese Botschaft im Senat empfangen wird, die Wirkung, wenn diese erhabenen Worte durch die Kurie hallen.«
»Im Senat!« Glückselig rollte er die Papyri zusammen,
tropfte geschmolzenes Blei über die Rolle und drückte
Theoderichs Siegel ein. »Im Senat!«
»Ja«, sagte ich. »Und Eure Rede wird, darauf würde ich jede Wette eingehen, laut ›Vere Diserte! Nove Diserte!‹
gepriesen werden.«
4
Den überwiegenden Teil der Jahre, die Theoderich auf
dem Thron saß, tat ich, was ich immer getan hatte: Reisen, Beobachten, Erfahrungen sammeln, Lernen. Die anderen
Marschälle des Königs waren froh, auf einen geruhsamen, sicheren Posten gesetzt worden zu sein. Ich hingegen zog es vor, der reisende Emissionär meines Königs zu sein, sein langer Arm, sein weitblickendes Auge. Es kam zwar vor, daß Theoderich mich einige Zeit an seinen Hof holte oder ich meine Residenz in Rom oder mein Anwesen in Novae
besuchte, aber meistens hielt ich mich irgendwo im Reiche Theoderichs oder auch im Ausland auf.
Man konnte mich überall zwischen Baiae, dem luxuriösen, am Meer gelegenen Badeort der römischen Nobilität, und den abgelegensten Siedlungsgebieten wilder Stämme
antreffen. Manchmal war ich auf ausdrücklichen Befehl
Theoderichs dort, manchmal aus eigenem Antrieb.
Manchmal trug ich die mit dem Bildnis eines Ebers verzierte Rüstung und die anderen Insignien meines Marschallamtes, manchmal die auffälligen Gewänder, die ein Herizogo und Dux zu tragen berechtigt ist. Meistens aber zog ich die unauffällige Kleidung eines einfachen Wanderers vor. Auch wenn ich gelegentlich einen Trupp Soldaten mit mir führte oder von einigen Männern begleitet wurde, die mir als
Botschafter dienten, so machte ich mich doch oft allein auf den Weg und trug dem König meine Berichte persönlich vor.
Oft ging es in diesen Berichten um den Fortschritt eines der vielen Projekte, mit denen Theoderich das Leben seiner Untertanen verbessern wollte. Nach seiner Anweisung etwa wurden die alten römischen Straßen, Aquädukte, Brücken und Kloaken wieder hergerichtet und, wo nötig, neue
konstruiert. Wie schon die Sümpfe von Ravenna wurden
jetzt auch die pomptinischen Sümpfe von Rom, die
sumpfigen Gebiete bei Spoletium und die Gegend um Anxur trockengelegt.
Aber es wäre überflüssig, jede einzelne der unzähligen Verbesserungen und Leistungen unter Theoderichs
Regierung aufzuzählen. Das kann in den offiziellen Büchern über jene Zeit nachgelesen werden. Cassiodor Filius
arbeitet, neben seinen anderen Pflichten, auch daran. Als Quaestor und Schreiber hat er persönlichen Einblick in alles, was sich ereignete, seit Theoderich den Thron bestieg. Für die Zeit davor kann er sich weitgehend auf meine Berichte über die Geschichte der Goten verlassen. (Um der besseren Lesbarkeit willen wünschte ich nur, Boethius wäre mit der Abfassung der offiziellen Geschichte betraut worden. Wenn nichts anderes, so wird Cassiodors Historica Gothorum jedenfalls doch eines sein: voluminös.)
Unter der Regierung und Sorge Theoderichs stieg das
römische Reich im Westen wieder zu jener Blüte empor, die es in der längst vergangenen Aera der »fünf guten
Herrscher« erreicht hatte. Schon lange bevor der goldene Bart Theoderichs silbrig wurde, wurde er Theoderich der Große genannt. Und zwar nicht nur von Speichelleckern und Schmeichlern, sondern auch von anderen Königen. Selbst jene, die nicht mit ihm verbündet waren oder gut mit ihm standen, haben des öfteren seinen Rat gesucht. Was seine Untertanen anging... , die engstirnigen unter den Römern verziehen ihm nie, ein Ausländer zu sein; die kurzsichtigen katholischen Christen hörten nie auf, ihn um seines
arianischen Glaubens willen zu verachten, und andere
vergaßen ihm den Mord an Odoaker nicht. Aber niemand
kann heute ableugnen, daß er dank Theoderich besser und in einem glücklicheren Land lebt.
Wie gesagt, Theoderich hatte, im Gegensatz zu früheren Eroberern, darauf verzichtet, seinen neuen Untertanen seine eigenen Vorstellungen, oder die seines Volkes, von Moral, Sitten, Kultur oder Religion aufzuzwingen. Stattdessen mühte er sich, den Bürgern Roms ihr eigenes Erbe bewußt zu machen und ihnen Respekt dafür beizubringen, etwa
indem er der Zerstörung der antiken Monumente einen
Riegel vorschob und ihre Restaurierung förderte.
Es dauerte nicht lange, bis in ganz Italien und den
umliegenden Provinzen unzählige neu errichtete oder
sorgsam renovierte alte Bauwerke mit Widmungstafeln
versehen waren, auf denen die dankbaren Bewohner
Theoderich ihren Dank aussprachen: REG DN THEOD
FELIX ROMAE.
Auch bei einigen von Theoderichs Unternehmungen, die
darauf abzielten, Handel und Produktion in seinem Reich wieder anzukurbeln, fungierte ich als sein Vertreter. So führte ich einen Trupp Legionäre und Werkleute nach
Kampanien, um dort eine langaufgegebene Goldmine
wiederzueröffnen und einheimische Arbeiter anzuwerben.
Einen weiteren Trupp führte ich um das Adriatische Meer herum nach Dalmatien, wo wir drei aufgelassene
Eisenminen wieder in Gang brachten. An jedem Ort
ernannte ich einen Handwerker zum Aufseher der Arbeiten und ließ eine Schwadron Soldaten zurück, die für Ordnung sorgen sollten. Ich blieb immer lange genug, um mich davon zu überzeugen, daß die Minen auch nach meiner Abreise
zufriedenstellende Erträge abwerfen würden.
Rom war in seiner großen Zeit Knotenpunkt eines Netzes von Handelsstraßen gewesen, die ganz Europa überzogen.
Als Theoderich die Macht übernahm, war nur noch eine
dieser Straßen in ständigem Gebrauch, und zwar der
Salzweg zwischen Ravenna und dem Salzkammergut.
Theoderich, dem viel daran lag, den einst lebhaften
Handelsverkehr wieder zu beleben, befahl mir, den Ausbau der Straßen in die Hand zu nehmen, ein Unterfangen, das mich mehrere Jahre beschäftigte.
Die Wiedereröffnung der west-östlichen Handelsstraße,
die von Aquitanien bis zum Schwarzen Meer weitgehend
durch zivilisierte Provinzen und Nationen verlief, erwies sich als relativ einfach. Viel schwieriger war der Bau einer Handelsstraße, die die Länder nördlich der Donau bis hinauf zum Sarmatischen Meer, erschloß. Auf meiner ersten Reise nach Norden begleitete mich ein größerer Trupp Reiter, allerdings keine Legionäre, sondern ostgotische und andere germanische Krieger. Hätten wir wie eine römische
Invasionstruppe ausgesehen, wären wir sicherlich auf viel Widerstand gestoßen. So aber war es uns möglich, die
kleinen Könige und Stammeshäuptlinge entlang der Route davon zu überzeugen, daß wir ihresgleichen waren,
Abgesandte des großen Stammesfürsten Theoderich (oder
Dietrich von Bern, wie viele ihn jetzt nannten), dessen einzige Absicht darin bestand, eine Straße durch ihr Land zu führen, sowohl zu ihrem als auch zu seinem Vorteil. Nur drei oder vier dieser hinterwäldlerischen Regenten brachten Einwände vor, und nur einer oder zwei drohten mit
Waffengewalt. Wir lösten das Problem, indem wir einen
Umweg um ihre kleinen Reiche machten. In bestimmten
Abständen entlang unserer Route ließ ich ein paar Soldaten mit der Anweisung zurück, Wachposten aufzubauen und
einheimische Krieger zu ihrer Hilfe zu verpflichten. Auf einer zweiten, sehr viel langsameren Reise entlang derselben Route brachte ich nicht nur weitere Truppen mit, sondern auch eine beträchtliche Anzahl von Bauern mit ihren
Familien, die der Wunsch trieb, ihr Glück in fernen und nur wenig besiedelten Gegenden zu suchen. Jeweils ein bis drei Familien ließen sich an einer günstigen Stelle an der Straße nieder und gründeten dort Herbergen und Ställe, erste
Ansiedlungen, um die sich später häufig größere
Gemeinschaften bildeten.
Noch bevor ich auf der ersten dieser beiden Reisen die Stadt Pomore an der Wendischen Bucht erreichte, hatten mir andere Reisende bereits die Nachricht zugetragen, die Rugier würden schon lange nicht mehr von Königin Giso
regiert. Giso hatte ihren königlichen Ehemann nicht lange überlebt. Der junge Erarich, ein Neffe des toten Fewa-Feletheus, war ihr auf den Thron gefolgt. Erarich, dem meine Ankunft angekündigt worden war, empfing mich mit offenen Armen. Er war wie Theoderich sehr erpicht darauf, endlich einen ganzjährig benutzbaren Handelsweg zwischen beiden Ländern zu haben. Wie ich wußte, war die Weichsel, die Hauptverbindung der Rugier ins Innere Europas, während des langen nordischen Winters unpassierbar, und selbst im Sommer machte die starke Strömung des Flusses die Reise nach Süden zu einem langsamen, mühseligen
Unternehmen.
Erarich stellte uns eine ganze Anzahl an rugischen
Soldaten sowie kaschubische und wilzische Bauern zur
Verfügung. Die Soldaten bauten Wachposten auf, während slowenische Bauern die Straße freiräumten und einebneten und Unterkünfte für die Reisenden errichteten. Die
Slowenen, nur für harte Arbeit tauglich, kehrten später wieder nach Pomore zurück und wurden durch rugische
Bauersfamilien ersetzt, denen die Bewirtschaftung der
Einrichtungen aufgetragen wurde.
Bald schon blühte der Handel auf den neuen
Handelsstraßen von Norden nach Süden und von Osten
nach Westen wie zu den glorreichsten Tagen des römischen Imperiums. Viele kleinere Straßen und Seefahrtswege
führten diesen Hauptschlagadern des Handels die Produkte und Erzeugnisse von fremden Völkern, die an den
entferntesten Küsten des Germanischen, des Sarmatischen und des Schwarzen Meeres siedelten -, Waren aus
Britannien, Schottland, Skandinavien, dem Kaukasus, von der Krim, selbst Seide und andere rare Schätze aus dem Land der Chinesen zu. Inzwischen brachten die Schiffe, die auf Veranlassung Theoderichs gebaut worden waren,
frischen Schwung in den Handel mit den Völkern des
Mittelmeerraums, den Vandalen in Afrika, den Sueben in Hispanien und den römischen Kolonien in Ägypten,
Palästinien, Syrien und Arabia Petrae.
Wie immer in der Geschichte unterbrachen auch in dieser Zeit Kriege und Aufstände den blühenden Handel mit
fremden Völkern. Die meisten ereigneten sich in Ländern, die außerhalb des Machtbereichs von Theoderich,
Anastasius oder ihrer Verbündeten lagen. Doch auch in
Theoderichs Reich kam es zu einigen bewaffneten
Auseinandersetzungen, die er mit der Entsendung von
Truppen niederzuwerfen suchte. Weder er noch ich ritten mit den Soldaten, selbst die Befehlshaber waren nicht mehr die Männer, die noch Seite an Seite mit uns gekämpft hatten.
Der alte Saio Soas, die Generäle Ibba, Pitzias und Herduich, sie alle waren gestorben oder hatten sich aus dem aktiven Dienst zurückgezogen. Generäle waren jetzt Thulwin und Odoin, die ich noch nie getroffen hatte, und Witigis und Tulum, denen ich bei der Belagerung von Verona kurz
begegnet war und die damals noch die Ränge eines Optio beziehungsweise Kundschafters bekleidet hatten.
Einer der Aufstände, zu deren Bekämpfung sie
ausgeschickt wurden, war von den Gepiden angezettelt
worden, jenem Volk, das vor vielen Jahren vergeblich
versucht hatte, unseren Vormarsch auf Rom zu verhindern.
Damals hatte ihr Angriff bei Vadum an der Save sie viele ihrer Männer und ihren König Thrausila gekostet, auf
unserer Seite war der rugische König Feletheus gefallen.
Jetzt schien es, als ob die Gepiden unseren Kampfesmut erneut herausfordern wollten. Nicht weit von dem Ort der ersten Auseinandersetzung hatten sie jetzt, unter ihrem neuen König Thrasarich, Thrausilas Sohn, nach längerer Belagerung Sirmium erobert, jene für ihre Schweinezucht berühmte Stadt, in der wir auf unserem Weg westwärts von Novae überwintert hatten.
Bei dem Gedanken daran, wie es in Sirmium gestunken
hatte, war ich beinahe versucht, dafür zu plädieren,
Thrasarich die Stadt einfach zu überlassen. Aber angesichts der strategisch entscheidenden Lage Sirmiums an der
Donau, einem der wichtigsten Handelswege, mußte natürlich gehandelt werden. Zudem markierte Sirmium den östlichsten Punkt von Theoderichs Reich. Auch wenn er mit Anastasius einen Freundschaftsvertrag geschlossen hatte in der Provinz Pannonien waren immer noch Grenzstreitigkeiten zwischen dem westlichen und östlichen Reich im Gange, und keine Seite war willens, eine Grenzverletzung von irgend
jemandem hinzunehmen.
Kein Wunder, daß Anastasius, als unsere Armee durch
Pannonien fegte, uns aufgebracht anklagte, oströmisches Gebiet betreten zu haben. Das mag sogar stimmen, denn
unsere Truppen vertrieben die Gepiden ohne
Schwierigkeiten aus Sirmium und jagten sie wie die Hasen noch ein gutes Stück ostwärts, ehe sie umkehrten und sich auf den Heimweg nach Italien machten. Anastasius nahm
den Vorfall zum Anlaß, Theoderich den Krieg zu erklären und ihn für seine »Anmaßung und Ungehörigkeit« zu
bestrafen. Aber das blieb eine Geste des Imperators, der damit vor allem seine eigentliche Überlegenheit kundtun wollte. Da er seine Landstreitkräfte für den Kampf gegen das persische Reich benötigte, reduzierte sich der Krieg auf ein paar Nadelstiche. Anastasius schickte ein paar
Kriegsgaleeren nach Italien, die einige unserer Hafenstädte ansteuerten und mit der Absicht, unseren Handel mit
anderen Mittelmeerländern zu unterbinden, vor den
Hafeneinfahrten vor Anker gingen.
Lentinus, Kommandeur der römischen Flotte, freute sich wie ein kleiner Junge über diese Gelegenheit, ein paar der khele-Schiffe in Auftrag geben zu können, die er nachts bei Ebbe hinausschickte. Nachdem drei oder vier der feindlichen Galeeren in verschiedenen Häfen ohne erkennbaren Grund bis auf die Wasserlinie abgebrannt waren, lichtete der Rest der Flotte die Anker und kehrte heim in ihren Stützpunkt im Propontis. Dieser Krieg wurde niemals offiziell für beendet oder von der einen oder anderen Seite für gewonnen oder verloren erklärt. Aber in den Jahren danach haben
Theoderich und der Kaiser des östlichen Reiches - zuerst Anastasius, dann Justinus - gute Beziehungen zueinander unterhalten und den Wohlstand ihrer Völker zum
gegenseitigen Vorteil gefördert.
Der nächste Krieg brach im Westen aus und hatte
weiterreichende Konsequenzen als der Gepidenaufstand.
Theoderich, der sich durch eine geschickte Heiratspolitik mit vielen benachbarten Königshäusern verbunden hatte, war es gelungen, anhaltenden Frieden zwischen seinem und ihren Reichen zu schaffen. Doch damit waren die Streitereien zwischen diesen Völkern untereinander noch lange nicht beigelegt. Und jetzt bahnte sich zwischen einem Schwager und einem Schwiegersohn von Theoderich eine
Auseinandersetzung an.
Clovis, König der Franken, und der westgotische König
Alarich beanspruchten beide einen bestimmten Streifen
Land an der Loire, die die Grenze ihrer jeweiligen
Herrschaftsbereiche von Gallien und Aquitanien markierte.
Einige Jahre lang war es immer wieder zu kleineren
Grenzstreitigkeiten gekommen - harmloses, von kurzlebigen Waffenstillständen und Friedensverträgen unterbrochenes Geplänkel. Nun aber rüsteten beide Königreiche für einen bevorstehenden Krieg. Theoderich tat sein Bestes, um als neutraler Unterhändler zwischen den beiden mit ihm
verwandten Königen zu vermitteln, und sandte zahllose
Emissionäre zu Alarich in Tolosa und Clovis in seiner neuen Hauptstadt Lutetia. Aber die beiden blieben unversöhnlich.
Als sich herausstellte, daß ein Krieg unausweichlich war, schlug sich Theoderich auf Alarichs Seite. Es muß ihn sehr geschmerzt haben, gegen das Volk und den Bruder seiner Frau Audefleda zu ziehen. Aber mit dem Balten Alarich und den Westgoten verbinden uns Ostgoten mehr als nur
verwandtschaftliche Bande.
Doch unsere Soldaten mußten kaum kämpfen. Noch bevor
sie zu den westgotischen Einheiten stoßen konnten, war Alarich in der Schlacht nahe dem Städtchen Pictavus
gefallen, und die Westgoten schienen den Krieg verloren zu haben. Aber kaum trug unsere Armee ihren ersten Angriff auf die fränkischen Linien vor, als Clovis die Waffen
niederlegte und um Frieden bat. Im Tausch gegen das, was er bisher erobert hatte - eben jene umstrittenen Gebiete -, bot er dem neuen König der Westgoten, Amalrich, ein
dauerhaftes Bündnis an. Kurz nachdem unsere Generale
Tulum und Odoin Clovis' Bedingungen und seinen Schwur
angenommen hatten, zogen sich sowohl die Franken als
auch die Westgoten zurück. Unsere eigene Armee kehrte
heim nach Italien, ohne auch nur einen Tropfen Blut
vergossen zu haben.
Das wichtigste aber war, daß der neue König der
Westgoten, Alarichs Sohn Amalrich, zu jener Zeit noch ein Säugling war. Da er zu jung war, ging die Regierungsgewalt auf seine Mutter, Königin Thiudagotha, über. Da
Thiudagotha Theoderichs Tochter und Amalrich sein Enkel war, bedeutete dies nicht mehr und nicht weniger, als daß Theoderich jetzt auch Herrscher über die Westgoten war.
Westgoten und Ostgoten waren zum ersten Mal seit vielen Jahrhunderten vereint unter einem König. Theoderichs
Macht erstreckte sich damit über alle an das Mittelmeer grenzenden Lande, von Pannonien und Dalmatien über
Italien und Aquitanien bis nach Hispanien. Jetzt brauchte man endgültig nicht mehr vom ehemaligen weströmischen
Reich zu reden, sondern man nannte es zutreffender - und mit Stolz - das Königreich der Goten.
5
Mein Handel mit Sklaven erwies sich als sehr einträglich und verlangte mir nur wenig Zeit ab. Zeit, die ich angesichts meiner sonstigen Pflichten auch kaum hätte erübrigen
können. Meine Arbeiter in Novae zogen zwei oder drei
Jahrgänge gut ausgebildeter und wohlerzogener Sklaven
heran, die den durchschnittlichen Sklaven in römischen Haushalten weit überlegen waren und ansehnliche Preise erzielten. Doch dann sandte Meirus mit einer seiner
Lieferungen von Noviodunum einen jungen Griechen, keinen Jugendlichen mehr, sondern einen erwachsenen Eunuchen.
In einem Begleitbrief empfahl er mir, diesem Sklaven
besondere Beachtung zu schenken.
»Er heißt Artemidorus«, stand in dem Brief, »ein
ehemaliger Sklavenmeister an dem zweitrangigen Hof eines gewissen Prinzen Balash von Persien. Du wirst sehen,
Artemidorus ist wirklich kundig, was die Ausbildung
erstklassiger Sklaven angeht.«
Nachdem ich Artemidorus eine Reihe von Fragen über
seine Lehrmethoden gestellt hatte, wollte ich abschließend wissen: »Wie stellst du fest, ob und wann ein Sklave
ausreichende Kenntnisse und Fertigkeiten erlangt hat und verkauft werden kann?«
Die klassische Nase des Griechen kräuselte sich
hochmütig, als er mir antwortete: »Kein Sklave verläßt meine Schule jemals wirklich. Alle mir Anvertrauten lernen natürlich in der einen oder anderen Sprache lesen und schreiben.
Und egal wohin sie verkauft werden, sie bleiben in stetem Kontakt zu mir und profitieren von meinen Instruktionen. Sie wenden sich mit ihren kleinen und großen Problemen an
mich - neue Moden für die Frisuren ihrer Herrinnen oder Angelegenheiten von größter Vertraulichkeit. Sie hören nie auf zu lernen, und ich höre nie auf, sie zu vervollkommnen.«
Artemidorus' Antwort gefiel mir sehr, und ich übertrug ihm die volle Verantwortung für die Ausbildung der Sklaven.
Damit stieg mein Gut in Novae zu einer wahren Akademie auf.
Bald schon konnte ich mir meine Kunden, größtenteils
Römer, aussuchen. Sie, die schon gar nicht mehr wußten, was gute Diener waren, rissen sich um meine Sklaven.
Wenn ich angesichts der in Rom verbreiteten Ansichten über Sklaven erwartet hatte, meine Ware mühselig anpreisen zu müssen, sah ich mich angenehm überrascht. Die Angst der Römer, gebildete Sklaven würden ihnen ihre Frauen rauben oder Umsturzversuche unternehmen, verflüchtigte sich im Nu. Es reichte schon, einige hervorragende Römer in mein Haus an der Vicus Jugarius einzuladen und sie von meinen Sklaven umsorgen zu lassen.
Wann immer ich mich dort aufhielt, sorgte ich mit
Festlichkeiten und Convivas für ein volles Haus. Wenn
meine Gäste sahen, wie meine Sklaven ihren Diensten
nachgingen - Köche bereiteten erlesene Speisen, die von den zuvorkommendsten Dienern aufgetragen wurden; da
waren penible Zimmermädchen, begabte Kosmetikerinnen
und Dekorateurinnen, Gärtner, die in meinem kleinen Garten Wunderwerke schufen, Kämmerer, die ausländische Gäste
in ihrer Heimatsprache begrüßen konnten, und Schreiber, die ihnen ihre Korrespondenz verfassten; selbst
Küchenhilfen, Laufburschen und andere niedrige Sklaven erledigten ihre einfachen Arbeiten mit dem größten Eifer, da sie auf eine bessere Position hoffen konnten - dann
beknieten sie mich, ihnen ebensolche Sklaven zu besorgen.
Artemidorus' Zöglinge waren samt und sonders so gut
ausgebildet und aufmerksam, daß es mir schwer fiel, für den Dienst in Veledas Haus ein paar einfältigere unter ihnen auszuwählen. Ich wollte weniger scharfe Augen und weniger wache Geister, denen nicht gleich auffallen würde, wenn ich mich in ihrer Gegenwart einmal nachlässigerweise
unweiblich verhalten sollte. Aus diesem Grund kamen nur männliche Sklaven in Frage, denn selbst begriffsstutzigen oder sehr jungen Frauen würde ein Lapsus in meinem
weiblichen Verhalten auffallen. Ich achtete sorgsam darauf, in Veledas Haushalt nur Sklaven zu beschäftigen, die Thorn noch nie zu Gesicht bekommen hatten. Außerdem sorgte ich dafür, sie niemals mit den Bediensteten von Thorns Haus jenseits des Tibers zusammenkommen zu lassen. So
getrennt wie die beiden Haushalte hielt ich auch Thorns und Veledas Leben, unsere jeweiligen Freundeskreise, die
Märkte und Läden, in denen wir einkaufen gingen, die
Arenen und Theater, die wir aufsuchten, selbst die Foren und Gärten, in denen wir abends spazieren gingen.
Doch war ich all diese Jahre über nicht nur mit meinen eigenen kleinen Angelegenheiten und Gefühlen beschäftigt.
Viele Dinge von allgemeinerem Interesse, ja von historischer Tragweite geschahen. In wenigstens eine solche
Angelegenheit war ich zumindest indirekt verwickelt. Denn auf der Suche nach einem geeigneten gotischen Mann für Kronprinzessin Amalaswintha griffen Theoderich und seine Berater auf das von mir verfaßte Werk über die amalische Familienlinie zurück. Sie wählten Eutharich aus, einen jungen Mann im heiratsfähigen Alter, der als Sohn des
Herzogs Veterich, welcher sich in den westgotischen Landen von Hispanien niedergelassen hatte, auch von ausreichend vornehmem Blut war. Eutharich stammte von demselben
Zweig der Amaler ab, dem auch Königin Giso und
Theoderich Strabo angehört hatten. Mit der Verbindung
zwischen Eutharich und Amalaswintha würden diese beiden so lange schon getrennten und sich häufig befehdenden
Zweige der amalischen Linie endlich zusammenfinden.
Glücklicherweise ähnelte der junge Eutharich in nichts Giso oder Strabo. Eutharich war von ansehnlichem Äußeren und hatte neben guten Manieren einen wachen Verstand.
Doch Eutharich und seine Braut hatten kaum ihren
neuerbauten Palast in Ravenna bezogen, als er erkrankte und nur wenig später starb. Ich war nicht der einzige, der sich gefragt hatte, wie lange es ein Mann an der Seite von Amalaswintha aushalten würde. Manche waren überzeugt,
er sei nur gestorben, um sie loszuwerden. Zumindest aber hatte die Ehe lange genug gedauert, ein Kind zu zeugen.
Und dieses Kind war von männlichem Geschlecht, ein
Umstand, der Theoderich - und mit ihm den ganzen Hof und alle seine Berater - überglücklich machte. Doch trübte Eutharichs unzeitiger Tod diese Freude beträchtlich. Auch Theoderichs Freude über den lange ersehnten männlichen Nachwuchs muß darunter gelitten haben, obgleich er das niemals offen zugab. Theoderich war, wie ich selbst auch, schon jenseits der sechzig, als Prinz Alarich geboren wurde.
Sollte Theoderich - was sehr wahrscheinlich war - sterben, bevor Alarich seine Mündigkeit erreichte, dann würde
Amalaswintha als Regentin die Herrschaft übernehmen, eine Aussicht, die niemandem behagte.
Nicht nur das weströmische Reich hatte Grund dazu,
sorgenvoll in die Zukunft zu schauen. Zur selben Zeit
nämlich starb in Ostrom Kaiser Anastasius. Anastasius, der sich Zeit seines Lebens vor Gewittern gefürchtet hatte, war im Purpurpalast aus Furcht vor einem heraufziehenden
Unwetter in einen Schrank geflüchtet, wo ihn seine Diener am nächsten Morgen tot auffanden.
Anastasius konnte zwar kaum zu den herausragenden
Herrschern seiner Zeit gezählt werden, aber sein Nachfolger in Konstantinopel war eine wahrhaftige Null, ein Nichts.
Justinus war ein einfacher Soldat gewesen, der sich auf dem Schlachtfeld bewährt und bis zum Kommandeur der
Palastwache von Anastasius hinaufgedient hatte. Nach
Anastasius' Ableben war er von seinen Offizierskollegen auf das Schild gehoben worden. Wagemut und Beliebtheit sind zwar schöne Tugenden, doch konnten sie seine zahllosen Schwächen, vornehmlich seine Unfähigkeit lesen oder
schreiben zu können, kaum aufwiegen. Wenn er einen
kaiserlichen Erlaß unterzeichnen wollte, pinselte er mit einer Feder über eine metallene Schablone, in die sein
Monogramm eingeritzt war. Auf diese Art und Weise
signierte Justinus Befehle, Edikte und Statuten, die nach allem, was er davon lesen konnte, ebensogut irgendwelche anzüglichen Tavernenlieder hätten sein können.
Was Justinus' Untertanen (und die Könige in den
umliegenden Reichen) viel mehr beunruhigte, war allerdings nicht seine offensichtliche Unfähigkeit für das Kaiseramt -
viele Völker gelangten gerade unter farblosen Herrschern zu ihrer Blütezeit. Sorgen machte ihnen vielmehr der Einfluß von Justinus' fähigem, zielstrebigem und machtbesessenem Neffen Justinian, den er zu sich an den Hof nach
Konstantinopel geholt hatte. Offiziell war Justinian der Quaestor und Schreiber seines Onkels, also Cassiodors
Gegenpart. Und Justinus hatte einen sprachkundigen,
gebildeten Berater bitter nötig. Während jedoch Cassiodor Theoderichs Worte nur tausendfach verstärkt erklingen ließ, verlegte sich Justinian schon bald darauf, die Worte des Kaisers nicht nur zu verkünden, sondern selbst zu
verfassen. Worte, die bei weitem nicht allen gefielen. Mit seinen fünfunddreißig Jahren hatte sich Justinian zum
wahren Herrscher in Konstantinopel aufgeschwungen. Da er seinem Onkel Justinus, der inzwischen Sechsundsechzig
Jahre zählte, nach dessen Tod auf den Thron nachfolgen würde, mußten die benachbarten Völker sehr zu ihrem
Mißfallen damit rechnen, auf längere Zeit mit einem Kaiser Justinian - heute de facto, morgen de jure auskommen zu müssen.
Schlimm genug, murrte das Volk, daß der alte Justinus
Unterstützung bei seinem ehrgeizigen Neffen suchte. Weit schlimmer jedoch war nach einmütiger Auffassung, daß
Justinian seinerseits auf die Einflüsterungen einer absolut indiskutablen Person hörte. Diese Person, eine junge Frau namens Theodora, wäre unter normalen Umständen selbst
von den einfachen Leuten auf der Straße gemieden worden.
Ihr Vater hatte als Bärenwärter im Hippodrom gearbeitet, sie selbst seit ihrer frühesten Kindheit als Schauspielerin. Allein ihre Herkunft und Tätigkeit hätten für einen schlechten Ruf mehr als ausgereicht, aber Theodora hatte es sehr viel weiter gebracht. Sie war berühmtberüchtigt dafür, bei ihren Vorstellungen, die sie von Konstantinopel über Zypern bis nach Alexandria führten, männliche Bewunderer sowohl auf als auch hinter der Bühne zu befriedigen. Diese privaten Vorstellungen gefielen ihr so sehr, daß sie, wie die Gerüchte gingen, einmal sogar beklagt haben soll, daß »eine Frau nicht genügend Öffnungen hat, um sich mehr als drei
Liebhabern gleichzeitig hingeben zu können«.
Irgendwo auf ihren Reisen mußte Justinian ihr begegnet und Hals über Kopf verfallen sein. Jedenfalls hatte sie sich im zarten Alter von neunzehn Jahren »zur Ruhe gesetzt«
und war »ehrbar« geworden, was nichts anderes hieß, als daß sie und ihr Körper hinfort ausschließlich Justinian zur Verfügung standen. Selbst jene, die sie am unerbittlichsten verabscheuten, mußten ihr Intelligenz, Gerissenheit und ein klug berechnendes Wesen attestieren - zahllose Dekrete und Edikte, die Justinian dem Reich als Willen des Kaisers Justinus verkündete, trugen Theodoras Stempel.
Justinian und Theodora wollten heiraten, sie aus
Geltungssucht, er, als aufrechter orthodoxer Christ, um seine Verbindung mit ihr zu legalisieren. Doch eines der ältesten Gesetze des römischen Reiches verbat
Edelmännern »mulieres scenicae, libertinae, tabernariae« -
also Schauspielerinnen, Huren und Wirtsfrauen -
zu
ehelichen. Deshalb wollte Justinian dieses Gesetz mit einem Zusatz versehen, der es einer dergestalt befleckten Frau ermöglichen würde, mittels einer »wundertätigen Buße« von ihren Makeln reingewaschen, mithin wieder in den Stand einer unberührten, heiratsfähigen Jungfrau zurückgeführt zu werden. Damit aber dieser Zusatz nicht sofort als Farce entlarvt werden würde, mußte die Buße zumindest
einigermaßen glaubhaft wirken. Und wer eignete sich besser als die Kirche dazu, die »Wundertätigkeit« einer Buße zu bestätigen? Kein Wunder, daß Justinian und Theodora alles unternahmen, um sich den christlichen Klerus gewogen zu stimmen.
Ihre Mühen trugen schon bald Früchte. Eine der am
lautesten gepriesenen Errungenschaften unter Justinus
Herrschaft war die »diplomatische Großtat«, mit der das Schisma, das die Kirchen Roms und Konstantinopels seit so vielen Jahren getrennt hatte, beendet wurde. Den
dogmatischen Anhängern beider Kirchen mußte das zwar
als verdammenswert erscheinen, doch andererseits hatte Justinus, indem er sich so offen mit diesen beiden Sekten der christlichen Kirche verbündet hatte, stillschweigend gegen alle anderen Religionen in seinem Reich Partei
ergriffen, auch gegen die »häretischen« Anhänger des
Arianismus. Was nicht weniger bedeutete, als daß der
Kaiser Ostroms ein erklärter Gegner der Religion des
gotischen Königs in Ravenna war. Eine Tatsache, die den Angriffen der römischen Kirche auf Theoderich natürlich zusätzliches Gewicht und zusätzliche Bedeutung verlieh.
Theoderich hatten die kleinmütigen Attacken der
katholischen Kirche nur selten gestört, meistens hatte er sie sogar eher belustigend gefunden. Doch der unversöhnliche Widerstand der Kirche gegen seine Herrschaft blieb nicht ganz ohne Auswirkung. So kam es zwischen Römern und
den gotischen Einwanderern nie zu der ihrem König
vorschwebenden freundschaftlichen Verschmelzung.
Einerseits blieben die Römer mißtrauisch und widersetzten sich Theoderichs wohlmeinendsten Anstrengungen in dieser Hinsicht. Andererseits warfen ihm seine gotischen
Landsleute vor, den undankbaren Einheimischen zuviel
Nachsicht entgegenzubringen. Obwohl Theoderich kein
Mann war, der sich übermäßig Sorgen machte, mußte er
doch vor Feinden, sowohl innerhalb als auch außerhalb
seines Machtbereichs, auf der Hut sein. Denn hätte einer der ausländischen christlichen Könige danach getrachtet, über das gotische Königreich herzufallen, oder sich ein
mißgünstiger christlicher Untertan Theoderichs zum
Aufstand berufen gefühlt, beide hätten sicherlich Mut aus dem Wissen geschöpft, daß die Kirche Roms ihre Anhänger jederzeit zur Unterstützung eines »christlichen Befreiers«
und zum bewaffneten Widerstand gegen den »häretischen«
Throninhaber aufrufen würde. Teilweise aus diesem Grund hatte Theoderich schon früh alle Römer von höherem Rang aus der Armee entlassen und später verfügt, daß keine
Person, die nicht im Militärdienst stand, Waffen besitzen durfte.
Seit dem schnellen Sieg über die Gepiden in Sirmium und der Vertreibung von Anastasius' Kriegsschiffen vor den Hafenstädten im Süden war Theoderichs Reich von keiner ausländischen Macht mehr angegriffen worden. Doch da
kündigte sich Unheil von einer gänzlich unerwarteten Seite an. Die ersten Gerüchte kamen mir zu Ohren, als eine
Lieferung neuer Sklaven aus Novae in Begleitung von
Artemidorus in Rom eintraf. Artemidorus' Anwesenheit
überraschte mich sehr, denn er verließ Novae nur selten. Er war nicht mehr jung, und sein klassisches griechisches Profil hatte gelitten. Er war, wie alle Eunuchen, im Alter korpulent geworden, und das Reisen fiel ihm schwer. Kaum
angekommen, zog er mich zur Seite und entdeckte mir den Grund für seine Anwesenheit.
»Saio Thorn, ich wollte Euch diese Nachricht persönlich überbringen. Sie einem Botschafter zu geben, wäre zu
gefährlich gewesen. In den Reihen von Theoderichs
verläßlichsten Getreuen gibt es Verräter.«
6
Nachdem Artemidorus seine Ausführungen beendet hatte,
entgegnete ich ihm kalt: »Ich bin Sklavenhändler geworden, um Menschen, die es sich leisten können, einen wertvollen Dienst zu erfüllen, nicht, um ihnen Spitzel unter die Nase zu setzen.«
»Ganz Eurer Meinung, Saio Thorn«, antwortete
Artemidorus ebenso kühl. »Ich warne meine Studenten
dringlichst davor, zu lauschen oder zu tratschen. Selbst meine weiblichen Sklaven lernen, verschwiegen und
zurückhaltend zu sein. Aber in diesem Fall geht es um mehr als nur um hohles Geschwätz.«
»In der Tat. Es geht um den Ruf des Ostgoten Odoin, der, wie ich, Herzog ist und dessen Generalsrang dem meinen als Marschall gleichkommt. Gegen einen solchen Mann wagt Ihr das Wort eines Sklaven zu stellen?«
»Eines meiner Sklaven«, sagte Artemidorus mit eisiger Stimme. »Ein Zögling meiner Schule. Und Hakat ist
Tscherkesse, sein Volk ist berühmt für seine angeborene Ehrlichkeit.«
»Ich erinnere mich an den Burschen. Ich selbst habe ihn Odoin als Schreiber verkauft. Trotz aller seiner Titel und Auszeichnungen hat der General nie lesen oder schreiben gelernt. Doch Odoins Residenz ist hier in Rom. Warum kam der Sklave mit einer solch gewichtigen Sache nicht gleich zu mir? Warum erst eine Botschaft nach Novae senden?«
»Weil den Tscherkessen eine weitere Besonderheit zu
eigen ist. Sie verehren den jeweils Nächstältesten
bedingungslos. Ein junger Bursche wird, wenn sein älterer Bruder das Zimmer betritt, aufspringen und nicht sprechen, bevor sein Bruder gesprochen hat. Meine tscherkessischen Studenten scheinen in mir so etwas wie ihren älteren Bruder zu sehen. Mit ihren Sorgen kommen sie immer zu mir.«
»So sei es denn. Ich werde dem jungen Hakat eine ältere Schwester zur Seite geben, um Licht in diese Sache zu
bringen. Sag ihm Bescheid, daß er sobald wie möglich das Haus einer gewissen Dame Veleda aufsuchen soll...«
General Odoin zählte nicht zu meinen engeren Bekannten, aber wir waren uns des öfteren am Hofe Theoderichs
begegnet. Da ich mich selbst als Agent in seinem Haushalt betätigen wollte, mußte ich mich dergestalt verkleiden, daß er mich auf keinen Fall erkennen würde.
Als Hakat sich in Veledas Haus jenseits des Tibers
einfand, erklärte ich ihm mein Vorhaben. »Dein Herr kann unmöglich wissen oder sich darum scheren, wie viele
Sklaven er besitzt. Du sorgst dafür, daß ich für eine Weile dazugehöre. Die anderen Sklaven werden die Autorität des Schreibers ihres Herren nicht in Frage stellen. Sag ihnen, ich sei deine verwitwete und der Armut anheimgefallene ältere Schwester, die dringend Arbeit braucht.«
»Entschuldigt mich, Caia Veleda.« Der junge Mann
hustete diskret. Er war hübsch wie alle Tscherkessen und versuchte die guten Manieren, die Artemidorus seinen
Schülern beibrachte, zur Geltung zu bringen. »Das Problem ist... es gibt nicht viele Sklaven - nirgendwo! - von Eurer offensichtlichen höheren Abstammung und Eurem, äh,
würdigen Alter.«
»Hakat«, fuhr ich ihn, in meiner Eitelkeit verletzt, an.
»Noch muß ich mich nicht hinter dem Kamin verstecken.
Und sklavische Unterwürfigkeit kann ich gut genug imitieren, um selbst deine scharfen und wissenden Augen zu
täuschen.«
»Ich wollte nicht ungehörig sein«, beeilte er sich zu sagen.
»Selbstverständlich seid Ihr, Herrin, schön genug, um als meine tscherkessische Schwester zu gelten. Sagt mir nur, Caia Veleda, in welcher Stellung Ihr dienen wollt.«
»Väi, in der Küche, der Anrichte oder der Spülküche, das ist mir gleich. Schau nur darauf, daß ich sehen kann, wer deinen Herrn besucht, und Gelegenheit habe, seine
Unterhaltungen zu verfolgen.«
Und so, fünfzig Jahre nach meinen ersten jugendlichen
Pflichten als Küchenhilfe, arbeitete ich - mit großem
Vergnügen übrigens - wieder als einfache Spülfrau. Nur tat ich es diesmal für einen edlen Zweck und es dauerte auch nicht lange, bis meine Schauspielerei belohnt wurde. Ich muß zugeben, es fiel mir bedeutend schwerer, die
diensteifrige Sklavin als den gewieften Spion zu spielen.
Was ich von meinen Pflichten in St. Damian noch wußte, half mir hier kaum weiter, denn der Haushalt eines
vornehmen Römers wird viel effizienter und hierarchischer geführt als eine christliche Abtei.
Laufend wurde ich, bald schon von allen nur noch
verächtlich »Alte« gerufen, von meinen Mitsklaven
gescholten und bei Hakat angeschwärzt.
Odoin, unser Herr, wußte wahrscheinlich den peniblen
Dienst seiner Sklaven gar nicht zu schätzen und hätte
kleinere Nachlässigkeiten wohl auch gar nicht bemerkt. Er war ein grobschlächtiger Soldat mit wallendem Bart, dem das Leben auf den Schlachtfeldern viel mehr lag als das in einer vornehmen römischen Villa. Sein Geist war, wie ich bald herausfand, auch mit Wichtigerem befaßt als mit
Haushaltsangelegenheiten. Trotzdem ließ er sich einmal dazu herab, mich zu korrigieren. Er war jünger als ich selbst und nannte mich bei meinem neuen Namen. »Alte! Väi,
kannst du meine Tische nicht abräumen, ohne mit dem
Geschirr zu klappern? Man versteht ja sein eigenes Wort nicht mehr!«
Es stimmt, in jener Nacht hatte ich meine Pflichten
vernachlässigt. Doch nur, weil meine ganze Aufmerksamkeit seinen Gästen im Triclinum und ihrer Unterhaltung gegolten hatte. Im Verlaufe eines halben Monats war es mir gelungen, mehrere solcher Treffen zu belauschen. Stets hielt ich hinterher schriftlich fest, was ich gesehen und gehört hatte.
Natürlich durften die anderen Sklaven nicht sehen, daß ich schreiben konnte. So traf ich mich spät in jeder Nacht mit Hakat, und er schrieb auf, was ich ihm diktierte, während ich mein dürftiges Nachtmahl aus Brotkrumen und anderen
Speiseresten verzehrte.
Eines Nachts sagte ich zu ihm: »Wir haben genügend
Beweise gesammelt, um Odoin zu überführen. Du hast gut getan, junger Bruder, deinen Verdacht an Artemidorus
weiterzugeben.«
Am nächsten Tag verließen wir Odoins Haus. Bei mir, das heißt bei Veleda, angekommen, ließ ich Hakat als erstes eine saubere Abschrift unserer Aufzeichnungen anfertigen.
Ich selbst nahm ein ausgiebiges Bad, um mich von
Küchendreck und Fettgestank zu befreien. Als er mit der Abschrift fertig war, übergab ich die Rollen einem Boten.
Hakat bat ich: »Bleib hier bis ich zurückkomme, junger Bruder. Draußen wird es heute für dich zu gefährlich sein.«
Ich ging in Thorns Villa zurück, zog mein
ebergeschmücktes Marschallsgewand über und machte
mich auf den Weg zu Odoins Residenz. An seiner Tür
empfing mich ein Diener, der mich gestern noch »altes
Weib« gescholten hatte, mich aber heute natürlich nicht wiedererkannte. Ich bat um eine private Unterredung mit dem General. Als Odoin und ich es uns bei einer Amphore Falerner bequem gemacht hatten, zog ich die Papyrus-Rollen hervor und begann ohne Vorrede: »Diese Dokumente klagen Euch des Verrats und der Verschworung gegen
König Theoderich an.«
Odoin war überrascht, versuchte aber unberührt zu
erscheinen: »Was Ihr nicht sagt! Ich werde Hakat, meinen Schreiber, herbeirufen. Er soll sie mir vorlesen.«
»Hakat ist nicht hier. Er selbst nämlich war es, der diese Seiten beschrieb. Zur Zeit ist Hakat in meiner Verwahrung, damit er, sollte das notig sein, Zeugnis ablegen kann, daß diese Worte hier von Euch und Euren Mitverschworern
stammen.«
Das Gesicht des Generals lief dunkel an, und seine
Barthaare sträubten sich: »Bei Wotan, Ihr habt mir diesen verschlagenen ausländischen Schönling verkauft. Wenn wir schon von Verschworung und Veirat reden...«
Ich ignorierte seinen Wutausbruch und sagte: »Da Euer
Schreiber abwesend ist, erlaubt mir, Euch die Dokumente vorzulesen.«
Je länger ich las, desto aschfahler wurde Odoins
Gesichtsfarbe. Einiges vom dem, worüber er und seine
Gaste sich unterhalten hatten, war mir bereits zuvor zu Ohren gekommen. So war es allgemein bekannt, daß Odoin sich bei einem Landkauf hintergangen gefühlt hatte und mit der Sache vor Gericht gezogen war. Die Entscheidung war gegen ihn gefallt worden, woraufhin er Berufung bei einem höheren Gericht einlegte, das ebenfalls gegen ihn entschied.
Schließlich landete die Angelegenheit vor Theoderich, der Odoins Klage endgültig abwies. Das gleiche war auch schon Theoderichs eigenem Neffen Theodahad passiert. Wahrend der mürrische Theodahad sich jedoch eingeschnappt
zurückgezogen hatte, hatte Odoin danach getrachtet, sich für das ihm angeblich zugefugte Unrecht zu rächen.
»Ihr habt um Euch alle Unzufriedenen versammelt, die Ihr auftreiben konntet«, warf ich ihm vor. »Hier, unter diesem Dach, habt Ihr Euch mit ihnen getroffen. Das beweisen diese Dokumente mit Namen von aufrührerischen Goten,
abtrünnigen Römern und katholischen Christen, darunter auch zwei Kardinaldiakone aus dem Gefolge des
Erzbischofs.«
Odoin machte eine Handbewegung, als ob er mir den
Inhalt seines Weinbechers ins Gesicht schütten oder die Papyrus-Rollen aus der Hand reißen wollte.
»Gebt Euch keine Mühe. Eine Abschrift dieser Seiten ist bereits unterwegs nach Ravenna. Und in diesem Moment
werden auch Eure Mitverschwörer verhaftet.«
»Und ich?« fragte er mit belegter Stimme.
»Laßt mich mit Euren eigenen Worten schließen: ›Im Alter ist Theoderich so schwach und rückgratlos wie Odoaker
geworden. Es ist Zeit, daß wir Theoderich durch einen
fähigeren Mann ersetzen.‹ Sagt mir, Odoin, wärt Ihr dieser fähigere Mann gewesen? Was, meint Ihr, wird Theoderich denken, wenn er diese Worte liest?«
Darauf antwortete Odoin nicht, sondern sagte nur: »Thorn, Ihr kamt nicht hierher, unbewaffnet wie Ihr seid, um mich festzunehmen.«
Gleichgültig blickte ich ihn an. »Ihr wart ein tapferer Krieger, ein guter General und, bis jetzt, ein treuer
Gefolgsmann des Königs. Angesichts Eurer Verdienste
wollte ich Euch Gelegenheit geben, dem, was Euch
bevorsteht, zuvorzukommen.«
Cassiodors Historica Gothorum berichtet, der Herzog Odoin sei, zusammen mit seinen Mitverschwörern, drei Tage später auf dem Forum Romanum enthauptet worden. Das
stimmt. Nur Artemidorus, Hakat, ich selbst und zwei meiner vertrauenswürdigsten Wachen, die den Verräter vor den
Scharfrichter führten, wußten, daß Odoin zu diesem
Zeitpunkt schon seit drei Tagen tot war. Auf die Art eines vornehmen Römers hatte er, in meinem Beisein, sein
Schwert gezogen, die Spitze auf seine Brust gerichtet, den Griff auf den Mosaikfußboden gestützt und sich mit seinem vollen Gewicht hineingestürzt.
7
Eines Tages brachte Ewig mir neue Nachrichten. Eine
gewisse Caia Melania, eine gerade erst in Rom
angekommene Witfrau, habe ein vornehmes Haus auf dem
Equilin gekauft, und eine stattliche Anzahl Handwerker sei dabei, es zu renovieren. Schön und gut, dachte ich, eine neue Bewohnerin, die den Leuten hier Arbeit und Brot geben konnte, aber ansonsten kaum der Rede wert.
Auch als in den nächsten Wochen mehrere meiner
Freunde den Namen Caia Melania erwähnten - meistens mit zustimmenden oder gar ehrfürchtigen Kommentaren über
die Summen, die sie ausgab - nahm ich davon kaum Notiz.
In Vindobona hatte ich einst eine Frau dieses Namens
gekannt. Ohne sonderliches Interesse fragte ich mich, ob es sich wohl um ein und dieselbe Person handelte. Allerdings war Melania kein sehr ausgefallener Name.
Ich horchte erst auf, als mir bei einem Empfang in der Villa von Symmachus, Roms Erstem Senator, Gerüchte über sie
zu Ohren kamen. Es war eine erlesene Gesellschaft, die sich an jenem Abend bei Symmachus eingefunden hatte,
darunter einige Senatoren und ihre Frauen; Theoderichs Ratgeber Boethius und seine Gattin; Liberius, zu der Zeit Gouverneur der Stadt, sowie eine ganze Anzahl weiterer hervorragender Bürger. Alle schienen sie weit besser über die Witwe Melania informiert zu sein als ich selbst. Viel wurde über die extravaganten Ausgaben dieser Frau
gesprochen und darüber, was hinter den Mauern ihres
Hauses wohl vorging.
Dann, als die Frauen sich aus dem Speisesaal
zurückzogen, damit wir Männer ungehemmter reden
konnten, verriet uns Symmachus, was er über diese
mysteriöse Frau wußte: »Sie ist eine reiche Witwe aus der Provinz. Und aus ihrem Haus will sie das vornehmste und teuerste Liebesnest seit den legendären Tagen Babylons machen.«
»Ach, eine Kupplerin nur?« Präfekt Liberius zeigte sich enttäuscht. »Hat sie denn schon eine Lizenz beantragt?«
»Ich sagte nicht, sie betreibe ein Bordell«, lachte
Symmachus. »Der Ausdruck wäre unpassend,
genausowenig wie das Wort Kupplerin eine zutreffende
Beschreibung der Witfrau Melania vermittelt. Ich habe sie getroffen. Sie ist eine sehr vornehme und gebildete Frau, die mir die Ehre erwies, mir ihr Haus vorzuführen. Einen
Stadtschreiber anzuweisen, für einen solchen Ort eine
Lizenz zu erteilen, wäre etwa so, als bestünde man darauf, Theoderichs Paläste zu lizensieren.«
»Trotzdem, ein gewerbliches Unternehmen...«, grummelte Liberius, der stets auf zusätzliche Steuern und Gebühren hoffte.
Symmachus ignorierte diese Bemerkung und fuhr fort zu
erzählen: »Dabei ist das Haus, so reichhaltig es auch
ausgestattet ist, eher klein, sozusagen ein
Schmuckkästchen. Nur ein... Klient pro Nacht wird
empfangen. Und niemand darf das Allerheiligste betreten, der nicht zuvor in einem Vorraum von Caia Melania
empfangen und ausgefragt wurde. Nicht nur Namen,
Herkunft, Rang und die Fähigkeit, ihre horrenden Preise bezahlen zu können, interessieren sie, sondern auch
Geschmack, Vorlieben, geheime Neigungen und frühere
Erfahrungen mit ehrbaren oder auch weniger ehrbaren
Frauen.«
»Schamlose Lüsternheit, so nenne ich das«, wandte
Boethius empört ein. »Welcher anständige Mann würde mit einer Kupplerin über seine Frau oder seine Geliebte reden?
Wozu sollte das gut sein?«
Symmachus blinzelte und legte einen Finger an die Nase:
»Erst wenn sie den Freier eingeschätzt und genau Maß
genommen hat, gibt sie einem versteckten Bediensteten ein geheimes Zeichen. Das bewußte Vorzimmer ist mit
zahllosen Türen ausgestattet. Auf ihr Zeichen hin öffnet sich eine davon und gibt den Blick auf die eine Frau frei, von der der Mann sein ganzes Leben lang geträumt hat, nach der er sich gesehnt hat wie nach keiner anderen. Das ist es, was Caia Melania verspricht. Und ich bin geneigt, ihren Worten Glauben zu schenken. Ach, Freunde! Was gäbe ich, wenn
ich nochmal ein Knabe von sechzig Jahren sein dürfte! Oder wenigstens ein Jüngling von siebzig! Ich wäre der erste in diesem Vorzimmer.«
»Geh ruhig, du unersättlicher Satyr«, lachte ein anderer Senator. »Und nimm deinen verruchten kleinen Bacchus mit.
Soll er für dich einspringen.«
Es wurden noch mehr anzügliche Witze gemacht, gelacht
und über Melania spekuliert, etwa, woher sie wohl ihre
»Traumfrauen« bezog. Aber mich berührte das wenig. Ich hatte zu meiner Zeit genügend Bordelle gesehen.
Schmuckkästchen oder nicht, was mehr würde es sein als ein Haus voller Huren, und was anderes als eine
gewinnsüchtige alte Kupplerin diese Caia Vidua Melania?
Dann lenkte Symmachus die Unterhaltung auf ernstere
Themen. »Gestern geschah etwas«, sagte er ernsthaft, »das mir Sorgen bereitet, und ich möchte wissen, ob ich mit dieser Sorge alleine stehe. Ein Bote des Königs überbrachte mir eine Botschaft, in der er mir seine Hochachtung
bekundete und mich bat, ein Gesetz vor dem Senat zu
unterstützen, das die Höhe der Zinsen, die Geldleiher
erheben dürfen, beschränkt.«
»Und das bekümmert dich?« fragte Liberius. »Nach allem, was ich hörte, ist das ein dringend gebotenes Gesetz.«
»Natürlich, natürlich«, pflichtete Symmachus bei. »Was mir Kopfschmerzen bereitet, ist, daß Theoderich mir genau diesselbe Botschaft schon vor mehr als einem Monat
überbringen ließ und ich die Eingabe mit einer langen Rede vor dem Senat unterstützt habe. Der Vorschlag wird, und davon habe ich Theoderich bereits in Kenntnis gesetzt, im Senat ohne Schwierigkeiten angenommen werden. Warum
also wiederholt sich Theoderich?«
Für einen kurzen Moment schwieg alles. Dann sagte
jemand großzügig: »Nun, Alter bringt Vergeßlichkeit mit sich...«
Symmachus rümpfte die Nase: »Ich bin älter als
Theoderich. Vergesse ich etwa, meine Toga
zurechtzuziehen, wenn ich aus der Latrine komme? Und
ganz bestimmt vergesse ich nichts, was mit wichtigen
Gesetzen zu tun hat.«
»Allerdings«, wandte ein Dritter ein, »hat ein König an mehr zu denken als ein Senator.«
»In der Tat«, ließ sich Boethius, ein treuer Anhänger
seines Herrn, vernehmen. »Und dieser Tage lastet die sich hinziehende Krankheit der Königin schwer auf Theoderich.
Sie lenkt ihn von allem anderen ab. Cassiodor und ich tun, was in unserer Macht steht, um seine Nachlässigkeiten
auszugleichen, aber manchmal schickt er Botschaften ab, ohne uns zu konsultieren. Doch sind wir fest davon
überzeugt, daß er wieder er selbst wird, sobald Audefleda wieder gesund ist.«
»Wenn Theoderich, selbst in seinem Alter, auf den
Verkehr mit einer Frau verzichten muß«, gab ein
anwesender Medicus zu bedenken, »dann ist es durchaus
möglich, daß er an einer Stauung seiner animalischen Säfte leidet. Die Kanäle des Körpers, das ist wohlbekannt,
verstopfen bei längerer sexueller Abstinenz. Das kann alle Arten von Unwohlsein verursachen.«
»Dann laßt uns doch«, warf ein junger und vorlauter
Patriziersohn ein, »den König hierher nach Rom einladen.
Soll er doch, solange seine Audefleda nicht bereit ist, das Bordell der Dame Melania zur Reinigung seiner Kanäle
benutzen.«
Einige der jüngeren Männer lachten lauthals, aber die
älteren Gäste fühlten sich von dieser unziemlichen
Äußerung abgestoßen und für den Rest des Abends wurde
der Name Melania nicht mehr erwähnt.
Doch auch während der folgenden Monate hörte ich ihren Namen von dem einen oder anderen meiner Freunde und
Bekannten, Männer von Format, meistens in meinem Alter und vom Rang her mindestens so hochgestellt wie ich.
Männer, die über solche Dinge normalerweise vornehm
schwiegen, jetzt aber, ohne dazu aufgefordert worden zu sein, mit verklärter Stimme von den phantastischen Frauen schwärmten, die sie in dem Haus auf dem esquilinischen Hügel besessen hatten.
»Für das wertvollste Juwel in Melanias Sammlung, so
habe ich gehört, hat sie noch keinen passenden Mann
gefunden. Oder vielleicht keinen, der reich und
spendierfreudig genug ist. Ein weibliches Wesen von
erlesenster Seltenheit soll es sein. Jeder Mann in Rom brennt vor Neugierde und hofft, er möge der Glückliche sein, den sie erwählt.«
»Eine wunderschöne Jungfrau, Saio Thorn«, sagte Ewig,
mein Spion, der über alle Geheimnisse Roms im Bilde war.
»Ein Mädchen vom Volk der Chinesen. In Schleier gehüllt wurde sie hierhergebracht und seither vor aller Augen
verborgen. Ihre Haut soll von einem blassen Gelb sein -
überall! - wenn Ihr euch das vorstellen könnt.«
»Ich kann, ich kann«, murmelte ich. »Pfirsichfarben wäre jedoch zutreffender.«
Ewig betrachtete mich eingehend. »Wenn Ihr Euch in
solchen Dingen auskennt, Saio Thorn, vielleicht seid Ihr es dann, für den diese Jungfrau reserviert ist?«
Schon die Mönche in St. Damian hatten es bemerkt:
Unstillbare Neugier war - und ist - meine größte Schwäche.
»Ewig«, sagte ich, »du kennst die Handwerker, die an
diesem Haus gearbeitet haben. Mache dich kundig über den Grundriß des Hauses, groß ist es ja nicht, und die Aufteilung der Zimmer und erstatte mir Bericht.«
So kam es, daß ich mich eines Sommerabends an der Tür
des Hauses auf dem Esquilin vorstellte und von einer nur durchschnittlich hübschen Dienerin in das Empfangszimmer geleitet wurde.
Das Zimmer, das ich als erfahrener Krieger mit einem
Blick erfaßte, war rund und geräumig. In der Mitte stand ein rosafarbener Marmortisch, auf zwei Seiten flankiert von rosa Marmorliegen. Das war die gesamte Einrichtung. Caia
Melania ruhte halb liegend auf der mir und der Tür, durch die ich eingetreten war, zugewandten Liege. In dem Halbrund der Wand hinter ihr waren fünf geschlossene Türen sichtbar.
An einem Ende des Marmortisches stand eine flache
Kristallschale voll frischgepflückter Pfirsiche, jeder einzelne vollkommen, unberührt und von Tautropfen gekrönt. Auf den Früchten lag ein kleines, rotgoldenes Messerchen. In einer großen Kristallkugel auf der anderen Seite schwammen
gemächlich einige kleine, pfirsichfarbene Fische herum, die ihre durchscheinenden Flossen wie zarte Schleier sanft bewegten.
Offensichtlich war rosa, oder pfirsich, Melanias bevorzugte Farbe. Auch die schwere, golddurchwirkte Seidenstola, die sie trug, war in diesem Farbton gehalten. Wie gesagt, sie war keine junge Frau mehr, sondern eine Matrone,
höchstens acht bis zehn Jahre jünger als ich selbst. Für ihr Alter war sie außerordentlich schön. Wohlgeformt, aber immer noch schlank. Ich konnte sehen, wie anziehend ihre Schönheit einst gewesen sein mußte. Jetzt aber hatten die zitternden Finger des Alters Silberlocken in das Gold ihres Haares gewoben und ihre elfenbeinschimmernden Wangen
mit einer Falte hier und da gezeichnet. Doch ihre großen blauen Augen waren strahlend hell, und ihre Lippen waren voll und rot. Sie konnte gut auf Salben und Schminke
verzichten.
Mit einer kurzen Geste hieß sie mich auf der Liege ihr gegenüber Platz nehmen. Ich setzte mich aufrecht hin. Sie fing, ohne ein Lächeln, ohne jegliche einleitende Zeremonie, an, mich auszufragen. In der Tat stellte sie viele Fragen, wobei es mir - obwohl ihre Stimme durchaus liebenswert klang - vorkam, als tue sie das nur der Form halber. Sie mußte also, so vermutete ich, jeden Bewerber schon, bevor er ihr Haus betrat, einer genauen Untersuchung unterzogen haben. Als sie anfing, sich nach meinen Vorlieben und
Neigungen zu erkundigen und dabei ebenso uninteressiert erschien, unterbrach ich das Verhör und warf leichthin ein:
»Ich glaube, Caia Melania, Ihr habt mich des berühmten, unschätzbaren Juwels in Eurem Schmuckkästchen für
unwürdig befunden.«
Sie zog eine Augenbraue nach oben, lehnte sich ein wenig zurück und fragte kühl: »Wie kommt Ihr darauf?«
»Nun, ich habe jede Eurer Fragen mit größtmöglicher
Aufrichtigkeit beantwortet. Es kann euch nicht entgangen sein, daß ich weder ein Patrizier noch einer von Roms
führenden Lüstlingen bin.«
»Ihr glaubt also, des Besten in diesem Haus nicht würdig zu sein?«
»Es ist Euer Haus. Ihr entscheidet.«
»Dann schaut und seht!«
Sie mußte ihr geheimes Zeichen gegeben haben, denn
eine der Türen schwang lautlos auf und gab den Blick auf das chinesische Mädchen frei. Wie ich schon vor einigen Jahren entdeckt hatte, wächst den Frauen der Seres kein verhüllendes Schamhaar. Ihr Gewand aus dem
durchscheinenden Sommergefieder von Gänsen verbarg
nichts, jede kleine Einzelheit präsentierte sich meinen Blicken unverschämt deutlich, und sie hatte offensichtlich gelernt, ihr Pfirsichfleisch so einladend wie nur möglich darzubieten.
»Das ist Eure Rarität?« sagte ich. »Das Juwel in Eurer Sammlung? Für mich? Ich hätte nie zu hoffen gewagt... ich bin überwältigt. « Und strafte meine Worte mit einem
langgezogenen Gähnen Lügen.
Das Mädchen sah verletzt aus. Melania sagte pikiert: »So überwältigt klingt Ihr aber nicht.«
Ich neigte den Kopf und sagte abwägend: »Ich denke... als Ihr, Caia Melania, in Ihrem Alter wart, müßt Ihr sehr viel schöner gewesen sein.«
»Ich bin nicht käuflich«, schnappte sie. »Das Mädchen
schon. Wollt Ihr etwa andeuten, Ihr könntet diesen Reizen widerstehen?«
»Ja. Ich versuche, nach einem Spruch des Dichters
Martial zu leben.« Ich zitierte ihn pedantisch: »›So gelebt zu haben, daß man mit Freuden auf sein Leben zurückblickt, heißt zweimal gelebt zu haben.‹ Ich habe, müßt Ihr wissen, schon früh in meinem Leben ein Mädchen der Chinesen
besessen. Nun besitze ich meine Erinnerungen, mein
zweites Leben sozusagen. Ich empfehle euch, dieses
Mädchen einem unerfahrenen und weniger
abgestumpften...«
»Sie ist einem Mann allein vorbehalten«, zischte Melania.
»Und dieser Mann bin ich? Warum gerade ich?«
»Ich meine...«. Offensichtlich war sie aus dem Konzept geraten. »... Jungfräulichkeit ist einmalig. Solltet Ihr dieses Angebot abweisen und ein anderer Mann würde sich ihrer würdig erweisen...«
Ich nickte. »... dann würde er in den Genuß dieser
einmaligen Erfahrung kommen. Ihr habt recht. Aber die Welt ist voller Wagnisse.«
Melania warf einen Blick auf das Mädchen, das mit
hängenden Schultern dastand, dann sah sie mich lange an.
Schließlich gelangte sie wohl zu dem Schluß, meine
Abgeklärtheit sei nichts weiter als der Versuch, kindische Nervosität zu überspielen. Mit sichtbarer Anstrengung
unterdrückte sie ihre Ungeduld und sagte, bemüht, mich zu entspannen: »Vielleicht habe ich Euch etwas zu sehr
gedrängt, Saio Thorn.« Sie machte eine Handbewegung,
und die Tür schloß sich wieder. »Laßt uns einfach
beieinander sitzen und ein wenig plaudern. Hier, teilt mit mir einen dieser saftigen Pfirsiche.« Melania nahm das
Obstmesserchen zur Hand und wartete höflich, bis ich einen Pfirsich ausgewählt und ihr gereicht hatte. Mit größter Sorgfalt halbierte sie die Frucht, entfernte den Kern und schob eine Hälfte über den Tisch. Ich rührte meine Hälfte nicht an, bevor nicht sie mit Genuß in die ihre gebissen hatte. Lächelnd und mit vollem Mund sagte sie: »Delikat.
Einer dieser Pfirsiche, die man eher trinkt als ißt.«
Ich nahm meine Hälfte in die Hand. Aber ich biß nicht
hinein, sondern preßte die Frucht über dem Fischglas aus.
Kaum waren Saft und Fruchtfleisch in das Wasser getropft, da fingen die Fische an, wie betrunken im Kreis zu
schwimmen, einer drehte sich auf den Rücken und trieb mit dem Bauch nach oben an der Wasseroberfläche. Ich blickte zu Melania hinüber, die sehr weiß im Gesicht geworden war.
Sie machte einen schwachen Versuch, aufzustehen, aber
ich schüttelte nur den Kopf und klopfte auf den Tisch. Auf dieses Zeichen hin öffneten sich alle fünf Türen. In jeder stand ein Soldat mit gezogenem Schwert, bereit, Melania auf mein Zeichen hin zu erschlagen. Ich blieb reglos sitzen und wartete, bis sie von selbst anfing zu sprechen.
»Ich dachte, ich hätte den perfekten Plan«, sagte sie mit leisem Zittern in der Stimme. »Hatte ich nicht an alles gedacht? Unmöglich, daß du meine wahre Identität erkannt hast. Ich habe peinliehst genau darauf geachtet, mich hier in Rom niemals in der Öffentlichkeit sehen zu lassen. Aber du hast es gewußt, noch bevor du mein Haus betreten hast.
Wie nur?«
»Ich wußte wohl, was, aber nicht wer mich erwarten
würde«, gestand ich ihr. »Ich selbst habe einem Mann
einstmals eine sehr ähnliche Falle gestellt. Ich hatte zwar keinen solch exotischen Köder wie du und, was das betrifft, auch weniger Geduld als du sie bewiesen hast, aber im
großen und ganzen war meine Idee dieselbe. Zudem
verfüge auch ich über einige Erfahrung mit der
Verabreichung von Giften. Das Mädchen ist eine Venefica, nicht wahr?«
Sie nickte ergeben.
»Und für den Fall, daß ich sie verschmähen würde« - ich hielt das Obstmesserchen in die Höhe - »war eine Seite der Klinge mit Gift präpariert, nur eine Seite. Oder?« Sie nickte erneut. »Wie wäre ich gestorben? Unter Zuckungen und
Krämpfen? Damit du hättest zusehen und lachen können?
Oder langsam, sprachlos und gelähmt, damit du mir hättest sagen können, warum ich sterben mußte? Oder...«
»Nein«, unterbrach sie mich. »Schnell und schmerzlos,
gnädig. Wie die hier.« Sie deutete auf die Kugel, in der inzwischen alle Fische leblos an der Wasseroberfläche
trieben.
»Und wenn ich mich zu der Venefica gelegt hätte?«
»Genauso. Das schnellste, sicherste und gnädigste aller bekannten Gifte. Es wird aus den Stacheln des Seeigels gewonnen. Ich wollte dich nicht leiden lassen. Ich wollte nur Rache, Rache für jene, die du erschlagen hast. Aber
sinnlose Qualen...? Nein.«
Ich seufzte. »Es ist so viele Jahre her, seit ich zuletzt jemanden tötete. Warum hast du so lange gewartet?«
»Ich habe nicht gewartet. Ich war sehr beschäftigt
während all dieser Jahre. Es fiel mir leicht, diejenigen zu finden, die die Drecksarbeit gemacht haben. Aber die bloßen Instrumente interessierten mich nicht. Ich wollte jene, die die Befehle gegeben hatten. Das herauszufinden dauerte
länger. Dann, als ich herausfand, daß du es warst, mußte ich einen Plan entwickeln. Und ich mußte an dich
herankommen.«
Ich lachte kurz. »Vor demselben Problem stand ich damals auch, als ich meine Falle aufgestellt hatte.«
»Viele Jahre lang bist du hierhin und dorthin gereist. Ich mußte darauf achten, dich nicht aus den Augen zu verlieren.
Als du dich endlich in Rom niederließest, beschloß ich, hier meine Falle aufzubauen. Mehr Zeit verging, denn ich wollte einen Köder, der dich unfehlbar anlocken würde, dem du nicht würdest widerstehen können.« Sie lächelte wehmütig.
»Ich vergaß, deine große Erfahrung in Betracht zu ziehen.
Übrigens: Womit hast du damals deine Männerfalle
bestückt?«
»Mit mir selbst. Es gab sonst niemanden.«
Sie sah mich etwas verwirrt an, fuhr aber fort: »So richtete ich vor vierzehn Jahren meine ganze Energie darauf, einen weiblichen Säugling der seltensten Rasse zu erstehen. Ich sandte Emissionäre in die entferntesten Länder - du kannst dir vorstellen, was für ein langes, aufreibendes und oft frustrierendes Unterfangen das gewesen sein muß. Dann, als ich endlich Erfolg hatte, mußte ich sie mit diesem Gift aufziehen, sie an es gewöhnen, sie damit durchtränken. Die Stacheln des Seeigels geben das Gift nur in winzigen
Mengen ab. Das zwang mich, außer allem anderen, auch
noch eigene Fischerboote auf See zu schicken.« Sie zuckte die Schultern. »Alles umsonst.«
»Du hast die Mörder, die Handlanger, mit deiner Rache
verschont«, sagte ich. »Du mußt gewußt haben, daß ich auf Theoderichs Weisung gehandelt habe. Warum hast du mich nicht verschont und dich an ihm schadlos gehalten?«
»Das hätte ich getan, hätte ich nur die geringste Chance gesehen, zu ihm vordringen zu können. Außerdem wäre das immer noch möglich gewesen, wenn ich mit dir fertig
gewesen wäre.« Vorsichtig fügte sie hinzu: »Es wäre immer noch möglich...«
»Hast du gehört?« wandte ich mich an den Optio der
Soldaten. »Eine Drohung gegen den König.«
»Ich habe es gehört, Saio Thorn.« Der Optio trat vor.
»Sollen wir sie töten?«
Ich bedeutete ihm, seinen Arm zurückzuhalten. In diesem Moment sagte sie: »Thorn, lieber den Tod als das
Tullianum.«
Ich ging nicht darauf ein, sondern fragte sie: »Und der Name? Melania?«
»Ein Vorwand. Ich nahm ihn von der Frau, die deine
Soldaten statt meiner erschlugen. Melania war die
Schwester meines Mannes.«
Ich erinnerte mich an die Umstände, wie sie mir damals berichtet worden waren und nickte. »Und der Name, unter dem ich dich kannte? Bist du jemals zurückgegangen zu
dem Eisfluß und hast nachgeschaut, ob unsere Namen sich bergabwärts bewegt haben?«
»Nein. Ich habe lange gewartet und gehofft, du würdest eines Tages zurückkehren. Als ich dann Alypius geheiratet habe, bin ich mit ihm nach Süden gezogen und seitdem nie mehr nach Haustaths zurückgekehrt. Alypius und ich haben uns in Tridentum ein angesehenes Geschäft aufgebaut.«
»Das habe ich gehört. Aber ich weiß auch noch, wie du
einmal gesagt hast, du wolltest deinen eigenen Weg
gehen.«
»Das habe ich getan. Ich war nicht nur Caia Alypia, eine Muschel am Rumpf der prosperierenden Galeere meines
Mannes. Ich habe ebenso hart und ebenso erfolgreich
gearbeitet wie er. Eben weil ich auf Reisen war, in einer in den Bergen gelegenen Plantage, und über den Kauf der
Olivenernte verhandelte, war ich an dem Tag, als die
Soldaten kamen, nicht zu Hause. Als ich heimkam, waren Alypius und Melania tot und meinen verschleppten Vater, da war ich mir sicher, erwartete dasselbe Schicksal. Das war schon schlimm genug, aber dann, als sie mir meinen Bruder in dem Salzsack zeigten... zusammengeschrumpft,
ausgedörrt, grau, wie ein Stück geräucherter Speck. Das war der schlimmste Tag meines Lebens nach jenem Tag,
als...« Ihre Stimme schwankte.
»Alypius hat seine Schwester für dich geopfert. Du und er, hattet ihr Kinder?«
»Damit sie auch getötet worden wären?« brauste Livia in ihrem alten Kinderzorn auf. Da ich nichts darauf erwiderte, sprach sie weiter. »Nein, wir hatten keine Kinder. Hätten wir welche gehabt, wer weiß, vielleicht hätte ich von meinen Rachegedanken abgelassen. Aber so stärkte die Erkenntnis, daß auch mein Vater und mein Bruder tot waren, nur noch meine Entschlossenheit. Ich weiß, du hast sie in Hausthats schon verachtet. Ich glaube, ich empfand dasselbe. Doch sie waren alles, was ich hatte. Und nun werde ich ihnen folgen.
Bitte, Thorn, laß uns das hier zu Ende bringen.«
»Du sagtest, der Tag, als du nach Tridentum
zurückgekehrt bist, sei der schrecklichste Tag deines
Lebens gewesen, außer...Was war noch schrecklicher,
Livia?«
Sie zögerte, dann flüsterte sie: »Der Tag, als ich
herausfand, daß du der Mörder warst, dem ich nachjagte.
Daß du es warst.« Sie stand auf und blickte mir ohne Angst ins Gesicht: »Kann ich jetzt sterben?«
»Ich glaube nicht. Du warst nachsichtig genug, mir einen leichten Tod zu wünschen. Zum Dank kann ich es
wenigstens Alypius gleichtun und dir dein Leben schenken.
Du wirst aber sicherlich verstehen, daß ich eine solch entschlossene und unerbittliche Gegnerin nicht einfach in die Freiheit entlassen kann. Wenn du für mich eine Gefahr
darstellst, kann ich das verantworten. Aber für den König, nein.«
Ich wandte mich dem Optio zu. »Nehmt alle, egal ob
Diener oder Hure, mit. Alle, bis auf das Mädchen aus China.
Sie laßt hier. Überbringt die anderen dem Präfekten Liberius.
Er soll sie auf die lizensierten Bordelle verteilen. Eine Aufgabe, die ihm zusagen wird. Dieses Haus bleibt
geschlossen. Und sorgt dafür, daß es von jetzt ab Tag und Nacht bewacht wird.«
Der Optio salutierte. Er und die anderen Soldaten
verschwanden. Zu Livia sagte ich: »Du stehst unter
Hausarrest für den Rest deines Lebens. Als einzige Dienerin lasse ich dir die Chinesin. Auch Wachen werden dir zu
Diensten sein - Einkäufe tätigen, Botschaften übermitteln, was auch immer. Aber niemals mehr wirst du diese Tür
durchschreiten, und niemand wird zu dir hereinkommen
dürfen.«
»Thorn, ich sagte dir bereits, lieber den Tod als das
Gefängnis.«
»Das hier ist kaum das Tullianum. Ich nehme an, du hast es nie von innen gesehen. Ich schon.«
»Bitte, Thorn. Gib mir das Obstmesserchen, nur für einen Augenblick. Um dessentwillen, was wir einst...«
»Livia, wir sind weit von dem entfernt, was wir einst waren.
Schau uns an. Wir sind alt geworden. Selbst ich, reiselustig wie ich bin, würde diese Strafe nicht unerträglich finden.
Zumindest für die Zeit, die mir noch geblieben ist.«
Sie sank in sich zusammen und sagte: »Vielleicht hast du ja recht.«
»Und falls du es doch unerträglich finden solltest - das Alter oder die Gefangenschaft - dann reicht es, wenn du deine Dienerin küßt.«
Sie lachte freudlos. »Ich habe noch nie eine Frau geküßt.«
Ich dachte kurz darüber nach und sagte dann: »Und mich auch nicht.«
Damit nahm ich sie in die Arme und legte meine Lippen
auf die ihren. Eine unendliche Minute lang blieb sie passiv, dann reagierten ihre Lippen auf meinen Kuß. Ich fühlte, wie sie erschauerte und sich dann von mir zurückzog. Ihre
Augen suchten mein Gesicht. In ihrem Gesicht konnte ich weder Wut noch Abscheu oder Haß lesen. Nur ein Ausdruck von Verwirrung, der langsam umschlug in Verwunderung. So verließ ich sie.
8
Theoderich hatte den Herbst seines Lebens so kraftvoll und wach durchschritten wie sein ganzes bisheriges Leben.
Aber als Königin Audefleda krank wurde und starb, sah ich den Winter Einzug halten. Dieser Schlag traf ihn sehr viel härter als der Verlust Auroras - wahrscheinlich, weil er und Audefleda die Erfahrung des Alterns miteinander geteilt hatten. Ich habe beobachtet, daß das sehr oft ein noch engeres Band zwischen Mann und Frau knüpft als Liebe,
obwohl die beiden sich unzweifelhaft auch in Liebe
verbunden gewesen waren. In den fünf Jahren nach
Audefledas Tod alterte Theoderich sehr schnell.
Symmachus, der sich über die Vergeßlichkeit des Königs, der ihm zwei identische Botschaften geschickt hatte, beklagt hatte, drückte nur aus, was wir alle sahen, aber nicht sehen wollten.
Einige Zeit später war ich auf einen Empfang geladen, den der König zu Ehren einiger in Ravenna weilender fränkischer Edelmänner gab. Während des Nachtmahls unterhielt
Theoderich die versammelte Gesellschaft mit Geschichten über vergangene Schlachten und Taten, zum Beispiel über die Eroberung des angeblich unbezwingbaren Schatzturms in Siscia.
»Und das mit Hafer! Könnt Ihr es glauben?« rief
Theoderich ausgelassen. »Mit Hafer gefüllte Keile aus Zinn!
Wir nannten sie unsere Trompeten von Jericho. Dieser
geniale Einfall stammte von diesem jungen Marschall an meiner Seite hier...« Er wies auf mich, dann kam er ins Stottern, »... dem jungen Marschall... äh...«
»Thorn«, raunte ich ihm verlegen zu.
»Ach ja, dem jungen Saio Thorn hier.« Während er
erzählte, wie erfolgreich diese zinnernen Trompeten
gewesen waren, betrachteten die Gäste mich verwundert
und fragten sich sicherlich, warum er mich »jung« genannt hatte.
Schallendes Lachen brandete auf, als Theoderich mit der Geschichte fertig war. Da bemerkte einer der Franken:
»Seltsam, ich war zwischenzeitlich in Siscia. Allein, der Schatzturm schien mir unbeschädigt und keiner der Bürger der Stadt erwähnte eine solche Begebenheit. Ich würde
doch denken, daß sie ein solch erinnerungswürdiges
Ereignis...«
»Wahrscheinlich ziehen die Siscianer es vor, sich nicht zu erinnern«, fiel Boethius ihm lachend ins Wort und lenkte das Gespräch schnell auf ein anderes Thema.
Natürlich wäre es niemandem an Theoderichs Hof auch
nur im Traum eingefallen, ihn öffentlich zu korrigieren. Aber ich stand ihm nahe genug, um ihn später unter vier Augen auf seinen Lapsus anzusprechen.
»Die Trompeten von Jericho haben wir in Singidunum
eingesetzt. In Siscia haben wir den Schatzturm unterhöhlt und gedroht, ihn zum Einsturz zu bringen, wenn sie uns nicht einlassen.«
»Wirklich?« Einen Moment lang war Theoderich verwirrt.
Doch dann blickte er mich ungehalten an und sagte: »Ja und? Was paßt dir nicht? Habe ich dich etwa nicht gelobt?«
Dann klopfte er mir kameradschaftlich auf die Schulter und tat den Vorfall als belanglos ab. »Ach was! Eine gute
Geschichte soll man nicht mit belanglosen Einzelheiten überladen. Und gut, Soas, war sie doch, meine
Geschichte?«
*
»Marschall Soas ist seit einem Jahrzehnt tot«, sagte ich niedergeschlagen. »Theoderich und ich sind seit über fünfzig Jahren befreundet, aber in letzter Zeit spricht er meinen Namen oft falsch aus oder vergißt ihn sogar.«
»Welchen deiner Namen?« lachte Livia.
»Thorn. Er weiß nichts von Veleda. Du gehörst zu den
wenigen, mit denen ich mein Geheimnis geteilt habe.«
»Warum weihst du ihn nicht ein?« Dabei grinste sie so
schalkhaft wie damals, als sie noch ein Kind war. »Gerade weil er so vergeßlich ist, wäre es gut, wenn du zwei Namen hättest. Vielleicht könnte er sich dann wenigstens an einen davon erinnern.«
Ich mußte lachen, fügte aber mit einem bitteren Unterton hinzu: »Nein! Ich habe es ihm all diese Jahre nicht gesagt.
Dieses Geheimnis werden wir mit uns ins Grab nehmen.
Zudem lebt Veleda außerhalb deiner Gesellschaft schon
lange nicht mehr.«
Livia die Wahrheit über mein doppeltes Wesen zu
gestehen war mir nicht schwergefallen. Bereits als ich sie dieses eine erste Mal küßte, wußte ich, daß sie die Wahrheit ahnte - falls sie es nicht schon damals als kleines Mädchen in Hausthats erraten hatte. Mein Geständnis hatte sie weder belustigt noch schockiert oder gar abgestoßen. So ruhig hätte sie früher, als wir beide noch jünger waren, wohl kaum reagiert. Doch zu unser beider Glück waren wir inzwischen jenseits des Alters, in dem sich Frauen und Männer stets als potentielle Geliebte betrachten - sonst hätte eine Frau wie Livia mein Geständnis mindestens mit Erstaunen, vielleicht mit Enttäuschung, wahrscheinlich aber eher mit einem
perversen Interesse an meiner sexuellen Doppelnatur
aufgenommen, keinesfalls aber gleichmütig.
Als ich ihr sagte »Ich bin ein Mannamawi, ein androgyner Mensch, ein Wesen mit zwei Geschlechtern!« zeigte Livia kein Erstaunen, noch stellte sie irgendwelche Fragen,
sondern sie wartete gelassen, ob ich ihr sonst noch etwas zu sagen hatte. Nie hat sie darauf gedrängt, den physischen Beweis meiner Abnormität zu sehen. Und genausowenig hat sie herauszufinden versucht, wie es war, als Mannamawi gelebt und geliebt zu haben. Mit der Zeit jedoch - ich bin jetzt immer öfter bei ihr, wenn ich nach Rom komme - habe ich ihr von mir aus viel über mich, über uns, erzählt.
Wir kommen sehr gut miteinander aus. Wir drei, sollte ich wohl sagen. Natürlich komme ich immer als Thorn, aber
sobald ich eingetreten bin, kann ich mit ihr genauso
unkompliziert von Mann zu Frau wie von Frau zu Frau
reden. Und wir sprechen über viele Dinge, über die ich mit anderen nicht reden kann oder will. Immerhin habe ich Livia viel früher kennengelernt als alle anderen Menschen, die mich heute umgeben. Ich kenne sie sogar länger schon als Theoderich, um den in letzter Zeit die meisten unserer Unterhaltungen kreisen.
»Das war nicht nur so im Spaß gesagt«, sagte sie jetzt.
»Warum nicht Theoderich die Wahrheit über dich sagen?«
»Luifs Guth!« rief ich aus. »Ihm sagen, daß ich ihn seit mehr als einem halben Jahrhundert getäuscht habe? Wenn er nicht sofort einem Herzschlag erliegen würde, dann würde er dafür sorgen, daß ich auf eine sehr viel garstigere Art zu Tode komme.«
»Das bezweifle ich«, wandte Livia ein. Feinfühlig
verzichtete sie darauf, auf das Offensichtliche hinzuweisen: daß sich sowieso niemand darum schert, welchen
Geschlechts ein alter Greis wie ich wirklich war. »Versuch es. Sag's ihm.«
»Wozu? Am Hof sorgen sich alle auch so schon über die
zusehends nachlassende Geisteskraft des Königs. Es
könnte ihn allzusehr aufregen, wenn ich ihm jetzt...«
»Du hast doch gesagt, sein Leiden sei erstmals mit der Erkrankung der Königin aufgetreten und habe sich
verschlimmert, als sie starb. Und hast du nicht gesagt, die einzige Frau in seiner Nähe sei heutzutage seine Tochter, die wie ein Fluch auf ihm zu lasten scheint? Vielleicht würde die Gesellschaft einer Frau Theoderich wieder auf die Beine helfen. Einer Frau in seinem Alter, einer Frau, die ihn gut kennt. Und die, wie sich ganz überraschend herausstellt, ihm Zeit seines Lebens ein enger Freund war. Veleda könnte für ihn die Rettung sein.«
»Wie du für mich?« fragte ich lächelnd -
und
kopfschüttelnd. »Ich danke dir für deinen Vorschlag, Livia, aber... nein! Theoderich müßte schon in äußerster Not sein, damit ich mein Schweigen brechen würde.«
»Dann«, sagte sie, »ist es vielleicht schon zu spät.«
»Theoderich war schon immer ein Hitzkopf.« Wieder saß
ich bei Livia, wieder sprachen wir über den König. »Man braucht nur daran zu denken, wie er Camundus, Rekitach und Odoaker erschlug - und wie daraus manches Übel
erwachsen war. Jetzt aber hat sich sein ganzer Charakter verändert. Man hört ihn nur noch selten lachen. Er ist argwöhnisch und nachtragend geworden. Es macht mir
schon genug Sorgen, wenn er hoffnungslos den Kopf
hängen läßt, aber wer kann schon vorhersagen, welche
Dummheit er in einem seiner Tobsuchtsanfälle zu begehen in der Lage ist?«
Livia dachte darüber nach, während ihre Dienerin uns
Süßspeisen servierte. Dann sagte sie: »Du und Theoderichs Freunde und Berater müßt es den alten Makedoniern
gleichtun.«
»Ja? Und das wäre?« sagte ich und biß in einen kleinen Kuchen.
»Der makedonische König Philip war ein berüchtigter
Säufer, der entweder vom Wein völlig benebelt war oder unter den Nachwirkungen seiner Ausschweifungen litt.
Seinen armen Höflingen und Untertanen blieb, so wird
gesagt, nur ein Ausweg: Wenn Philip einmal nüchtern war, legten sie gegen seine im Alkoholwahn getroffenen
Entscheidungen Berufung ein.«
Ich lächelte ihr anerkennend zu. Schon als Kind war Livia aufgeweckt und schlau gewesen. Offensichtlich hatten die Jahre nicht nur Grau in ihr Haar und Falten in ihr Gesicht gewoben, sondern ihr noch mehr gegeben. Bildung...
»... und Weisheit«, murmelte ich halblaut. Das Gebäck, das ich aß, schmeckte sehr seltsam. »Livia, ich dachte, du hättest deine Rachegelüste aufgegeben. Für einen
Honigkuchen schmeckt das hier ungewöhnlich bitter.«
Sie lachte. »Nein, ich versuche nicht, dich zu vergiften.
Ganz im Gegenteil. Diese Kuchen werden mit korsischem
Honig gebacken. Und der ist bitter, denn dort wachsen nur Eiben und Schierling. Die Korsen, das ist allgemein bekannt, leben sehr lange, und deswegen wird der Honig von vielen Ärzten als lebensverlängerndes Mittel empfohlen.« Mit
gespielter Verzweiflung fügte sie hinzu: »Da hast du's. Da ich deine Gefangene bin und nur du mich besuchen kommst, versuche ich jetzt, dich bis in alle Ewigkeit am Leben zu erhalten.«
»Bis in alle Ewigkeit?« Ich ließ den angebissenen Kuchen liegen und wiederholte, mehr zu mir selbst als zu ihr: »Bis in alle Ewigkeit? Ich habe vieles gesehen und vieles getan -
und nicht nur Schönes. Ewig leben? Immer so viel vor sich wie hinter sich zu haben? Nein... diese Vorstellung
erschreckt mich. Lieber nicht.«
Da Livia mich mit der warmen Fürsorge ansah, wie sie
einer Schwester oder Ehefrau zu eigen sind, sprach ich weiter. »Genau das ist es, was so traurig ist an Theoderich.
Er hat einfach zu lange gelebt. Seine guten Taten, seine Größe, das alles läuft Gefahr, von irgendeiner törichten Handlung, zu der ihn sein Alter, nicht sein Wille, veranlaßt, zunichte gemacht zu werden.«
Livias Ausdruck war immer noch von dieser Wärme erfüllt, als sie antwortete: »Ich sagte es dir bereits. Was er braucht, ist die Aufmerksamkeit einer guten Frau.«
»Nicht die dieser Frau.« Ich schüttelte den Kopf.
»Warum nicht? Welche wäre besser geeignet?«
»Als Thorn habe ich Theoderich meinen Eid geschworen.
Sollte ich als Thorn jemals gezwungen werden, gegen
diesen Eid zu verstossen, dann wäre ich in den Augen aller Menschen, selbst in meinen eigenen, entehrt und nicht
würdig, weiterzuleben. Veleda jedoch hat niemals einen solchen Schwur abgelegt...«
Alarmiert sagte Livia: »Fast fürchte ich zu mich fragen.
Woran denkst du?«
»Du bist eine gebildete Frau. Kennst du die wahre
Bedeutung des Wortes ›devotio‹?«
»Ich glaube schon. Steht es heute nicht für ein Gefühl, eine äußerste Hingabe? Früher aber bezog es sich auf eine Handlung, ein Opfer?«
»Genau. Das Wort leitet sich ab von ›Votum‹, der Schwur, das Gelübde. Vor dem Kampf beteten die römischen
Kommandeure zu Mars oder Mithras und gelobten auf dem
Schlachtfeld den Tod zu suchen, sollte der Gott des Krieges ihnen den Sieg und ihrer Armee, ihrem Volk und ihrem
Kaiser das Überleben schenken.«
»Sein Leben aufgeben, damit die anderen leben und
fortbestehen können«, sagte Livia mit bedrückter Stimme.
»Mein Lieber,... was hast du nur vor?«
9
Im Jahr 523 stand länger als zwei Wochen ein Stern am
Himmel, sichtbar sogar im hellen Tageslicht. Es war einer jener Sterne, den manche einen rauchenden Stern nennen, andere einen Stern mit langen Haaren und den wieder
andere als einen fackeltragenden Stern bezeichnen. In der Folge schrieen alle Priester, ob Christen oder Juden, und jeder heidnische Augur und Wahrsager »Wehe uns!« und
verkündeten, dieser oder jener Gott habe das Ende der Welt beschlossen.
In der Tat ereigneten sich zahlreiche unerwartete Dinge in diesein Jahr, aber ich konnte weder Gottes Hand noch die irgendwelcher anderer Götter darin erkennen; es waren
samt und sonders Werke sterblicher Männer und Frauen. So setzten Justinian und seine Kurtisane Theodora in diesem Jahr und mit tatkräftiger Unterstützung der Kirche das Gesetz der »wundertätigen Buße« durch, um endlich
heiraten zu können. Nachdem nun Justinian seine
persönlichen Verhältnisse in Ordnung gebracht hatte,
wandte er sich der seiner Auffassung nach vordringlichsten Aufgabe zu: den Rest der Welt in Ordnung zu bringen,
sprich der Oberaufsicht der katholischen Kirche zu
unterstellen. Die in Konstantinopel verkündeten Erlasse wurden natürlich immer noch von Kaiser Justinus
unterzeichnet, aber die Worte waren die Justinians. Als bekanntgegeben wurde, daß hinfort kein Heide oder
Ungläubiger oder Häretiker mehr einen offiziellen Posten, weder im Militär noch in der Zivilverwaltung, bekleiden dürfte, fügte Justinian hinzu: »Jedermann kann nun
erkennen, daß denen, die nicht den wahren Gott verehren, nicht nur die Freuden des Paradieses, sondern auch die weltlichen Güter vorenthalten werden.«
Diese Anweisung galt - noch - nicht westlich der Provinz Pannonien, aber Theoderich fühlte sich nicht ohne Grund bedroht. Gemäß dem vor langem mit Zenon getroffenen
Abkommen war er noch immer, zumindest dem Buchstaben
nach, »Abgesandter und Statthalter« des Kaisers in
Konstantinopel. Falls Justinus einen ähnlichen Erlaß für die Bewohner von Theoderichs Reich verfügen würde, dann
würde Theoderich sich entscheiden müssen: nachgeben
oder offen gegen den Lehnsherren in Konstantinopel
rebellieren. Theoderich und seine arianischen Untertanen waren jedoch nicht die einzigen, die Unheil heraufziehen sahen. Auch die Einsichtigeren unter den katholischen
Christen im gotischen Königreich und die Senatoren in Rom waren beunruhigt. Die Senatoren sahen sich immerhin als Hüter dessen, was vom weströmischen Reich
übriggeblieben war. Und sie hatten keineswegs vergessen, daß der Westen seit über zweihundert Jahren mit dem
Osten im Wettstreit um Macht und Einfluß lag.
Von einem gleichartigen Konflikt war das Verhältnis der Kirche Roms zu der Konstantinopels überschattet. Man
sollte annehmen, daß alle aufrechten katholischen Christen ein kaiserliches Dekret willkommen heißen würden, welches Juden, Heiden und Häretikern überall in der Welt zum
Schaden reichte. Aber die Erzbischöfe innerhalb der
christlichen Kirche strebten seit langem danach, als der Patriarch, der primus inter pares, der souveräne Pontifex, der Papst anerkannt zu werden. Fast gleichzeitig mit
Justinus' Veröffentlichung des Dekrets starb der Erzbischof von Rom, Hormisdas, und wurde durch einen gewissen
Johannes ersetzt. Der war, wie unschwer einleuchtet, wenig entzückt, ein Bischofsamt anzutreten, welches von
Konstantinopel gerade erst so deutlich auf die Ränge
verwiesen worden war. Während der willfährige Kaiser
Justinus dem oströmischen Erzbischof Ibas mit dem Dekret zu vermehrter Macht und höherem Ansehen verhelfen hatte, konnte Johannes von Theoderich keine gleichwertige Hilfe erhoffen. Und das brachte Johannes und seine Gefolgsleute nur noch mehr gegen Theoderich auf. Aber sie waren nur die unversöhnlichsten seiner Feinde. Wenn es eine Sache gab, die alle anastasischen Christen - Orthodoxe in Ostrom, Katholiken in Afrika, Gallien und im gotischen Königreich - in Brüderschaft vereinte, dann war es ihr fester Entschluß, der unerträglichen Toleranz ein Ende zu bereiten, die
Theoderich und seine arianischen Getreuen Heiden,
Häretikern, Juden und allen anderen Unchristen
entgegenbrachten.
Doch die dunklen Wolken, die sich in diesem Jahr des
taghellen Sterns, im Jahre des Herren 523, jenseits der Grenzen des gotischen Königreiches zusammenbrauten,
waren nicht so bedrohlich wie jene, die direkt über uns hingen. Wir, Theoderichs engste Freunde und Berater,
verzweifelten an der Frage, wer in der Lage sein könnte, unserem geliebten König auf den Thron nachzufolgen, das Land zu führen, für das er und wir gekämpft und das wir dann in harter Arbeit zu neuer Größe geführt hatten. Einen idealen Nachfolger, einen würdigen Ostgoten aus der
amalischen Linie, gab es nicht. Die Soldaten unter uns schlugen General Tulum vor. Er war ein guter Kandidat.
Zwar konnte er kein Geburtsrecht geltend machen, aber er war ein Ostgote und besaß alles, was einen König
ausmacht. Zu unserer Enttäuschung jedoch wies er das
Angebot glattweg zurück. Er und seine Vorfahren hätten, wandte Tulum ein, den amalischen Königen stets treu
gedient, und er würde sich hüten, mit dieser Tradition zu brechen.
Währenddessen verlieh Ostrom, das Dreigestirn Justinus, Justinian und Theodora, seinem Machtanspruch gegenüber dem gotisehen Königreich Nachdruck. Zwar wollten sie Theoderich nicht zu kriegerischen Handlungen verleiten, doch seinen Untertanen vor Augen führen, daß das gotische Königreich, wenn erst Theoderich tot wäre, Konstantinopel wie eine reife Frucht in die Hände fallen würde. Zweifellos hegten die Herrscher der anderen angrenzenden Nationen ähnliche Hoffnungen. Vermutlich fürchteten sie noch nicht einmal, um den gotischen Kadaver streiten zu müssen. Da die meisten unserer Nachbarn inzwischen durch die
Zugehörigkeit zur katholischen oder orthodoxen Kirche
verbunden waren, war es durchaus vorstellbar, daß sie
längst schon einvernehmlich geregelt hatten, wem welche Ländereien zufallen würden. Solange Theoderich noch lebte und nicht ganz der Senilität verfiel, würden sie keinen Angriff wagen. Stattdessen warteten sie darauf, wie die Aasgeier über das Land herfallen zu können.
Dreißig Jahre lang hatte die römische Kirche unablässig und erfolglos versucht, Theoderich ernsthafte
Schwierigkeiten zu bereiten, aber die Opposition gegen ihn hatte nicht ein Jota nachgelassen. Fast jeder katholische Bewohner des Königreiches, von Roms Erzbischof
Johannes bis zum letzten höhlenbewohnenden Eremiten,
hätte laut gejubelt, wenn irgendein Nichtarianer den Thron an sich gerissen hätte. Ich sage »fast«, denn sowohl unter den Gemeinen wie den Adligen gab es Männer und Frauen, die zwar durch ihr Glaubensbekenntnis dazu verpflichtet waren, der Sichtweise der Kirche zu folgen und nicht für sich selbst zu denken, die aber dennoch verständig genug waren zu sehen, welche Katastrophe das Ende des gotischen
Königreiches für das Land bedeuten würde.
Auch die Senatoren in Rom waren gegenüber dieser
Gefahr nicht blind. Obgleich sie fast ausnahmslos dem
katholischen Glauben anhingen und somit zur Opposition gegen die häretischen Goten verpflichtet waren, und obwohl sie fast ausnahmslos hochgeborene Römer waren, die es
naturgemäß vorziehen mußten, wieder von einem der ihren regiert zu werden, waren sie doch auch pragmatische
Männer. Rom und Italien, das gesamte einstige
weströmische Reich, war von Theoderich vor dem Absturz ins Nichts gerettet worden und hatte in der Folgezeit eine seit vier Jahrhunderten nicht mehr dagewesene Periode
innerer und äußerer Stabilität erlebt und stetig wachsenden Wohlstand genossen. Die Senatoren übersahen keineswegs die Gefahr, die von den an den Grenzen lauernden Franken und Vandalen -
und selbst von kleineren, einst
unterdrückten, alliierten oder zu vernachlässigenden Völkern wie den Gepiden, Rugiern oder Langobarden - ausgehen
würde, wenn das gotische Königreich von einem weniger
fähigen Mann als Theoderich geführt werden würde. Die
Senatoren schienen der Devise »Lieber die Barbaren, die wir kennen, als die Barbaren, die wir nicht kennen«
anzuhängen. Wie wir an Theoderichs Hof diskutierte und stritt der Senat über die Befähigung dieses oder jenes Kandidaten für die Thronnachfolge, ohne es als
Hinderungsgrund zu betrachten, wenn der Kandidat
gotischer Abstammung oder arianischen Glaubens war. Wie wir fanden auch die Senatoren niemanden.
Zwar betrachteten die Senatoren zu Recht jede
ausländische Nation mit mißtrauischen Augen, vor allem aber fürchteten sie ein nicht im mindesten barbarisches Reich: ihren alten Rivalen im Kampf um die Vorherrschaft, das oströmische Reich. Diese Furchtsamkeit des Senats war es, die zu dem beklagenswertesten Geschehnis führte, das sich in dem Jahr des Tagsternes ereignete.
Der Senator Cyprianus klagte Albinus, der ebenfalls ein Senator war, an, mit Konstantinopel in verräterischem
Briefwechsel zu stehen. Der Vorwurf konnte ernst sein oder auch nur billige Verleumdung. Es war nicht ungewöhnlich, daß ein Senator einem anderen die widerwärtigsten Untaten vorwarf. Verleumdung war und ist ein weithin angewandtes Mittel im Kampf um politische Vorteile. Soweit ich weiß, hatte Albinus in der Tat mit Staatsfeinden konspiriert. Aber das ist jetzt ja auch gleichgültig.
Als fatal erwies sich, daß der angeklagte Albinus ein enger Freund des Magister Officiorum Boethius war. Hätte
Boethius sich aus der ganzen Sache herausgehalten, dann wäre vielleicht gar nichts weiter passiert. Doch er war ein guter Mann, der nicht tatenlos dabeistand, wenn ein Freund verleumdet und des Verrats bezichtigt wurde. Ein Vorwurf, auf den der Tod stand. Als der Senat für die Verhandlung von Albinus zum Gericht zusammentrat, trat Boethius vor die Richter und hielt eine Verteidigungsrede, die er mit den Worten »Wenn Albinus schuldig ist, dann bin ich es auch!«
schloß.
»In meiner Kindheit mußte ich die Kunst der Rede
studieren«, sagte ich betrübt zu Livia. »Diese Äußerung von Boethius stammt aus den Lehrbüchern, jeder Schüler hätte sie als das erkannt, was sie war: ein elentisches Argument über die Natur der Wahrscheinlichkeit. Aber der Gerichtshof des Senats...«
»Sicherlich einsichtige Männer.« Livias Bemerkung klang eher wie eine Frage denn wie ein Feststellung.
»Man kann«, seufzte ich, »von den vorgelegten Fakten
oder den Aussagen ausgehen. Die Fakten kenne ich nicht, ich habe dem Prozeß nicht beigewohnt. Als Beweis wurden Briefe vorgelegt, Briefe, die echt oder auch gefälscht gewesen sein mögen. Das kann ich nicht sagen. Jedenfalls befanden die Richter Albinus aufgrund der vorgelegten
Beweise für schuldig. Und Boethius, der gesagt hatte ›Dann bin ich es auch‹, nahmen sie beim Wort.«
»Das ist doch lächerlich! Der Magister Officiorum des
Königs ein Verräter?«
»Er selbst hat es bezeugt. Rhetorisch zwar nur, aber ja, er hat es gesagt.« Ich seufzte erneut. »Ich will nicht ungerecht sein, man kann die Richter verstehen. Sie waren
Theoderichs veränderter Einstellung gewahr, seiner
Neigung, allem und jedem Mißtrauen entgegenzubringen.
Wie sollten sie selbst dagegen gefeit sein? Und wenn die Beweise Albinus der Schuld überführten...«
»Aber Boethius! Rom hat ihn mit dreißig Jahren zum
Consul Ordinarius ernannt. Einer der jüngsten jemals...«
»Und jetzt, mit vierzig, nach eigenem Geständnis des
Verrats an Rom schuldig.«
»Unvorstellbar. Absurd.«
»Der Gerichtshof bestätigte lediglich seine Aussage. Und das war gleichzeitig der Schuldspruch.«
»Und die Strafe?«
»Auf Hochverrat, Livia, steht nur eine Strafe.«
»Der Tod...«, keuchte sie.
»Das Urteil muß zuerst noch vom gesamten Senat
angenommen und vom König bestätigt werden. Ich hoffe
inständig, daß es widerrufen wird. Der alte Symmachus, der Schwiegervater von Boethius, ist immerhin noch Erster
Senator. Das wird nicht ohne Einfluß auf die Entscheidung des Senats bleiben. Unterdessen hat Theoderich Cassiodor Filius auf Boethius' vakanten Posten gesetzt. Die beiden waren enge Freunde. Cassiodor wird Boethius' Sache vor Theoderich vertreten. Und wenn es jemanden gibt, der mit Worten überzeugen kann, dann Cassiodor.«
»Du solltest auch gehen und für ihn streiten.«
»Ich muß nach Ravenna, ob ich will oder nicht«,
entgegnete ich düster. »Als Marschall des Königs wurde mir aufgetragen, den schwerbewachten Boethius in das
calvenatische Gefängnis nach Ticinum zu eskortieren.
Zumindest braucht er jetzt nicht in dem berüchtigten Kerker von Tullianum hier in Rom seiner Freilassung
entgegenzuharren. Soviel wenigstens konnte ich erreichen.«
Livia lächelte hintersinnig und murmelte: »Deine
Gefangenen hast du schon immer zuvorkommend
behandelt.«
In diesen zwölf Monaten im calvenatischen Gefängnis
verfaßte Boethius seine berühmten Tröstungen der
Philosophie, während alle verständigen Männer außerhalb der Gefängnismauern sich für seine Freilassung einsetzten.
Ich glaube, es war dieses Buch, das letztendlich über den Erfolg der Gnadengesuche entschied.
An eine Passage erinnere ich mich sehr deutlich:
»Sterblicher, du selbst warst es, der dein Los nicht der Sicherheit, sondern Fortuna anvertraut hat. Jubele nicht zu laut, wenn sie dich zu großen Siegen führt; und hadere nicht, wenn sie dich ins Unglück leitet.«
Die Mühlen des Gesetzes in Rom mahlten quälend
langsam. Unterdessen sprachen in Ravenna Cassiodor,
Symmachus, Boethius' tapfere Frau Rusticana, ich selbst und viele andere, die sich für den Gefangenen einsetzten, mit Theoderich. Aber niemandem gab er zu verstehen, wie er über die Angelegenheit dachte. Unmöglich, daß er nicht erkannte, welches Possenspiel der Justiz da vor ihm
aufgeführt wurde. Konnte er all die Jahre, die Boethius ihm treu und verläßlich gedient hatte, vergessen haben?
Boethius -
soviel muß Theoderich gewußt haben -
schmachtete unschuldig und zu Unrecht angeklagt im
Gefängnis, verzehrt von dem Wissen über das
Damoklesschwert der drohenden Todesstrafe, das über ihm hing, und dem vielleicht noch quälenderen Wissen um seine Unfähigkeit, die Verzweiflung seiner Frau und seiner Kinder lindern zu können. Doch Theoderich war König, und als
solcher mußte er zumindest dem Schein nach den geltenden Gesetzen folgen. Alles, was er mir und den anderen
Bittstellern antwortete, war: »Soll ich die Entscheidung des Senats in Rom vorwegnehmen? Ich muß abwarten, ob er
das Urteil annimmt oder nicht. Erst dann kann ich über ein Gnadengesuch bestimmen.«
Bei meinen gelegentlichen Besuchen in Ticinum sah ich, wie Boethius' Haar in diesem einen Jahr ergraute. Doch er hielt sich aufrecht, unterstützt von seinem regen, niemals ruhenden Geist. Wie schon gesagt hat er in seinem Leben viele Bücher über viele Themen geschrieben, die aber
größtenteils nur von Fachleuten geschätzt und gelesen
wurden - von Mathematikern, Astronomen, Musikern und so weiter. Doch seine De Consolatione Philosophiae fand einen viel weiteren Anklang, ging es dann doch um Verzweiflung und wie sie zu besiegen sei. Da es nur wenige Menschen gibt, die niemals verzweifelt waren, gibt es auch nur wenige, die nicht mit Boethius sagen konnten: »Denke daran,
Sterblicher, sollte Fortuna jemals an einem Ort verharren, dann wäre sie nicht länger Fortuna.«
Als das Buch fertig war, zögerte der Gefangnisverwalter mit der Freigabe. Deshalb befahl ich ihm, dafür zu sorgen, daß das Manuskript vollständig und intakt an Boethius' Frau weitergeleitet wurde, die allen die interessiert und des Lesens kundig waren, eine Abschrift zuganglich machte. Die Abschriften wiederum wurden kopiert und weitergegeben.
Das Buch wurde so viel diskutiert, zitiert und hochgelobt, daß es schließlich auch die Aufmerksamkeit der Kirche
erregte.
Boethius hatte das Buch zu einer persönlichen
Gnadenbittschrift machen können. Doch er hatte darauf
verzichtet. Nur kurz beklagte das Buch die Umstände, unter denen sein Autor litt. Nicht einmal suchte es bei irgend jemanden die Schuld dafür. In dem Text erscheint die
Philosophie als eine Art Göttin, die den Autor in seiner Gefängniszelle besucht, wann immer ihn sein Mut zu
verlassen droht, und die ihm die eine oder andere Tröstung anempfiehlt. Darunter Gedankengut heidnischer Religionen, platonische und stoische Ideen, einfache Meditationen und, immer und immer wieder, die rettende Gnade Gottes.
Aber nirgendwo verwies die Philosophie, verwies das
Buch, verwies Boethius auf den christlichen Glauben als erlösendes Mittel. Kein Wunder, daß die katholische Kirche das Buch heftig kritisierte, es »verderblich« nannte und in den Statuten des Decretum Gelasium den Gläubigen seine Lektüre verbot. Es war wohl kein Zufall, als der Senat schließlich mit einer Mehrheit, die fast genau dem Anteil der katholischen Mehrheit seiner Mitglieder entsprach, das Urteil gegen Boethius bestätigte und dem König zur
abschließenden Bewertung übermittelte.
Ich wage zu behaupten, Boethius' Buch wird den Bann der Kirche überdauern. Boethius selbst tat es nicht.
»Und der Erzbischof hat in Konstantinopel tatsächlich
gefordert, die arianischen Kirchen im gotischen Königreich nicht der katholischen Kirche zu übereignen?« Livia blickte mich neugierig an, während ihre Dienerin mir ein Glas Wein einschenkte. Ich war gerade erst aus Ravenna
zurückgekommen und fühlte mich müde und durstig.
»Warum sollte er eine solch fette Beute aufgeben? Noch dazu wenn sie ihm ganz ohne sein Zutun in den Schoß
gefallen wäre?«
»Weil Theoderich ihn als seinen Gesandten mit diesem
Auftrag zu Justinus befohlen hat. Johannes brachte, wenn auch widerwilig, aus Konstantinopel ein Dokument mit,
unterzeichnet von Justinus und Erzbischof Ibas. In diesem Zusatz zu dem ursprünglichen Erlaß wird bestimmt, daß die arianischen Kirchen nur in den Grenzen des östlichen
Reiches konfisziert werden. Der Kaiser in seiner unendlichen Güte hat verfügt, die arianischen Besitztümer im gotischen Königreich von der Beschlagnahmung auszunehmen.«
»Kaum zu glauben, daß Johannes sich auf diese Mission
einließ. Und noch viel weniger, daß er Erfolg hatte. Aber du scheinst nicht sehr erfreut darüber zu sein.«
»Da geht es mir wie Johannes. Kaum zurück in Ravenna,
ließ Theoderich ihn festnehmen und ins Gefängnis werfen.«
»Was? Warum denn das? Er hat den Befehl des Königs
doch getreu...«
»Livia, du selbst konntest es gerade kaum glauben.
Unseren König treiben die übelsten Verdächtigungen um.
Das Dokument ist echt, die arianischen Kirchen sind also sicher. Doch Theoderich mißtraut dem Frieden und
argwöhnt, Papst Johannes habe, um dieses Pergament zu
bekommen, irgendwelche Zugeständnisse gemacht.
Vielleicht versprach er, die Kirche Roms und alle guten Katholiken würden dem östlichen Reich beistehen, wenn
Krieg zwischen Rom und Konstantinopel ausbrechen sollte?
Natürlich schwor Johannes auf die Bibel, nichts dergleichen getan zu haben. Theoderich denkt, es würde seinem
Gedächtnis auf die Sprünge helfen, eine Weile in Boethius'
alte Zelle im Ticinum zu schmoren.«
»Und was denkst du?«
»Jesus!« Ich zuckte hilflos mit den Achseln. »Ich dachte, der König hätte seinen Verstand verloren, als er Johannes zu dieser Mission zwang. Dasselbe denke ich auch jetzt.
Aber vielleicht irre ich mich ja. Schließlich bin ich der Letzte, der dem Schwur eines Kirchenmannes Glauben schenken
würde. Oder dem Justinus', Theodoras oder Justinians. Was für eine Versammlung. Ein des Lesens unkundiger
Abklatsch von einem Kaiser, eine bekehrte Hure und ein zukünftiger Kaiser, der weder Fleisch ißt noch Wein trinkt.
Würdest du ihren Beteuerungen glauben?«
»Nein, aber deswegen gleich den Erzbischof von Rom
einzusperren? Johannes mag vielleicht nicht so großartig und mächtig sein, wie er gerne annimmt. Aber unzählige Christen in Theoderichs Reich verehren ihn als ihren Papst.
Und sie werden toben, wenn sie erfahren, was passiert ist.«
»Ich weiß, ich weiß«, seufzte ich. »Deshalb kam ich ja zurück nach Rom. Ich möchte den Rat eines erfahrenen
Mannes einholen. Ich wollte bei dir nur kurz ausruhen nach dieser langen Reise, ein wenig Halt an deiner sanften
Schulter finden.« Ich stand auf und klopfte meine staubige Tunika ab. »Ich werde jetzt den alten Senator Symmachus aufsuchen. Wenn irgend jemand, dann ist er es, der einen Ausweg aus dieser...«
Livia schüttelte den Kopf. »Du wirst Symmachus nicht
mehr antreffen.«
»Oh vai. Weilt er nicht in Rom?«
»Nicht auf Erden. Vor ein paar Tagen entdeckte sein
Verwalter seinen Leichnam. In seinem Vorgarten, gleich neben dieser häßlichen Bacchusstatue. Die Wache hier am Tor hat mir davon berichtet. «
Ich war bestürzt.
»Die Wachen haben niemanden, mit dem sie sprechen
können. Manchmal erzählen sie mir, was draußen passiert.«
»Wahrscheinlich starb er an Altersschwäche«, sagte ich, doch schenkte ich meinen eigenen Worten keinen Glauben.
»Nein. An zahllosen Messerstichen.« Sie hielt inne und fügte hinzu: »Auf Theoderichs Anordnung hin, munkelt
man.«
Genau das hatte ich befürchtet. Ich versuchte, Livia - als ob sie etwas ändern könnte - vom Gegenteil zu überzeugen.
»Theoderich und Symmachus schätzten einander
ungemein.«
»Ja, bis Theoderich Boethius' Tod zuließ.« Sie brauchte mich nicht daran zu erinnern. Symmachus hatte Boethius wie seinen eigenen Sohn erzogen, belehrt und geliebt. »In den letzten Monaten klagte er bitterlich. Symmachus hätte durchaus genügend Macht besessen, einen Aufstand gegen Theoderich anzuzetteln.«
»Und deswegen hat Theoderich ihn aus dem Weg
geräumt«, sagte ich leise. »Wahr oder nicht wahr, das wird erhebliche Unruhe stiften. Ich machte mir schon Sorgen, als Theoderich sich mit den katholischen Christen hier und in den anderen Nationen überwarf. Jetzt hat er auch noch den Senat, die ersten Familien Roms und das Volk gegen sich stehen. Selbst die ihm am treuesten ergebenen Goten
werden jetzt um den Kopf auf ihrem Hals fürchten.« Geknickt verabschiedete ich mich von Livia. »Ich muß hinaus und hören, was das Volk sagt. Aber ich werde bald zurücksein und deiner sanften Schulter bedürfen.«
»Geredet?!« rief Ewig. »Natürlich wird geredet, Saio
Thorn, und zwar über nichts anderes. Allgemein ist man der Ansicht, Theoderich sei nun vollends dem Wahnsinn
verfallen. Jeder noch so unbedeutende Vorfall, der als Beweis dafür herhalten kann, verbreitet sich, wie Ihr
sicherlich schon bemerkt habt, wie ein Lauffeuer über das ganze Land. Vor allem die Bauern haben
Verständigungsmittel, die Neuigkeiten rascher noch als berittene Boten oder Schnellsegler weiterleiten. Ich kann Euch zum Beispiel in dieser Minute sagen, was gestern im Palast zu Ravenna vorfiel.«
»Ist denn etwas passiert?« fragte ich erschreckt.
»Dem König wurde ein zart zubereiteter Padus-Fisch zum Nachtmahl serviert und...«
»Liufs Guth! Werden jetzt schon Gerüchte über seine
Auswahl an Speisen in die Welt gesetzt? Wen um alles in der Welt interessiert...«
»Wartet, es geht noch weiter. Der König soll entsetzt von dem Teller zurückgewichen sein. Angeblich sah er keinen gekochten Fisch vor sich, sondern das Gesicht eines toten Mannes. Das Gesicht seines alten Freundes und Vertrauten Symmachus, der ihn anklagend anstarrte. Theoderich, sagt man, rannte schreiend aus dem Saal.«
»Sagt man. Wird dem Glauben geschenkt?
»Bedauerlicherweise ja.« Niedergeschlagen berichtete
Ewig weiter. »Saio Thorn, schon wird unser geliebter König und Kamerad nicht mehr ›der Große‹, Theoderich Magnus, sondern Theoderich Madidus, ›der Rasendes‹ genannt.«
»Aber doch nicht wegen dieser Fischgeschichte?«
»Nein, nicht nur. Heute mittag traf ein berittener Bote aus Ravenna ein, der ein königliches Dekret mit sich führte. Wart Ihr heute schon am Forum, Saio Thorn?«
»Noch nicht. Ich wußte, du würdest mir verläßlichere
Informationen als jeder Senator oder...«
»Ihr erinnert Euch doch daran, wie wir gemeinsam zum
Tempel der Concordia gingen, um das Diurnal zu studieren.
Nun, ich kann immer noch nicht lesen, aber dieses neue Dekret hängt dort aus. Die Leute strömen aus allen Teilen der Stadt herbei, um es zu studieren. Ich denke, ich werde bald erfahren, welch üble Neuigkeiten...«
»Zum Warten ist jetzt keine Zeit.« Ich packte Ewig am
Ärmel. »Komm!«
Ewig, jünger und sehr viel beleibter als ich, bahnte mir einen Weg durch die Menschentraube, die sich um den
Tempel versammelt hatte. Die Leute zeterten und murrten, aber nicht, weil wir so rüde drängelten, sondern wegen dem, was im Diurnal verkündet wurde. Das Dekret umfaßte viele Papyrus-Blätter, was kein Wunder war, schließlich hatte es Cassiodor in seiner blumigen Sprache abgefaßt. Meine
Erfahrung in der Lektüre von Cassiodors Schriften erlaubte mir, die Blätter nur zu überfliegen und nur die wichtigen Stellen zu lesen. Als ich fertig war, nickte ich Ewig zu, und wir schoben uns durch das Gedränge hinaus.
Als wir einigermaßen zerzaust ein ruhigeres Eckchen auf dem Forum erreichten, sagte ich bestimmt: »So kann das nicht weitergehen, Ewig. Wir müssen unseren König und
Kameraden retten, und zwar vor sich selbst. Theoderich muß jetzt und für immer als ›der Große‹ bekannt bleiben.«
»Ihr braucht mir nur zu befehlen, Saio Thorn.«
»Hier können wir nichts ausrichten. Ich muß nach
Ravenna gehen, zu Theoderich. Ich werde nicht mehr nach Rom zurückkehren, aber da gibt es einige Dinge, die du später für mich tun könntest...«
»Ihr braucht mir nur zu befehlen, Saio Thorn. Schickt mir eine Nachricht und ich werde gehorchen. Alle, die den König jemals geliebt haben, werden Euch dankbar sein, wenn es Euch gelingt, seinen großen Namen zu retten.«
»Livia, willst du frei sein?«
Sie blinzelte überrascht und blickte mich dann lange und ruhig an. Wie leuchtend blau ihre Augen noch immer waren, auch wenn die Schönheit ihres Gesichtes verblaßt war. »Frei wozu?« fragte sie halb belustigt, halb erschreckt.
»Mit mir wegzugehen. Morgen schon. Ein treuer
ostgotischer Freund wird den Verkauf meines Hauses sowie meiner Sklaven und sonstigen Besitztümer in die Hand
nehmen und mir nachsenden, worauf ich nicht verzichten möchte. Er könnte dir denselben Dienst erweisen. Komm
mit!«
»Wohin? Nach Ravenna?«
»Zuerst Ravenna. Dann, falls ich meine Audienz bei
Theoderich überlebe, könnten wir, dachte ich, nach
Hausthats weiterziehen. Dorthin, wo wir uns kennengelernt haben. Jetzt im Hochsommer muß es dort wunderschön
sein. Und ich bin sehr neugierig zu sehen, ob die Namen, die ich ins Eis geritzt habe, noch an derselben Stelle stehen.«
Livia lachte freundlich. »Wir sind zu alt und gebrechlich, mein Lieber, um noch auf einem Eisfluß in den Höhen des Dachsteins herumzutollen.«
»Vielleicht sind die Namen uns mit dem Eisfluß ein Stück bergabwärts entgegengekommen? Livia, ich sehne mich seit langem danach, die Hallstatt wiederzusehen. Je mehr ich zurückdenke, desto verklärter erscheinen die Erinnerungen, und desto lieber möchte ich den Rest meiner Tage in jenem Tal verbringen - mit deiner sanften Schulter an meiner Seite.
Und? Was sagst du dazu?«
»Wer fragt? Thorn oder Veleda?«
»Saio Thorn, mit der einem Marschall zustehenden
Eskorte, wird dich und deine Dienerin bis Ravenna
begleiten. Dann, nachdem ich vollbracht habe, was ich dort zu tun hoffe, wird Thorn verschwinden. Veleda wird es sein, die als deine einzige Begleitung den restlichen Weg bis zur Hallstatt neben dir reiten wird. Danach... du und ich... nun...«
Ich umarmte sie. »Wir sind alt und wir sind Freunde. Laß uns alte Freunde sein.«
10
»Erinnere dich, Thorn. Wann immer wir loszogen, etwas
zu zerstören, waren wir über die Maßen erfolgreich. Wann immer aber wir etwas aufbauen und erhalten und verewigen wollten, scheiterten wir kläglich.« Diese melancholischen Worte waren fast die letzten, die ich Theoderich sagen hörte.
»Nicht kläglich, Theoderich, noch nicht«, wandte ich ein.
»Und selbst wenn wir versagen sollten, so ist doch der Versuch, Großes zu schaffen, jede Anstrengung wert.«
Ich hätte weinen können, so mitleiderregend mager und
ausgezehrt und verzagt, ja unglücklich, sah er aus. Aber zumindest hatte er mich erkannt und befand sich im
Vollbesitz seiner Sinne.
»Laß uns von fröhlicheren Dingen reden«, fuhr ich fort.
»Vor einiger Zeit äußerte eine gute Freundin mir gegenüber die Ansicht, deine letzten Jahre wären angenehmer,
wahrscheinlich auch erfolgreicher verlaufen, wenn du nicht der liebenden Gesellschaft Audefledas beraubt worden
wärst - oder wenn wenigstens eine andere gute Frau ihren Platz eingenommen hätte. Und gibt nicht schon die Bibel gleich auf ihren ersten Seiten dem Mann eine Frau zur Hilfe an die Seite? Würde die sanfte, liebende Hand einer Frau die deine halten, wer weiß, vielleicht würdest du aufrechter und stärker dastehen. Zumindest aber würdest du bei ihr Liebe und Schutz finden vor den Stürmen und Gefahren der Welt.«
Theoderich hatte mich, während ich sprach, zuerst
überrascht, dann zweifelnd und schließlich nachdenklich betrachtet. Mir wurde schwer ums Herz. »Diese gute
Freundin, von der ich sprach, ist eine alte Frau namens Veleda. Eine Ostgotin, wie man am Namen erkennt, und
daher vertrauenswürdig. Ich selbst kann dir versichern, daß sie, wie ihre uralte Namensschwester - die sagenumwobene Wahrsagerin, die Enthüllerin der Geheimnisse - in der Tat eine sehr weise alte Frau ist.«
Alarmiert blickte Theoderich mich an.
»Ne, ne«, beeilte ich mich zu sagen, »Veleda bietet nicht sich selbst dir als Hilfe und Gefährtin an. Wo denkst du hin?
Sie ist ebenso alt und runzelig wie ich. Als sie mir diesen Vorschlag unterbreitete, zitierte sie aus der Bibel. Jene Stelle, wo über den greisen König David geschrieben steht:
›Da sprachen seine Großen zu ihm: Man suche unserm
Herrn, dem König, eine Jungfrau, die vor dem König stehe und ihn umsorge und in seinen Armen schlafe und unsern Herrn, den König, wärme. Und sie suchten ein schönes
Mädchen und fanden sie und brachten sie dem König und
sie war sehr schön.‹«
Theoderich sah so erheitert aus, wie ich ihn nur selten in den letzten Jahren erlebt hatte.
»Wie es sich fügt«, fuhr ich eilig, die Gunst der Stunde nutzend, fort, »besitzt meine Freundin eine junge Sklavin.
Eine wahrhaftige Rarität, ein Mädchen vom Volk der
Chinesen. Eine Jungfrau, unfaßbar schön und einzigartig in vieler Hinsicht. Im Namen unserer Freundschaft, die nun schon ein Leben lang währt: Erlaube mir, Veleda mit diesem vollkommenen Geschöpf zu dir zu schicken. Noch in dieser Nacht kann sie das Mädchen herbeibringen. Du mußt nur
Magister Cassiodor - ich weiß, wie streng er über deine Gemächer wacht - anweisen, die beiden ungehindert
eintreten zu lassen. Ich flehe dich an, mein Freund, erlaube mir diesen Freundschaftsdienst, denn er kommt von Herzen.
Ich bin sicher, du wirst mir und Veleda dafür dankbar sein.«
Theoderich nickte zustimmend, er lächelte sogar ein wenig und - mit ungespielter Liebe, mit Dankbarkeit für die Liebe, die ich ihm entgegenbrachte - sprach er den letzten Satz, den ich jemals von ihm hören sollte: »So sei es, mein alter Thorn. Schick mir Veleda, die Enthüllerin.«
Ich könnte das nicht als Thorn tun. Nicht, weil ich als Thorn von dem Eid gebunden werde, die Ehre meines
Königs hochzuhalten und zu verteidigen. Nein, mit dem, was ich tun werde, verteidige ich seine Ehre. Ich gehe als Veleda. Sie wird ihm das Mädchen stellvertretend für das geben, was ich, was Veleda so sehr gewünscht hätte, ihm in all diesen Jahren geben zu können.
Heute nacht werde ich die Venefica in den Palast führen und sie vor Theoderich enthüllen. Ich weiß, er wird sie nehmen. Und sei es nur seinem alten Freund Thorn zuliebe.
Dann werde ich diese zahllosen Seiten Papyrus, Pergament und Segeltuch nehmen und sie der Obhut Cassiodors
anvertrauen. Er soll sie in den Archiven des Königs für jene verwahren, die über die Zeit Theoderichs des Großen lesen möchten. Livia und ich haben noch einige Seiten im großen Buch des Lebens vor uns, doch diese Geschichte, die vor so langer Zeit ihren Anfang nahm, findet hier ihr Ende.
11 - Anmerkung des Übersetzers:
Die folgenden Zeilen wurden von einer anderen Hand
geschrieben.
Der Kaiser Justinian, erster Christ unter den Edlen
Konstantinopels, sagte, als er die Schließung der
platonischen Philosophieschulen in Athen verfügte, über diese heidnischen Pädagogen dieses: »So sie die
Unwahrheit sprechen, sind sie verderblich. So sie die
Wahrheit sprechen, sind sie überflüssig. Bringt sie zum Schweigen.«
Das von Saio Thorn zusammengetragene Manuskript
enthält viele Wahrheiten. Aber alle diese, seien es Daten, Einzelheiten, Berichte von Schlachten oder andere
überprüfbare Ereignisse, habe ich bereits in meine eigene Historia Gothorum aufgenommen, wo sie interessierten Gelehrten sehr viel leichter zugänglich sind als in den weitschweifigen und ungenauen Ausführungen des
Marschalls.
Als eine Nacherzählung der Wahrheit ist Saio Thorns Buch mithin überflüssig.
Sollte der Rest, also der Großteil des Buches, nicht
schlichtweg frei erfunden sein, dann ist es über alle Maßen pietätlos, blasphemisch, unzüchtig und obszön, und wird den Leser abstoßen und anekeln, der nicht wie ich von Berufs wegen ein Geschichtsschreiber und geübt ist in der Kunst der leidenschaftslosen Objektivität. Als Historiker weigere ich mich kategorisch, den Wert eines geschriebenen Werkes
nach moralischen Maßstäben zu bemessen. Als Christ
jedoch muß ich dieses Buch mit Schrecken und Abscheu
betrachten. Selbst als einfacher Mensch kann ich darin nur eine Anhäufung übelster Perversitäten erkennen. Da alles Lesenswerte in diesen Seiten an anderen Stellen leicht zugänglich ist, muß ich dieses Werk als überflüssig und verderblich verdammen.
Nichtsdestoweniger wurde mir die Verwahrung dieses
Werks übertragen. Ich habe keine Möglichkeit, es an seinen Verfasser zurückzugeben, denn von Marschall Thorn wurde schon einige Zeit, bevor man den König tot entdeckte, nichts mehr gesehen noch gehört. Allgemein wird angenommen, er habe sich aus Kummer über das Hinscheiden des Königs in den Padus oder das Meer gestürzt. Nolens volens finde ich mich mit diesem Manuskript belastet und kann es nicht
ruhigen Gewissens zerstören.
Ich weigere mich jedoch, dieses Werk in den königlichen Archiven oder irgendeinem der Öffentlichkeit zugänglichen Skriptorium niederzulegen. Doch ich kann es an einem Ort verwahren, an dem es niemals das Auge eines
Unvorsichtigen beleidigen wird. Morgen wird König
Theoderich feierlich in seinem Mausoleum zur letzten Ruhe aufgebahrt, zusammen mit verschiedenen Insignien seiner Königswürde, bevorzugten Gegenständen, Kunstwerken und Andenken an seine Regierungszeit. Dazu wird auch dieses Manuskript gehören. So wird es auf ewig unsichtbar und zum Schweigen verdammt begraben liegen.
Flavius Magnus Aurelius Cassiodorus Senator Filius 12 - Schlussbemerkung des Übersetzers
Theoderich starb am vorletzten Tag des Jahres 1279 nach der Gründung Roms, also am 30. August 526 n. Chr. - und mit ihm der letzte Glanz dessen, was einstmals das
weströmische Reich umfaßte. Seiner Führung beraubt,
zerfiel das gotische Königreich innerhalb der nächsten dreißig Jahre in eine Reihe kleiner, sich gegenseitig
bekämpfender Staaten. Und Europa, des zivilisierenden
Einflusses des Königreichs ledig, stürzte in ein Jahrhunderte währendes Zeitalter des Elends, der Verzweiflung, des
Aberglaubens, der barbarischen Unwissenheit und
lähmenden Lethargie in das finstere Mittelalter.
Theoderichs marmornes Mausoleum steht noch immer in
Ravenna. Doch wurde die Stadt im Mittelalter mehr als nur einmal von Invasionen, Belagerungen, Plünderungen,
Aufständen, Hungersnöten, Seuchen und Verwüstungen
heimgesucht. Irgendwann, niemand weiß den genauen
Zeitpunkt, entweihten Grabräuber Theoderichs Ruhestätte.
Sein einbalsamierter Körper, umhüllt von einer massiven goldenen Rüstung, wurde gestohlen und tauchte nie wieder auf. Die Räuber nahmen auch sein Schlangenschwert, sein Schild, die Insignien seines Amtes und alle anderen
Gegenstände, die mit ihm beerdigt worden waren. Außer
dem Manuskript des Marschall Thorn, welches erst vor
kurzem entdeckt wurde, blieben bisher alle anderen dieser verlorenen Schätze verschwunden.
Die Bücher, die Thorn als Quellen gotischer Geschichte, Tradition, Taten und Errungenschaften zitierte - die Biuhtjos jäh Anabusteis af Gutam, die Saggwasteis af Gut-Thiudam, Ablabius' De Origine Actibusque Getarum, selbst Cassiodors Historia Gothorum -
sind später von weltlichen wie
geistlichen Herrschern verdammt, in den Bann getan und vernichtet worden. Diese Bücher sind, wie auch die
arianische Religion, das gotische Königreich und die Goten selbst, schon lange vom Angesicht dieser Erde
verschwunden.
Danksagungen
Vorliegendes Buch hätte nicht geschrieben werden
können ohne die Hilfe folgender Freunde und Berater:
Herman Begega, Pompton Lakes, New Jersey
Chavdar Borislavov, Sofia, Bulgarien der verstorbene
L. R. Boyd jr., Teague, Texas
Robert Claytor, Staunton, Virginia David L. Copeland, M.
D.,
Lexington, Virginia
John J. Delany jr., Lexington, Virginia Donald Dryfoos, Donan
Books, New York, N. Y.
Glenn und Janet Garvey, East Pepperell, Mass. den
verstorbenen
Joseph Garvey, M. D., Montreal,
Quebec Hugo und Lorraine
Gerstl,
Carmel,
Kalifornien
John Haverkamp, Waynesboro, Virginia
Jesse Glen Jennings, The Woodlands, Texas den
verstorbenen
Michael Glen Jennings, West
Milford, New Jersey
George und Grethe Johnson, Lexington, Virginia
Gloria Martin, Buena Vista, Virginia
Norma McMillen, Branson, Missouri
Karla Mehedintzi, Constanta, Rumänien
Aylä Meryem Midhat, Tunceli, Türkei
Sam Moran, Glasgow, Virginia
Isidora Nenadovic, Belgrad, Jugoslawien
David Parker, Washington und Lee University
Diana Perkinson, Boones Mill, Virginia
Cathryn B. Perotti, Novato, Kalifornien
Robert M. Pickral, M. D., Lexington, Virginia
Taylor Sanders, Washington und Lee University
Joyce Osborne Servis, Caldwell, New Jersey
Nedelia Shapkareva, Varna, Bulgarien
Sanger und Patricia Stabler, Avilla, Indiana
Lawrence Sutker, M. D., Staunton, Virginia
Sven Swedborg, Göteborg, Schweden
Ali Kemal Vefik, Istanbul, Türkei
Hunter Wilson, San Miguel de Allende, Gto., Mexico
Eugene
und Ina Winick, Hastingson-Hudson, New York
Mary
Winston, R. N., N. R, Natural Bridge, Virginia
... und Ivan Stoianov Ivanov aus Sofia, Bulgarien, der vom Eisernen Tor über das Tal der Rosen bis zum
Schwarzen
Meer
mein
Führer, Dolmetscher und oft
mein Retter war.
G.J.