»Diese Information ist sehr interessant, guter Fillein«, sagte ich aufrichtig, »und außerdem neu für mich.«

Später, auf dem Speicher, als Swanilda und ich nach

einem guten Essen satt und schläfrig nebeneinander lagen, erheiterte ich sie mit meinem Bericht, wie der erhabene Marschall des Königs den ganzen Tag über von einem alten Bauern herumkommandiert worden war und wie derselbe

Marschall des Königs zwischenzeitlich viele neue Dinge gelernt hatte.

4

Als wir am nächsten Morgen beim Frühstück saßen, sagte der alte Mann: »Ich habe beschlossen, Saio Thorn, daß sich heute ein anderer mit Euch und Eurer Wißbegierde

herumplagen soll.«

»Kommt schon, werter Fillein«, sagte ich. »Ich habe noch ein paar Fragen zu den alten Zeiten, die ich Euch gerne stellen würde.«

»Nein, nein. Ich, meine alte Frau und Eure junge Frau

bessern heute meine Netze aus. Ich möchte das tun können, ohne dauernd abgelenkt zu werden. Ihr könnt losziehen und Eure Fragen meinem Nachbarn Galindo stellen.«

»Eurem Nachbarn?« wiederholte ich fragend, denn ich

hatte keine anderen Häuser in der näheren Umgebung

gesehen.

»Nirgendwo in diesem Delta gibt es Nachbarn, die

tatsächlich in der Nähe wohnen, doch könnt Ihr den Weg zu Galindos Wohnung und wieder zurück bis zum Einbruch der Nacht schaffen.«

»Galindo. Ist das nicht ein gepidischer Name?«.

»Ja. Da er Gepide ist, kann er Euch vielleicht mit einer völlig anderen Version von der Geschichte dieser Gegend unterhalten. Er ist sogar noch weiter in der Welt

herumgekommen als ich. In seiner Jugend diente Galindo in einer römischen Legion irgendwo in Gallien.«

»Ich bin sicher, werter Fillein, daß er kein so interessanter Gesprächspartner sein wird wie Ihr. Doch weiß ich Euren Rat zu schätzen. Wo finde ich denn diesen Galindo?«

Draußen war Made damit beschäftigt, die beiden Pferde

zu satteln. Er summte und pfiff dabei in kindlichem

Vergnügen vor sich hin. Ich erinnerte mich daran, wie

Meiros, der Schlamm-Mann, gesagt hatte: »Verwöhnt mir die Kreatur nicht zu sehr«, daher nahm ich an, daß dies

wahrscheinlich eine der wenigen Gelegenheiten in Mades Leben war, bei denen er nicht neben einem berittenen Herrn und Meister herlaufen mußte.

Einen Teil des Vormittags war Made ungewöhnlich

schweigsam - wahrscheinlich konzentrierte er sich darauf, die Pfade zu finden, die Fillein ihm beschrieben hatte. Nach einiger Zeit begann er jedoch zögernd zu sprechen und kurz darauf entpuppte er sich als der typische redegewandte Armenier. Ich war ihm eigentlich ganz dankbar für sein Geplapper. In dem endlosen Weideland, das wir

durchquerten, mit dem weiten blauen Himmel über uns, der mit kleinen weißen Wölkchen übersät war, gab es nichts Interessantes zu sehen oder zu hören - oder selbst zu

überlegen, außer wieviel Weideland und Himmel uns umgab

-, deshalb war Mades Geschwätzigkeit eine willkommene

Ablenkung von der Langeweile.

Er redete hauptsächlich über die großartigen Erfolge

seines Herrn und Meisters Meirus, die offenbar dessen

Weitsicht und hellseherischen Fähigkeiten zu verdanken waren. Jeder dieser Erfolge hatte, laut Made, zu einem enorm erhöhten Umsatz des Schlamm-Unternehmens von

Meirus geführt, doch keiner hatte, wollte man Made glauben, auch nur eine einzige zusätzliche Münze in Mades Taschen oder die der anderen Arbeiter von Meirus fließen lassen. Aus diesem Grund, sagte Made, sei er äußerst erpicht darauf, seine Talente für Dinge einzusetzen, die für ihn persönlich von größerem Vorteil wären. Wenn er schon wie er sagte, erwiesenermaßen eine Nase habe, die es ihm ermöglichte, Schlammsorten allererster Güte zu erschnüffeln, glaube er, daß es ihm auch gelingen könnte, noch viel wertvollere Substanzen über oder unter der Erde mit dieser seiner Nase zu entdecken. Nach diesem Monolog warf er mir einen

Seitenblick zu und fuhr fort: »Mein Fräuja, Meirus, sagte, Ihr wolltet die alte Fährte der Goten die ganze Strecke von hier bis zu den fernen Gestaden des wendischen Golfs zurück verfolgen.«

»Ja.«

»Trägt die Küste dieses Golfs nicht den Namen

Bernsteinküste?«

»Richtig.«

»Und findet man dort nicht Bernstein in großen Mengen?«

»Das stimmt.«

»Werdet Ihr und Frau Swanilda während Eures

Aufenthalts dort selbst nach Bernstein suchen?«

»Suchen werden wir nicht danach, nein. Ich habe anderes zu tun. Doch wenn ich zufällig darüber stolpern sollte, werde ich sicher nicht achtlos daran vorübergehen.«

An diesem Punkt ließ Made das Thema Bernstein fallen

und begann über Belanglosigkeiten zu sprechen.

Klugerweise ließ er mich jetzt allein darüber nachdenken, ob es nicht nützlich sein würde, eine Person in den Norden mitzunehmen, die sozusagen stets die Nase am Boden

hatte. Nun, er hatte es auch nicht nötig, mehr zu sagen; da er Armenier war, war die betreffende Nase ständig und

unübersehbar ins Blickfeld gerückt. Schließlich spielte er jedoch nochmals auf seine Talente an, und zwar, als wir uns einer Behausung näherten, die so schäbig war, daß sie die Bezeichnung Hütte nicht verdiente.

»Ihr seht, Fräuja, wie gut ich Dinge aufspüren kann? Das hier muß der Ort sein, zu dem mir der alte Fillein den Weg beschrieb, die Wohnstätte des alten Galindo.«

Wenn sie es wirklich war, dann saß der alte Galindo davor, denn man sah ihn schon lange bevor wir dort ankamen, weil er entweder fast so groß wie sein Haus oder das Haus nicht viel größer als Galindo war. In der Tat war die »Behausung«

nur eine unschön geformte Kuppel aus in der Sonne

getrocknetem Schlamm, die nicht bewohnbarer wirkte als eine der Schlammblasen, die zuweilen aus einem

Sumpfgebiet aufsteigen. Doch sein Besitzer hatte ihn so eindrucksvoll vor Eindringlingen abgeschirmt, als handele es sich dabei um eine Festung. In Anbetracht des unwegsamen Pfades konnte er nicht allzuoft von Reitern belästigt werden

Made und ich hatten den ganzen Morgen keinen einzigen zu Gesicht bekommen -, und doch hatte er, fast zwölfhundert Fuß von seiner Tür entfernt, einen Graben quer über diesen Pfad ausgehoben, der breit und tief genug war, um einen Kavallerieangriff aufzuhalten.

Der Boden in der Umgebung des Grabens war ziemlich

hart, so daß wir das Hindernis wahrscheinlich hätten

umgehen können. Doch ich entschloß mich, es zu

respektieren, zumindest insoweit, als ich absaß und Made die Zügel der Pferde überließ, während ich zu Fuß durch den Graben kletterte und dann zu dem Mann ging, der noch immer in stoischer Ruhe dasaß. Ich winkte ihm

liebenswürdig zu. Er reagierte jedoch nicht darauf, und erst als ich unmittelbar vor ihm stand, gab er ein Lebenszeichen von sich. Ohne mich auch nur anzusehen knurrte er nur:

»Verschwindet.«

Ich sagte: »Wenn Ihr Galindo seid, bin ich von weither gekommen, um mit Euch zu sprechen.«

»Dann kennt Ihr ja auch den Rückweg nach dahin, woher

Ihr auch immer gekommen seid. Geht wieder dorthin

zurück.«

»Ich komme vom Haus Filieins, eines Bekannten von

Euch. Er erzählte mir, daß Ihr früher im Dienst einer

römischen Legion in Gallien standet.«

»Fillein hat schon immer zu viel geredet.«

»Könnte das die Elfte Legion gewesen sein, die Claudia Pia Fidelis, in Gallia Lugdunensis?«

Er sah mich zum ersten Mal an. »Falls Ihr Steuern

einziehen wollt, seid Ihr den ganzen weiten Weg gekommen, um das unbedeutendste Besitztum im ganzen Reich zu

besteuern. Schaut Euch doch um.«

»Ich bin kein Steuereintreiber. Ich bin Historiker und nur an Informationen interessiert, nicht an Steuern.«

»Ich kann mit dem einen ebensowenig dienen wie mit dem anderen. Doch neugierig bin ich schon. Was wißt Ihr denn über die Claudia Pia?«

»Ich hatte einst einen sehr guten Freund, einen

Veteranen, der früher einmal im Dienst dieser Legion stand.

Ein Brythone von den Zinninseln, den man Wyrd, den

Freund der Wölfe, nannte. Oder Uiridus, wie sein Name auf lateinisch lautete.«

»Gehörte er zur Kavallerie oder zur Infanterie?«

»Zur Kavallerie. In der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern ritt er bei den Vorkämpfern mit.«

»Tatsächlich? Ich war nur Infanterist, ein Pediculus.«

Aha, dachte ich, Galindo hat offenbar den typischen

trockenen Humor des Soldaten. Das lateinische Wort für einen Infanteristen lautet »pedes«, doch »pediculus« ist nicht das Diminutiv davon. Es bezeichnet wörtlich eine Laus.

»Ihr kanntet Wyrd also nicht?«

»Wenn Ihr Historiker seid, muß Euch auch klar sein, daß eine Legion aus mehr als viertausend Mann besteht.

Erwartet Ihr im Ernst, daß wir uns alle näher kannten? Ihr seid mir im Moment so nah, daß ich in Eurem Schatten

sitzen muß, und doch kenne ich Euch nicht.«

»Verzeiht«, sagte ich und trat zur Seite, so daß er wieder in der Sonne saß. »Mein Name ist Thorn. Ich bin Marschall des Königs Theoderich Amaling. Er sandte mich in diese Gegend, um eine genaue Geschichtschronik über die Goten zu verfassen. Fillein war der Meinung, Ihr könntet mir hilfreiche Dinge über den Anteil der Gepiden an dieser Geschichte erzählen.«

»Ich würde Euch raten, Euch zum Teufel zu scheren,

hättet Ihr nicht jenen Legionär erwähnt, der einst bei den Vorkämpfern mitritt. Ich habe auch gegen die Hunnen

gekämpft auf diesen Feldern bei Cabillonum. Wenn ein

Mann den Mut hatte, vor den Fahnenträgern in die Schlacht zu ziehen, war er wirklich ein Mann. Und wenn er später Freundschaft mit Euch schloß, dann müßt Ihr auch einige gute Seiten haben. Nun gut.« Er machte eine huldvolle

Geste, als böte er mir einen Thron anstatt des blanken Bodens. »Nehmt Platz - aber nehmt mir nicht die Sonne.

Also, welche hilfreichen Informationen hättet Ihr gern?«

»Nun... Ich hoffe, Ihr nehmt mir diese Einleitung nicht übel, doch... wie steht Ihr Gepiden zu Eurem Namen?«

Er starrte mich einen langen Augenblick mit versteinertem Gesichtsausdruck an und sagte dann: »Wie steht Ihr dazu, überhaupt keinen Namen zu haben? Thorn ist kein Name,

es ist ein Buchstabe der Runen-Schrift.«

»Ich bin mir dessen bewußt. Nichtsdestoweniger ist es

mein Name. Ich kann nur sagen, daß ich mich schon vor

langer Zeit an ihn gewöhnt habe.«

»So wie ich mich an die Tatsache gewöhnt habe, Gepide

zu sein. Nächste Frage.«

»Ich meine nur«, sagte ich, »bezüglich der abwertenden Nebenbedeutung der Bezeichnung Gepiden...«

»Wahrhaftig!« stieß er hervor und spuckte auf den Boden.

»Dieses alte Ammenmärchen? Daß Gepide sich von dem

Wort ›Gepanta‹ ableitet? Faul, langsam, liederlich und all das? Ihr wollt Historiker sein? Und glaubt an diesen

infantilen Unsinn?«

»Ich weiß es aber aus guter Quelle. Aus mehreren guten Quellen.«

Er zuckte die Schultern. »Wenn Ihr daran glaubt, steht es mir dann zu, mich mit einem Historiker herumzustreiten?

Nächste Frage.«

»Nein, nein, nein. Bitte, guter Galindo. Wenn Ihr eine andere Ableitung des Namens kennt, würde ich sie sehr

gerne hören.«

»Ich kenne die einzig korrekte Ableitung des Namens. Im alten Skandza, wo wir Goten alle herstammen, waren die Amaler und Balthen Flachlandbewohner. Wir Gepiden waren Männer der Bairgos, der Berge. Als die Amaler und Balthen sich später dann als Ost- und Westgoten bezeichneten,

nannten wir uns weiterhin stolz die Berggoten. Gepide ist lediglich die moderne Kurzform von ›gabairgs‹, geboren in den Bergen. Ihr könnt das glauben oder nicht, ganz wie es Euch beliebt.«

»Ich glaube es Euch«, sagte ich, angenehm überrascht

von dieser neuen Geschichte. »Was Ihr erzählt habt, klingt viel wahrscheinlicher als die allgemein anerkannte Version.«

»Ich gebe Euch den guten Rat, junger Historiker, meßt

einem Namen nicht zuviel Bedeutung bei. Wie vielen

Placidias, Irenes und Virginias seid Ihr schon begegnet, die alles andere als sanft, friedlich oder jungfräulich waren? Ein Name kann eine halbherzige, wankelmütige, ja sogar

trügerische Angelegenheit sein.«

»Wie wahr«, stimmte ich zu, erwähnte aber nicht, daß ich selbst manchmal bewußt, ja sogar in betrügerischer Absicht meinen Namen änderte.

»Da wir gerade von Namen sprechen - ich erinnere mich

an eine Sache aus meiner Zeit bei der Claudia Pia.« Galindo starrte über das endlose Gras; sein altes Gesicht nahm einen nachdenklichen Ausdruck an, als ob er statt des

Grases die Katalaunischen Felder aus der Zeit vor fast vierzig Jahren vor sich sähe. »Wir pflegten viele Kriegslieder zu singen, und es waren beileibe nicht alles römische Lieder, denn wir Legionäre stammten von vielen verschiedenen

Völkern ab - es waren darunter auch Männer von den

Zinninseln, wie Ihr wißt -, doch was für ein Lied wir auch wählten, stets sangen wir es in der Umgangssprache der Legion, lateinisch. Nun hatten jene Brythonen zwar auch ihre eigenen Lieder, doch sangen sie auch gemeinsam mit uns Goten unsere Lieder aus der alten Zeit. Und ich erinnere mich, daß wir jenes alte Lied sangen über das Leben und die Taten des großen westgotischen Helden Alareichs. Auf römischlateinisch würde der Name korrekt Alaricus lauten, doch jene Zinn-Insulaner sangen ihn in ihrem verfälschten brythonischen Latein als Arthurus.« Der alte Galindo kehrte unvermittelt in die Gegenwart zurück und fuhr mich an:

»Zum Teufel mit Euch, Marschall! Ich bekomme wegen Euch schon wieder keine Sonne mehr ab!«

»Das liegt nicht an mir. Es ist nur schon wieder einer jener verwünschten plötzlichen Stürme Eures Deltas.« In

Windeseile hatten die kleinen Wölkchen an Umfang

zugenommen und sich zu einer dichten Decke

zusammengeballt, die nun langsam schwarz wurde.

»Ah, ja«, sagte Galindo, beinahe anerkennend. »Thor liebt es, seine Hammer hier in dieser Gegend zu schwingen.«

»Ihr glaubt also an Thor?« fragte ich mit einem inzwischen zur Gewohnheit gewordenen gereizten Unterton beim Klang dieses Namens. »Seid Ihr denn ein Anhänger der Alten

Religion?«

»Wenn ich irgend etwas bin, dann ein Mithraist, da ich einst römischer Legionär war. Doch schadet es nicht, finde ich, auch die Existenz anderer Götter anzuerkennen. Und wenn Thor nicht der Gott des Donners ist, wer dann?«

Als habe Galindo ihn heraufbeschworen, zuckte ein Blitz über den östlichen Horizont. Die Luft vibrierte während des anschließenden Donnergrollens und die ersten

Regentropfen begannen zu fallen- Ich stieß einen Fluch aus.

Der alte Mann warf mir einen Blick zu. »Fürchtet Ihr den Zorn Thors?«

»Weder seinen noch den irgendeines anderen«, fuhr ich

ihn an. »Ich mag lediglich kein Unwetter, das mir ungelegen kommt.«

»Mir kommen Unwetter nie ungelegen.« Zu meinem

Erstaunen zog er seinen Wolfspelz und danach die wenigen Fetzen Kleidung, die er darunter trug, aus. »Der Regen erspart mir den mühseligen langen Fußmarsch zu einem

Fluß, um dort ein Bad zu nehmen. Wollt Ihr es mir nicht gleichtun, Marschall?«

»Ne, thags izvis.« Ich wandte den Blick von seinem

mageren, behaarten alten Körper ab, der jetzt nackt dem herunterprasselnden Regen preisgegeben war. Made und

die Pferde konnte ich an dem Graben, wo ich sie

zurückgelassen hatte, nicht mehr sehen. Ich konnte nur hoffen, daß die Tiere sicher waren - und natürlich auch Made, da die Pferde sich vielleicht von ihm losgerissen hatten und durchgegangen waren. Unterdessen strömte der Regen auf uns beide herunter, die wir da saßen, ich höchst unbehaglich, der nackte Galindo mit sichtlichem

Wohlbehagen, und ich lauschte der Fortsetzung seines

Berichts über die Geschichte seines Volkes.

Anschließend bat mich Galindo, ein Feuer zu machen und während ich damit beschäftigt war, sagte ich: »Ich habe nun viel Interessantes über die verschiedenen Machenschaften der Goten gehört, nachdem sie sich hier inmitten dieser Donaumündungen niedergelassen hatten. Doch könnt Ihr

mir auch etwas darüber erzählen, wie sie lebten - wie es ihnen auf ihrer langen Wanderung erging - bevor sie hierher gelangten?«

»Kein bißchen«, sagte er vergnügt. »Hier, stellt diesen Topf auf das Feuer und legt den Hanf hier hinein.« Aus den Tiefen seines Wolfspelzes, den er sich jetzt wieder überzog, kramte er eine Handvoll trockene, krümelige Substanz. Ich erkannte die getrockneten Blätter und Samen der

Wildpflanze Cannabis, wie sie auf lateinisch genannt wird, und ließ sie in den ansonsten leeren Topf fallen.

»Doch will ich Euch folgendes sagen«, fuhr Galindo fort.

»Das beste, was den Goten je passieren konnte - und zwar allen Goten -, war, daß sie von den Hunnen von hier

vertrieben wurden.«

»Was meint Ihr damit?« fragte ich, während wir

zuschauten wie das erhitzte Kraut sich kräuselte, eine verkohlte, schwarze Färbung annahm und zu rauchen

begann.

»Es war ein Glück für die Goten, daß die Hunnen sie von hier fortjagten. Bis in die jüngste Zeit hinein wurden die Goten von einem Ort zum anderen gejagt und von überall vertrieben. Sie hungerten, sie dursteten, sie litten große Qualen. Diejenigen, die nicht auf dem Schlachtfeld fielen, starben an Krankheiten oder erfroren. Doch das hatte auch sein Gutes.«

»Was meint Ihr damit?«

Tölpelhaft hatte ich genau dieselbe Frage ein zweites Mal gestellt, geradeso, als könnte ich nichts anderes sagen.

Nun, es fiel mir auch so schon schwer genug, diese Wörter überhaupt auszusprechen - äußerst langsam, mit großen

Pausen dazwischen -, da sie, wie auch das, was Galindo sagte, in meinem Kopf widerzuhallen schienen.

»Es war gut, weil diejenigen, die starben, die Schwachen und Mutlosen waren. Die Überlebenden sind die Starken

und Mutigen. Nun, da das Römische Reich so kläglich

zerfallen ist, wäre die Zeit reif für eine neue Blütezeit der Goten. Sie könnten größere Macht erlangen als jemals

zuvor. Sie könnten die neuen Römer werden...«

Der alte Einsiedler war sichtlich benebelt von seinem

Hanfrauch und lallte dummes Zeug. Doch fühlte ich mich kaum dazu berufen, ihn darauf aufmerksam zu machen, da meine eigenen Denk- und Sprechorgane fast ebenso stark beeinträchtigt waren wie die seinen.

»Und wenn die Goten die Römer in ihrer Eigenschaft als Herren der westlichen Welt ablösen sollten... nun... die Welt wäre sicher dankbar, daß sich die Goten zum arischen und nicht zum athanasianischen Christentum bekennen, wie es die Römer tun.«

Zu meinem Entsetzen, denn ich befürchtete allmählich, nie wieder einen anderen Satz formulieren zu können, hörte ich mich zum dritten Mal die Frage stellen: »Was meint Ihr damit?«

»Während ihrer ganzen Geschichte haben Europäer

verschiedener Glaubensrichtungen einander aus diesem

oder jenem Grund bekämpft und getötet. Doch vor dem

Auftauchen des Christentums passierte es nie, daß Männer unserer westlichen Welt sich wegen ihrer religiösen Anschauungen bekämpften und umbrachten - und jeder

dabei versuchte, dem anderen seine Überzeugung

aufzuzwingen.« Galindo legte eine Pause ein, um erneut seinen fürchterlichen Rauch zu inhalieren. »Die arischen Christen dulden jedoch jede andere Religion neben der

ihren, das Heidentum ebenso wie auch jene Menschen, die sich zu überhaupt keiner Religion bekennen. Daher würden die Goten, sollten sie siegreich sein, niemanden auf der Welt auffordern und auch von niemandem erwarten, dasselbe zu glauben wie sie.«

Wir verabschiedeten uns ohne großes Aufhebens. Ich

erhob mich ziemlich schwankend und wünschte Galindo

Lebewohl. Er antwortete mir lediglich mit dem römischen Gruß, da er gerade aus voller Kehle sang. Dann taumelte ich benommen über die freie Fläche davon, quälte mich

mühsam durch den Graben, um wieder zu Made zu

kommen, der treu gewartet hatte und die Pferde am Zügel hielt. Ich kniff die Augen zusammen, um mich konzentrieren zu können, bevor ich es wagte, meine Stimme wieder zu

gebrauchen, und war erleichtert, andere Worte von mir zu hören als »Was meint Ihr damit?«, obwohl ich sie nur

krächzend von mir geben konnte: »Wir wollen zu Filieins Haus zurückkehren.« Made musterte mich prüfend. »Seid

Ihr in Ordnung, Fräuja?«

»Ich hoffe es«, war alles, was ich sagen konnte, denn ich hatte keine Ahnung, ob das einmalige Inhalieren von

Hanfrauch bleibende Schäden nach sich ziehen würde.

5

Als wir Besucher uns am nächsten Morgen verabschiedet

hatten, trottete Made neben uns her - zwischen Swanildas und meinem Pferd - und brachte durch sein munteres

Geplauder wieder etwas Abwechslung in unseren

stumpfsinnigen Ritt durch das Weideland. Eine Zeitlang gab er lediglich Klatschgeschichten über verschiedene

schillernde Persönlichkeiten von Noviodunum zum besten.

Erwartungsgemäß brachte der Armenier aber schließlich die Rede auf zukünftige Unternehmungen.

»Wohin werdet Ihr und Frau Swanilda als nächstes

aufbrechen Fräuja?«

»Nachdem ich Meirus noch ein paar Fragen gestellt habe, die der Klärung bedürfen, gehen wir wieder für ein bis zwei Nächte in die Herberge zurück, um uns zu erfrischen und ein wenig auszuruhen. Anschließend packen wir unsere

Sachen, die wir dort zurückgelassen haben, zusammen und reiten einfach ein gutes Stück weit nach Norden, bis in die Wildnis von Sarmatien. Allen Berichten zufolge kamen die ersten Goten aus dieser Richtung.«

»Und zuletzt sucht Ihr dann die Bernsteinküste auf?«

Ich mußte lachen. »Ich habe deine Nase keineswegs

vergessen, Made.«

»Seine Nase?« fragte Swanilda irritiert.

Sie hatte noch nichts von den ehrgeizigen Plänen des

Armeniers gehört, deshalb schilderte ich ihr kurz den

Sachverhalt.

»Natürlich macht es einen besseren Eindruck, beruflich nach Bernstein statt nach Schlamm zu suchen«, sagte sie zu ihm. »Doch wird Meirus, dein Fräuja, nicht untröstlich sein, wenn du ihm sagst, daß du nicht mehr für ihn arbeiten willst?«

»Eher erzürnt, meine Dame«, sagte Made. »Außerdem

bezweifle ich, daß ich die Angelegenheit überhaupt

erwähnen muß. Meirus ist, was wir in unserer Sprache einen Wardapet nennen; in seiner Sprache versteht man darunter einen Chazzen und in Eurer einen Wahrsager.«

Und wahrhaftig stand, als wir die Stadt kurz nach Einbruch der Dunkelheit erreichten und als erstes Meirus' Lagerhalle aufsuchten, der dicke alte Jude schon davor, als ob er uns erwartet hätte. Er entbot Swanilda und mir nur ein knappes

»hails«, bevor er Made kameradschaftlich auf die Schulter schlug und mit honigsüßer Stimme sagte: »Wie schön, dich wieder hierzuhaben, mein Junge. Wir haben deine Nase

schmerzlich vermißt. In den letzten Tagen haben die

Erdarbeiter Schlamm von höchst minderwertiger Qualität abgeliefert. Ich konnte mich der Erkenntnis nicht

verschließen, daß mein ausgezeichneter Schlamm-Experte Anspruch darauf hat, für seine Mühen besser entlohnt zu werden.« Der Armenier öffnete den Mund zu einer Antwort, bekam aber keine Gelegenheit dazu. »Geh nun und ruhe

dich in meinem Haus aus, Made - ich meine Maghib. Du bist lange genug gerannt. Wir unterhalten uns über dein neues, höheres Gehalt, sobald ich den Marschall und seine

Begleiterin willkommen geheißen habe.«

Made trollte sich niedergeschlagen und schlurfte mit

unseren Pferden am Zügel die Straße entlang. Der

Schlamm-Mann wandte sich uns zu und breitete

überschwenglich die Arme aus.

»Nun, herzlich willkommen, Saio Thorn.« Er bat uns mit einer einladenden Geste ins Innere der Lagerhalle, wo wir uns auf einigen Heuballen niederließen. »Ich bin sicher, Ihr seid ungeheuer gespannt und neugierig darauf zu

erfahren...«

»Als erstes zu erfahren«, unterbrach ich ihn, »ob es

irgendwelche Nachrichten von Theoderich gibt.«

»Nein, nur Routineangelegenheiten. Nichts über den

erwarteten Aufstand Strabos und seiner rugischen

Verbündeten, wenn Ihr das meint.«

»Tatsächlich. Keine einzige Meldung? Ich frage mich, was sie mit dieser Warterei bezwecken.«

»Ich wette, ich kann Euch den Grund hierfür nennen.

Höchstwahrscheinlich setzen sich die Truppen dort erst in Bewegung, wenn ihre Versorgung gesichert ist. Nämlich, wenn die Ernte eingebracht ist. Ja, ich prophezeie, daß sie im September oder noch etwas später losschlagen werden, nach der Ernte. Und noch bevor der Winter hereinbricht.«

»Das klingt plausibel«, sagte ich und nickte. »Wenn es tatsächlich so ist, könnte ich meine Suche zu Ende bringen und Theoderich wieder zur Verfügung stehen...«

»Nun kommt schon«, spornte Meirus mich an. »Habt Ihr

keine anderen brennenden Fragen auf dem Herzen? Wie beispielsweise: Welche Neuigkeiten gibt es über die Person, die sich Thor nennt?«

»Nun gut! Was gibt es also Neues zu berichten über

diesen hinterhältigen Sohn einer verschlagenen Hure?«

»Er tauchte natürlich noch einmal hier auf. Ebenso

arrogant, herrisch und schlecht gelaunt wie das erste Mal.

Genau wie Ihr, wenn sein Name erwähnt wird. Ich sagte ihm, Ihr wärt zu einem Erkundungsritt über das Delta

aufgebrochen, kehrtet aber nach einiger Zeit wieder hierher zurück. Darauf knurrte er, er werde nicht im Sumpf hinter Euch herirren. Er sagte, er würde hier auf Euch warten, und ich solle Euch ausrichten, daß er sich in demselben

Gasthaus einquartiert hätte wie Ihr. Außerdem hoffe er und er sagte das in sehr spöttischem Ton - daß Ihr Euch nicht weiterhin feige vor Thors Hammer verstecken würdet.

Werdet Ihr ihn zur Rede stellen?« schloß der Schlamm-

Mann sensationslüstern seinen Bericht. (fehlt was)

»Jetzt gleich?« erkundigte sich Swanilda bestürzt.

»Selbstverständlich. Einen Gott darf man nicht warten

lassen. Da er jedoch keine Vorliebe für Damengesellschaft zu haben scheint, werde ich ihn allein aufsuchen.« Ich stand auf und ging nach draußen, gefolgt von den beiden anderen.

»Meirus, gibt es hier in der Nähe eine andere Unterkunft, wo Swanilda für kurze Zeit bleiben könnte?«

»Meine eigene Wohnung gleich dort drüben«, sagte er und deutete darauf. »Sie wird mein Gast sein, und ich werde meine Diener anweisen, Mahlzeiten für sie zuzubereiten, und Made auftragen, sich um die Pferde zu kümmern.«

»Aber... Thorn... «, sagte Swanilda in flehentlichem Ton.

»Wir sind jetzt schon so lange zusammen und haben eine so weite Reise hinter uns. Müssen wir uns jetzt wirklich

trennen?«

»Thor bat darum, nur mich alleine zu sprechen, also soll er seinen Willen haben. Ich werde mich allein und zu Fuß auf den Weg machen und nichts außer meinem Schwert bei mir tragen. Es wird sicher nicht allzu lange dauern, meine Liebe.

Ich möchte das abscheuliche Katzund-Maus-Spiel, das er mit uns treibt, beenden.«

»Kommt, Frau Swanilda«, sagte Meirus fröhlich und nahm ihren Arm. »Ich freue mich, eine Besucherin zu haben. Das ist so selten der Fall. Und ich würde Euren Rat hinsichtlich einiger meiner Geschäftsideen begrüßen.« Als sie

miteinander die dunkle Straße hinuntergingen, setzte er ihr diese Ideen mit Feuereifer auseinander. »Ich habe

beschlossen, mein Geschäft zu erweitern und zusätzlich noch Handel mit Bernstein zu betreiben. Aus diesem Grund würde ich Made gern mit Euch und dem Marschall in den

Norden schicken, falls Ihr damit einverstanden seid - zur Bernsteinküste -, wo Made als mein Schürfer und Vertreter für mich arbeiten wird und...«

Seine Stimme verlor sich in der Ferne und ich mußte

unwillkürlich lächeln, als ich entschlossen die

entgegengesetzte Richtung einschlug: Der alte Jude besaß ja tatsächlich einiges Geschick in der Kunst des Hellsehens.

Ich hielt mich länger in dem Gasthaus auf, als ich erwartet oder beabsichtigt hatte. Als ich schließlich wieder ging, wurde mir klar, daß Swanilda sich sicher schon große

Sorgen um mich machte und Meirus es wahrscheinlich kaum erwarten konnte, das Ergebnis meines Treffens zu erfahren

, daher versuchte ich, mich auf dem Rückweg zu beeilen, doch ich war wie betäubt und konnte mich nur steif und hölzern fortbewegen. Meine Gedanken waren so in Aufruhr, daß ich, als ich zu der Lagerhausgegend am Flußufer kam, noch eine ganze Weile herumsuchen mußte, bis ich das

Haus wiedererkannte, das Meirus mir gezeigt hatte. Auf dem ganzen Weg zurück vom Gasthaus hatte ich versucht, mir eine plausible Geschichte zurechtzulegen. Doch hatte ich offenbar keinen Einfluß auf meine Gesichtsfarbe, denn als ich mit dem Stiefel an den Türrahmen klopfte und Meirus selbst mir öffnete, rief er nach einem einzigen Blick auf mich aus: »Oh, Saio Thorn, Ihr seid ja so blaß wie ein Gespenst!

Kommt 'rein, kommt schnell herein. Hier, nehmt einen

ausgiebigen Schluck aus diesem Weinschlauch.«

Ich folgte seiner Aufforderung und trank dankbar, während er, Swanilda und Made, die hinter ihm in die Eingangshalle drängten, mich mit einer Mischung aus Anteilnahme,

Erwartung und Furcht beobachteten.

»Kam es zu einem Duell, Thorn?« fragte Swanilda

atemlos, als ich schließlich den Weinschlauch absetzte.

»Ging es zu Euren Gunsten aus, Fräuja Thorn?«

erkundigte sich Made schüchtern.

Meirus bemerkte: »Nun, er ist immerhin hier, auf den

Beinen, und hat allem Anschein nach keine größeren

Verletzungen davongetragen. «

»Besiegtet Ihr einen Gott, Frauja Thorn?« beharrte Made.

»In einem Kampf Mann gegen Mann?«

»Thor ist kein Gott«, sagte ich und versuchte, die Sache mit einem kurzen Lachen abzutun. »Und es fand auch kein Duell statt.

Er ist kein Feind. Er hatte sich nur verstellt und trieb seine Späße mit uns, als er uns scheinbar so erbittert verfolgte.«

»Oh, ich hatte so gehofft, daß etwas Ähnliches

dahintersteckt!« rief Swanilda, stimmte in mein Gelächter ein und schlang die Arme um mich. »Ich bin ja so froh!«

Meirus enthielt sich eines Kommentars, doch betrachtete er mich nachdenklich mit zusammengekniffenen Augen.

»Ich bin überrascht, alter Hellseher, daß Ihr nicht etwas in der Art vorhergesehen habt«, neckte ich ihn, in dem

Bestreben, einen möglichst sorglosen und ungerührten

Eindruck zu machen.

»Ich auch«, murmelte er und betrachtete immer noch

aufmerksam mein Gesicht.

Ich sah mich zu der Bemerkung veranlaßt: »Meine Blässe ist zweifellos darauf zurückzuführen, daß ich mich in der Erwartung eines Duells auf den Weg machte und diese düstere Stimmung noch nicht ganz abzuschütteln

vermochte.« Ich lachte erneut. »Doch unser vermeintlicher furchterregender Verfolger ist in Wahrheit... nun, so ziemlich genau das, für was Ihr ihn anfangs hieltet, Meirus. Ein Amtsgenosse von mir, sozusagen, der entsandt wurde, mir bei meiner historischen Suche zu helfen.«

Der Schlamm-Mann runzelte nun nachdenklich die Stirn.

Anscheinend kamen ihm meine Bemühungen, die

Befürchtungen, die alle gehegt hatten, zu zerstreuen und sie ins Lächerliche zu ziehen, reichlich übertrieben vor.

Doch Meirus sagte nur: »Dann kommt, Marschall. Kommt

herein und bedient Euch. Das Essen steht noch auf dem

Tisch.«

»Und erzähl' uns alles«, rief Swanilda vergnügt. »Wer

Thor wirklich ist und warum er hier ist.«

»Ich weiß nicht, ob es ein Zufall war«, sagte ich, »oder ob vielleicht alle Könige einfach zur selben Zeit dieselben Ideen haben. Jedenfalls beschloß Theoderichs Cousin Eurich, der König der Westgoten, drüben in Aquitanien zu fast derselben Zeit wie Theoderich, die wahrheitsgetreue Geschichte der Goten erforschen zu lassen. Und wie Theoderich entsandte auch Eurich einen Mann, der die alte Spur jener ersten nomadischen Goten zurückverfolgen sollte. Natürlich trug Eurich seinem Gesandten Thor auf, in Novae eine Pause

einzulegen, Theoderich seine Aufwartung zu machen und

seine Mission zu erklären. Und natürlich sagte Theoderich bei dieser Gelegenheit, daß ich mit demselben Auftrag

bereits unterwegs sei. Deshalb beeilte sich Thor, mich einzuholen. Wie wir inzwischen alle wissen, verpaßte er uns in Durostorum nur knapp. Doch blieb er uns auf den Fersen und kam, wahrscheinlich um seine Reise etwas

abwechslungsreicher zu gestalten, auf die Idee, einen Jux aus der ganzen Verfolgungsjagd zu machen und so zu tun, als stelle er uns aus irgendeinem düsteren, mysteriösen Grund nach.« Ich wedelte lebhaft mit dem Knochen, an dem ich genagt hatte. »Wie ich schon sagte, reine Albernheit.

Und reiner Zufall.«

»Ein unglaublicher Zufall«, knurrte Meirus. »Einschließlich der Namen Thor und Thorn.«

»Ja«, sagte Swanilda vergnügt. »War der Name Thor nur

ein Teil seines Streichs?«

»Nein«, sagte ich. »Zufall oder nicht, er heißt wirklich Thor.« Und das war das erste Mal während meines Berichts, daß ich die Wahrheit sprach - oder wenigstens einen Teil der Wahrheit. »Nun, unsere Begegnung verlief alles andere als harmonisch, zumindest am Anfang. Ich ließ mir von dem

Griechen im Gasthaus Thors Zimmer zeigen und stürmte mit gezücktem Schwert auf ihn los. Hätte er sein eigenes

Schwert in Reichweite gehabt, wäre es durchaus möglich gewesen, daß wir uns gegenseitig erschlagen hätten, bevor wir irgendwelche Erklärungen hätten abgeben können. Doch war er eben im Begriff, ins Bett zu gehen, unbekleidet und unbewaffnet, deshalb verzichtete ich darauf, den ersten Schlag auszuführen. Als er dann seine Geschichte erzählt hatte, mußten wir natürlich beide herzlich lachen.« Swanilda und Made lachten ebenfalls, als wären sie auch dabei

gewesen, doch der alte Jude stimmte nicht in ihr Gelächter mit ein. »Das ist die ganze Geschichte. Thor wird mich jetzt bei dieser Mission begleiten und -«

»Uns begleiten«, sagte Swanilda und legte ihre Hand auf meine.

Ich fuhr fort: »Wir werden zusammen weitersuchen und

von hier aus in Richtung Norden aufbrechen. Außerdem

könnte es sein - ich hatte noch keine Gelegenheit, ihn danach zu fragen - daß er bereits über mir noch unbekannte Informationen verfügt. Vielleicht hat er schon Überlegungen angestellt, wo wir am sinnvollsten nachforschen könnten...

um bessere Beweise zu finden als alte Lieder und

verschwommene Erinnerungen...«

»Ich könnte mir vorstellen«, sagte Swanilda, »daß Maghib ebenfalls den Wunsch hat, sich uns anzuschließen, wenn du nichts dagegen hast.«

»Nun, die Sache ist die...«, sagte ich und trommelte mit den Fingern auf dem Tisch. »Betrachte es einmal aus

folgendem Blickwinkel. Diese Mission, die ich eigentlich allein durchführen wollte bekam immer mehr Mitläufer auf dem Weg hierher.« Swanilda sah mich bestürzt an, daher wandte ich mich direkt an sie. »Ich sagte dir schon zu Beginn, meine Liebe, daß unerforschtes Gebiet vor uns liegt, das möglicherweise nur so wimmelt von Wilden. Sicher ist, daß wir die größten Chancen haben, mit dem Leben

davonzukommen und die Informationen, die wir suchen, zu finden, wenn wir möglichst wenige sind.« Ich richtete meinen Blick auf die beiden anderen. »Ich kann mich nicht weigern, meinen neuen Verbündeten mit mir zu nehmen, denn Thor

ist der Gesandte eines anderen Königs und mit derselben Mission beauftragt wie ich. Doch muß ich leider feststellen, daß diese Suche allmählich zu einem Chaos ausartet.«

Swanilda sah nun furchtbar gekränkt aus, Made wirkte

sehr niedergeschlagen, und Meirus sah mich unablässig, wenn auch mit völlig ausdruckslosem Blick an. Ich schloß meine Argumentation mit den Worten: »Ich hoffe, Ihr habt alle Verständnis für meine Lage. Ich muß die ganze Sache noch ausführlich mit Thor besprechen. Es steht mir nicht zu, willkürlich zu entscheiden, wie sich die Gruppe von nun an zusammensetzen wird.«

Swanilda, die äußerst betrübt wirkte, nickte und Made

folgte ihrem Beispiel.

»Nun«, sagte ich, »werde ich ins Gasthaus zurückkehren und mich mit Thor in meine Gemächer zurückziehen, wo ich gewisse Unterlagen und Karten aufbewahre, die ich zu

einem früheren Zeitpunkt während dieser Reise angefertigt habe. Ich will ihm Zugang zu allem verschaffen, was ich bis jetzt erfahren habe, und ihn ersuchen, umgekehrt mir alles, was er weiß, mitzuteilen. Dann werden wir besprechen, wie wir weiter vorgehen und welche Begleiter - falls überhaupt -

wir mitnehmen wollen. Wahrscheinlich wird uns das die

ganze Nacht beschäftigen. Wenn wir dann schließlich doch vom Schlaf übermannt werden, schlafen wir sicherlich lange aus. Da das Zimmer auch Swanilda gehört und Thor und ich es momentan für uns beanspruchen, bitte ich Euch, Meirus, so gastfreundlich zu sein und sie noch bei Euch zu behalten, bis ich sie morgen abholen werde.«

»Das läßt sich einrichten«, sagte er in äußerst frostigem Ton zu mir und wandte sich dann mit großer Wärme in der Stimme an Swanilda: »Werdet Ihr einem alten Mann die

Ehre erweisen, seine Einladung anzunehmen, die Nacht hier zu verbringen?«

Bedrückt nickte sie wortlos und wünschte mir nicht einmal mehr »Gute Nacht«, als ich ging.

Thor war bereits in meinen Gemächern, als ich

zurückkam. Er fragte mich: »Was hast du ihnen gesagt?«

»Die Unwahrheit«, antwortete ich.

6

»Die Unwahrheit?« erwiderte Thor gleichgültig. »Wozu der Aufwand?«

»Weil der Schlamm-Mann bissige Bemerkungen über all

die Zufälle machte, die bei unserer Begegnung eine Rolle spielten. Wenn er - oder überhaupt jemand - nur wüßte, wieviele Zufälle tatsächlich nötig waren, uns

zusammenzubringen...«

»Unglaublich, das stimmt. Doch du bist ebenfalls unglaublich. Ich bin unglaublich. Sollen die Ahnungslosen doch ungläubig sein. Warum sollten wir uns den Kopf

darüber zerbrechen, was irgend jemand außer uns selbst möglicherweise von uns denkt? Außerdem hast du mir noch gar nicht gesagt... was du von mir denkst? Bin ich nicht ansehnlich? Begehrenswert? Unwiderstehlich?«

Thor lag nackt auf meinem Bett, lächelte mich aufreizend an und räkelte sich wollüstig im warmen Schein der Lampe, um Gesicht und Körper gebührend zur Geltung zu bringen.

Ich hätte deren Schönheit in der Tat gepriesen, wenn ein solches Verhalten nicht schamlos unbescheiden von mir

gewesen wäre, da Thors Gesicht und Körper den meinen

unglaublich ähnlich waren.

Inzwischen war ich auch nackt, und wir wiesen alle beide ähnliehe, untrügliche Zeichen sexueller Erregung auf. Thor starrt jedoch nur hingerissen auf meine Kehle.

»Ich freue mich so darüber, daß du auch den

Venuskragen trägst.«

»Wie bitte?«

»War dir gar nicht bewußt, daß du einen hast? Und ist dir auch nicht aufgefallen, daß ich einen habe?«

»Ich trage überhaupt nichts. Oder wenigstens nichts außer der Gänsehaut meiner Erregung. Ich weiß nicht, was ein Venuskragen ist.«

»Die kleine Falte rund um deinen Hals, genau da.« Thor zeich nete sie mit einer Fingerspitze nach, was meine

Gänsehaut ungeheuer verstärkte. »Bei Männern tritt dieses Phänomen nicht auf nur bei manchen Frauen. Und

zumindest bei uns beiden glücklichen Hermaphroditen. Es handelt sich dabei um keine Runzel; es heisst daß der

Venuskragen schon bei ganz kleinen Mädchen beobachtet

werden kann, lange bevor sie ihn zu Recht tragen.«

»Was willst du damit sagen?«

»Der Venuskragen ist ein untrüglicher Hinweis auf einen ungewöhnlich ausgeprägten sexuellen Appetit. Sind dir nicht schon Frauen aufgefallen, die genau an dieser Stelle ein Band um den Hals tragen? Sie versuchen keusch, dieses

Indiz zu verbergen« -Thor lachte - »oder so zu tun, als besäßen sie es.«

Obwohl mir entgangen war, daß wir beide diesen

Venuskragen hatten, war mir der eine auffallende

Unterschied zwischen unseren Körpern sofort ins Auge

gestochen. Mein eigener Körper wies nur belanglose Spuren vergangener Mißgeschicke auf- wie die winzige Narbe, die meine linke Augenbraue spaltete und von der Keule eines burgundischen Bauern herrührte, und die halbmondförmige Narbe auf meinem rechten Unterarm, wo Theoderich den

Schlangenbiß herausgeschnitten hatte. Doch der obere Teil von Thors Rücken, zwischen seinen Schulterblättern, war durch eine wirklich fürchterliche Narbe entstellt. Sie war glänzend weiß und runzlig und sicher schon so alt, daß Thor sie seit seiner Kindheit haben mußte. Sie war so groß wie meine Handfläche und kein Andenken an einen Unfall, da sie die Form des »gebogenen Kreuzes« aufwies jene vier rechtwinkligen Arme, die den kreisförmig geschwunge nen Hammer des Gottes Thor symbolisieren. Allein der Anblick dieser Narbe tat mir schon weh, als könnte ich den

höllischen Schmerz spüren, den Thor als Kind empfunden haben mußte, als das Zeichen in seine glatte Haut

geschnitten oder eingebrannt worden war.

Ich fragte: »Wie kamst du zu dieser Narbe?«

»Mein allererster männlicher Liebhaber«, sagte Thor so beiläufig, als seien sowohl der Liebhaber als auch die Verletzung völlig belanglos. »Ich war sehr jung und nicht besonders treu. Er war sehr eifersüchtig und nicht

besonders nachsichtig. Daher das Brandzeichen der

Schande.«

»Warum brandmarkte er dich mit dem Hakenkreuz?«

Thor zuckte nachlässig mit den Schultern. »Es war

wahrscheinlich ironisch gemeint. Weil Thors Hammer über den frisch Vermählten geschwungen wird, um Beständigkeit zu garantieren. Doch bin ich bestrebt, aus allem, was mir widerfährt, wenigstens einen gewissen Nutzen zu ziehen.

Die Narbe brachte mich zumindest auf die Idee, Thor als meinen männlichen Namen anzunehmen.«

»Und du sagtest, Genoveva sei dein weiblicher Name. Wie lange benutzt du den schon?«

»Seit ich denken kann. Die Nonnen gaben mir diesen

Namen, als ich ein Säugling war. Sie nannten mich nach der Königin und Gemahlin des großen Kriegers der Westgoten, Alareichs.«

»Interessant«, sagte ich. »Bei mir war es genau

umgekehrt. Den männlichen Namen Thorn bekam ich als

Säugling, später wählte ich dann Veleda als meinen

weiblichen Namen.«

Thor lächelte mich einladend an und liebkoste mich

aufreizend. »Bist du nervös, Thorn-Veleda? Redest du

deshalb so viel? Wirklich, Thorn! Auf diese Nacht haben wir lange gewartet. Komm. Laß' uns beweisen, daß wir unsere Venuskrägen zu Recht tragen.«

An diesem Punkt muß ich gestehen, daß meine

angenehmen Erinnerungen an die Wonnen, die mir frühere Liebhaber verschafft hatten, während des

Geschlechtsverkehrs mit Thor verblaßten und in

Vergessenheit gerieten. Die Genüsse, an denen ich mich erst vor kurzem mit Swanilda ergötzt hatte, schienen schal im Vergleich zu dem, was mir jetzt an Genuß geboten

wurde. Rückblickend sah ich jetzt jeden Geschlechtsakt, jeden beliebigen Partner meines bisherigen Lebens in

diesem Licht - Widamer, Renata, Naranj, Dona, Deidamia, all die anderen, an deren Namen ich mich nicht mehr

erinnerte - selbst Gudinand, dessen Andenken ich schon so lange in Ehren hielt.

Wenn es etwas gab, das mich daran hinderte, diese Nacht aus vollem Herzen zu genießen, dann war es eine kleine Ungereimtheit, die mir keine Ruhe ließ. Seit Swanildas Bemerkung über die Ähnlichkeit der Namen Thor und Thorn war ich - ja was eigentlich? - aufgewühlt? irritiert? erregt?

beunruhigt? gewesen, wann immer der Name Thor erwähnt

worden war. Warum nur? Ich mag eine gewisse Vorahnung

gehabt haben, wer und was Thor wirklich war. Doch hätte mich die Aussicht auf die Entdeckung, daß ich keinen

Einzelfall innerhalb der menschlichen Rasse darstellte, kaum geärgert oder in Schrecken versetzt. Schließlich hatte ich seit meiner Kindheit, als ich erfahren hatte, was ich war, inständig gehofft, einem Menschen wie mir selbst zu

begegnen.

War es dann denkbar, daß ich etwas anderes

vorausgeahnt hatte? Etwas Schreckliches,

das die

Begegnung von Thor und Thorn überschatten sollte? Auch das konnte ich kaum glauben. Wenn es je zwei menschliche Wesen gegeben hatte, die von der Natur dazu ausersehen waren, einander Freude zu bereiten, und vom Schicksal

dazu bestimmt waren, einander die Treue zu halten, konnten das nur Thor und Thorn sein. Außerdem wurde Thor

offensichtlich nicht von irgendwelchen bösen Ahnungen

heimgesucht. Beim ersten Hinweis auf meine Existenz - auf die Möglichkeit, ein anderer Hermaphrodit könnte vielleicht tatsächlich zur selben Zeit in derselben Welt leben -, hatte Thor sich voller Verlangen auf die Suche nach mir begeben.

Hinter der ganzen Angelegenheit steckte Widamer, jener Gesandte des westgotischen Hofes in Tolosa, da der

Besuch bei seinem Cousin Theoderich in Novae ihm

zunächst ein paar glückliche Stunden mit einer

Stadtbewohnerin namens Veleda und anschließend eine

fragwürdige Begegnung mit einem Herzog namens Thorn

beschert hatte.

Widamers Abschiedsworte mir gegenüber waren

gewesen: »Ich werde diese Angelegenheit im Auge... und in Erinnerung behalten...« Diesem Vorsatz war er offensichtlich treu geblieben, obwohl er anscheinend nie den tatsächlichen Zusammenhang zwischen Veleda und Thorn durchschaut

hatte. Jedenfalls machte Widamer einige Zeit später, bei einem Fest in Tolosa, in möglicherweise angetrunkenem

Zustand, eine Bemerkung über die verblüffende Ähnlichkeit zweier Personen, die er in Novae getroffen hatte. Vielleicht hatte es sich dabei nur um eine frivole oder obszöne

Spekulation über das Naturell dieser beiden Personen

gehandelt. Einer der Gäste bei diesem Fest, der diese

Bemerkung mitbekam, hatte jedoch sofort erkannt, was

Widamer verborgen geblieben war. Bereits am

darauffolgenden Morgen hatte Thor sein Pferd gesattelt und war in Richtung Osten nach Novae geritten. Als er dort erfuhr, daß ich mich mit Nachforschungen befaßte, war er mir gefolgt, so lange, bis er mich schließlich gefunden hatte.

Und nun lagen wir also, in inniger Umarmung, hier in diesem Zimmer.

Ich sagte: »Hast du wirklich vor, niemals nach Tolosa

zurückzukehren, wie du gestern angedeutet hast? Ich hatte nämlich angenommen, daß du ein junger Adliger von

gehobenem Stand wärst, da du ja einem Fest bei Hofe dort beiwohntest.«

»Ich wünschte, es wäre so«, sagte Thor und brachte mich dann erneut aus der Fassung. »Ich bin - oder vielmehr ich war - Kammerzofe und Haarpflegerin von König Eurichs

Gemahlin, Königin Ragna.«

»Was? Eine männliche Kammerzofe? Eine Kammerzofe namens Thor?«

»Namens Genoveva. Und nicht männlich. In meinem

Heimatort Tolosa und überall im Gebiet der Westgoten, wo ich mich in Begleitung der Königin aufhielt, war ich bekannt und geachtet als ihre fingerfertige Kammerzofe Genoveva.

Ich bemühte mich, diesen guten Ruf nicht zu schädigen.

Genovevas kleine Indiskretionen wurden immer äußerst

diskret abgewickelt. Nur wenn ich meine männlichen

Bedürfnisse befriedigen wollte, wurde ich Thor, und bei diesen Gelegenheiten pflegte ich mich in ein Bordell von üblem Ruf zu stehlen, wo die Frauen den Männern, die ihre Gelüste an ihnen stillen, wenig Fragen stellen.«

»Interessant«, sagte ich erneut. »Ich treffe auch viele Vorkehrungen, um meine Identität zu schützen, nur

umgekehrt. Ich lebe als Mann in der Öffentlichkeit.«

»Ich sagte dir ja schon, ich bin von meiner Erziehung her nicht gerade abgehärtet. Ich war ein Findling, wurde von Nonnen erzogen und unterrichtet und in Tätigkeiten

unterwiesen, die für eine Frau als passend empfunden

wurden. Nähen, Putzen, Kochen schließlich noch die

Fertigkeiten des Schminkens, des Haarefärbens und

Haarekräuselns. Und dann verließ ich das Kloster, um

meinen eigenen Weg im Leben zu finden.«

»Ich will dir nun die Lügen wiederholen, die ich meinen Freunden hier über dich erzählt habe.«

»Warum?«

»Damit du dasselbe über unsere Begegnung erzählst wie

ich, wenn du mit Meirus, Swanilda oder Made sprichst.«

»Warum sollte ich mit ihnen sprechen?«

»Weil sie alle auf irgendeine Weise in meine Mission

verwickelt sind, eine Geschichtschronik über die Goten zu erstellen.«

Thor wich ein Stück zurück. »Ich hatte gehofft, daß du nach dem, was heute abend zwischen uns vorgefallen ist, diese alberne Mission aufgeben würdest.«

»Sie aufgeben? Ich bin im Auftrag des Königs hier!«

»Na und? Ich verließ ohne Erklärung oder Entschuldigung eine Königin, nur um dich zu finden. Es ist mehr als

wahrscheinlich, daß Königin Ragna mir eine Abordnung

nachgesandt hat, die den Auftrag hat, mich zu bestrafen.«

Offenbar nicht beunruhigt von dieser Aussicht fügte Thor kichernd hinzu: »Ich weiß nur zu gut, daß sie inzwischen wie eine häßliche alte Hexe aussehen muß, nun, da sie meine Dienste nicht mehr in Anspruch nehmen kann.«

»Ich bin geschmeichelt, daß du mich so intensiv gesucht hast. Doch muß ich dich darauf hinweisen, daß du eine

Kammerzofe warst. Ich bin Marschall eines Königs.«

Thor zog sich noch weiter von mir zurück und sagte

gereizt: »Ach ja. Nur eine Kammerzofe. Die unwürdige Dienstmagd bittet Euch um Verzeihung, Erlauchtester. Ihr seid mir ja so überlegen. Selbstverständlich gehen Eure Wünsche immer vor.«

»Nun, nun. Ich wollte keinen herablassenden Eindruck

machen oder -«

»Du bist von höherem Rang, Saio Thorn, doch nur, wenn

du deinen Titel, deine Insignien und deine Kleider trägst. Im Moment sehe ich auf diesem Bett nur zwei nackte

Hermaphroditen, beide ji^jßgeburten, Ausgestoßene aus der Welt der Normalen. Keiner von beiden ein Jota besser oder anders oder von höherem Stand als der andere.«

»Völlig richtig«, sagte ich, wenn auch etwas steif.

»Immerhin mußt du aber doch zugeben, daß du wesentlich weniger aufgeben mußtest als das Amt eines Marschalls.«

Unvermittelt hellte sich Thors Stimmung wieder auf. »Wir streiten uns tatsächlich - wie ein ganz gewöhnliches

Ehepaar. So weit dürfen wir es niemals kommen lassen. Wir beide müssen gegen den Rest der Welt zusammenhalten.

Warte... laß mich dich wieder im Arm halten...«

Im nächsten Moment taten wir etwas, das für andere

Menschen, gleichgültig welchen Geschlechts, anatomisch unmöglich wäre. Und der Höhepunkt dieses Liebesspiels

war so vollkommen und paradiesisch schön, daß man ihn

keinem anderen Menschen außer einem Hermaphroditen

begreiflich machen kann - und dann auch nur einem Hermaphroditen wie Thor oder mir, der das außerordentliche Glück gehabt hatte, einen anderen Hermaphroditen

gefunden und mit ihm Geschlechtsverkehr gehabt zu haben.

An dieser Stelle muß ich noch etwas anderes gestehen,

weil viele meiner folgenden Handlungen sonst

unverständlich wären.

Um ganz ehrlich zu sein, noch bevor diese Nacht sich dem Ende zuneigte, war ich Thor mit Haut und Haaren verfallen.

Ich hatte mich keineswegs in ihn verliebt; ja ich war nicht einmal schwärmerisch vernarrt in Thor als Thor; Ich war einfach nur völlig überwältigt und hingerissen von den unerschöpflichen sexuellen Wonnen, die Thor mir zu bieten vermochte. Ich muß wohl kaum erwähnen, daß ich niemals in meinem Leben unter dem lähmenden christlichen Laster der falschen Scham gelitten hatte und weder meinen

sexuellen Appetit unterdrückt noch Mangel an

Gelegenheiten gehabt hatte, diesen Appetit zu stillen. Und doch ähnelte ich jetzt einem völlig zügellosen Menschen, der sich, nachdem er sich lange mit einer frugalen Diät

bescheiden mußte, endlich an eine unermeßlich reich

gedeckte Tafel versetzt sieht - die nicht nur die üblichen Speisen bietet, sondern köstliche Delikatessen, mit denen er seinen unersättlichen Hunger immer wieder zu stillen sucht.

Nun, da ich mich selbst in den Fesseln einer ins Maßlose gesteigerten sexuellen Gier erlebte, konnte ich plötzlich nachempfinden, wie ein Trinker Sklave seines Weines wird und warum der alte Einsiedler Galindo jeder menschlichen Gesellschaft und Annehmlichkeit entsagte außer der, die ihm der abscheuliche Rauch seines Krautes verschaffte.

Als wir nach unserem sinnlichen Akt der Wollust wieder nebeneinander lagen, die Körper vor Schweiß glänzend,

sagte ich: »Da du mir bis hierher gefolgt bist, Thor, und von meiner Suche wußtest, hätte ich eigentlich erwartet, daß du vorhast, dich mir anzuschließen, statt davon zu sprechen, sie abzubrechen.«

Thor sagte erneut: »Ich verabscheue Reisen,

Unannehmlichkeiten und das Leben im Freien. Ich

bevorzuge bei weitem eine geordnete und behütete

Existenz. Um das zu erreichen - gemeinsam mit dir wäre ich ganz und gar nicht abgeneigt, die zweifelhaften Vorteile meiner doppelten Identität aufzugeben. Ich hätte keinerlei Bedenken, mein wahres Ich auszuleben, und würde

wohlgemut jede Niederträchtigkeit ertragen, die das mit sich bringen würde. Warum sträubst du dich dagegen, es mir

gleich zu tun, Thorn? In Novae erfuhr ich, daß du nicht unvermögend bist, und man zeigte mir dein nobles

Anwesen. Warum sollten wir beide nicht einfach dorthin zurückkehren, um dort angenehm und glücklich in müßiger Zurückgezogenheit zu leben und das gemeine Volk denken oder reden lassen, was es will?«

»Liufs Guth!« stieß ich hervor. »Ich habe gearbeitet,

gekämpft und getötet, um den Rang und Reichtum eines

Herzogs zu bekommen. Ich habe gearbeitet, gekämpft und getötet, um meinen Posten zu behalten. Wenn König

Theoderich erfahren sollte, daß er einen Hermaphroditen in den Adelsstand erhoben hat, wie lange, glaubst du, würde ich dann noch Herzog sein? Oder wohlhabend? Oder

Besitzer dieses Anwesens? Nein, ich habe nicht vor, auf alles zu verzichten, was ich besitze, nur um der Welt der Normalen ein trotziges Schauspiel zu bieten.«

Der Gedanke ging mir durch den Kopf, daß meine Worte

wie die eines Christen wirken mußten: unerschütterlich darauf beharrend, gut zu sein und das Richtige zu tun, und das nur wegen der Belohnungen, die für ein solches

Verhalten winken. Deshalb sagte ich noch: »Theoderich und ich waren schon lange Freunde, bevor er König wurde, ich meinen Treueeid ablegte und er mich zu seinem Marschall machte. Bei unserer allerersten Begegnung rettete er mir nach dem Biß einer Viper das Leben. Ich schulde ihm mehr als die Vasallentreue, die man einem König

entgegenzubringen hat ich schulde ihm als Mensch

kameradschaftliche Loyalität. Außerdem übernahm ich mit den Privilegien der Herzogswürde gleichzeitig auch

Verpflichtungen. Darüber hinaus muß ich an meine

Selbstachtung denken. Ich habe diese Mission

angenommen und ich werde sie auch zu Ende führen. Du

kannst mit mir kommen, Thor, oder hier bleiben und auf mich warten, ganz wie es dir beliebt.«

Mochten diese Worte auch entschlossen und herrisch

klingen, so zeugten sie doch in Wahrheit vom

ausweichenden Verhalten eines Schwächlings. Ich

versäumte es nämlich, eine dritte Alternative zu erwähnen: daß Thor nach Tolosa zurückkehren oder woanders

hingehen und mich für immer verlassen könnte. Doch haltet mir zugute, daß ich ihm bereits verfallen war. Obwohl Thor bemerkthaben mußte, daß ich nur zwei der drei

Möglichkeiten dargelegt hatte, reagierte er keineswegs hocherfreut, sondern hüllte sich in eisiges Schweigen.

Deshalb bemerkte ich, während ich mit einer gewissen

Unruhe darauf wartete, Thor sagen zu hören: »Ich werde dich begleiten« oder »Ich werde auf dich warten«: »Meine Begleiterin Swanilda war übrigens früher auch Kammerzofe.

Zuerst bei Theoderichs Schwester, Prinzessin Amalamena, später dann bei seiner -«

Thor brach sein Schweigen und herrschte mich an:

»Wahrhaftig! Du verlangst von mir Treue und Beständigkeit und hast die ganze Zeit seit Novae diese Dirne bei dir!«

Ich versuchte zu protestieren: »Ich habe nichts verlangt von -«

»Du sagtest, ich brauche nicht mehr weiter zu suchen,

oder vom Pfad der Tugend abzuweichen. Willst du mir jetzt allen Ernstes erzählen, daß ich dich von nun an mit dieser Schlampe teilen muß?«

»Nein, nein«, sagte ich unschlüssig. »Das wäre wohl

keinem von euch beiden gegenüber fair. Und da ich damit rechnete, daß du tatsächlich mit mir Weiterreisen würdest, habe ich auch schon mit Swanilda gesprochen... und

angedeutet, daß sich unsere Wege bald trennen würden...«

»Das möchte ich auch hoffen! Und wer ist eigentlich dieser Made, von dem du sprachst? Ist das deine männliche Konkubine?«

Über diese absurde Vorstellung mußte ich einfach lachen, was der Standpauke, die Thor nun zu hören bekam, ein

wenig die Schärfe nahm: »Nun hör' mir mal gut zu! Ich gebe zu, daß du mit deiner Bemerkung vorhin recht hattest - daß wir beide gleich sind wenn wir uns unserer Kleider und anderer Oberflächlichkeiten entledigt haben. Wenn wir ab jetzt ein Paar sein wollen, verspreche ich, weder als

dominanter Ehemann noch als dominante Ehefrau

aufzutreten. Doch erwarte ich dasselbe Zugeständnis auch von dir. Merk' dir außerdem: Das ist meine Suche. Ich nehme mit, wen ich will, und ob wir nun viele oder wenige sind: Der Anführer unserer Truppe bin immer noch ich, wenn es darum geht, Entscheidungen zu treffen oder Befehle zu geben.«

»Väi, väi, väi!« sagte Thor, der urplötzlich wieder guter Laune war. »Schon wieder ein Streit? Warum suchst du

ständig Streit, Thorn, und vergeudest so viel kostbare Zeit von unserer ersten gemeinsamen Nacht? Komm, wir wollen unseren Streit mit Küssen beenden und dann noch

einmal...«

»Wirklich, Thor. Der Morgen bricht schon fast an.«

»Na und? Schlafen können wir, wenn wir nicht mehr

genug Energie oder Phantasie haben, um etwas Besseres

mit unserer Zeit anzufangen. Danach werden wir deine

großartige Suche fortsetzen - und ja, natürlich werde ich dich begleiten. Doch ist der Pfad der Goten schon

jahrhundertealt; er kann noch ein wenig länger warten.

Meine... Bedürfnisse... sind drängender. Deine nicht?«

Gewiß liebte ich Thor damals nicht, noch liebte er mich.

Doch ist es ebenso gewiß, daß wir beide verwirrt und fast von Sinnen waren, so stark war unsere Besessenheit

voneinander. Und das gleich vom Beginn unserer Beziehung an, als wären wir vom Spruch eines Zauberers oder durch eine Beschwörung von Dus, dem Geist der Wollust, in

diesen Zustand versetzt worden. Ein Beweis für die

ekstatische Verzückung, die von uns beiden Besitz ergriffen hatte, war, daß irgendwann während unserer nächsten

Umarmung in dieser Nacht einer von uns keuchte: »Ach, wie innig wünschte ich mir, dir ein Kind schenken zu können...«

Und der andere darauf erwiderte: »Ach, wie innig

wünschte ich mir, dein Kind austragen zu können...«

Doch erinnere ich mich nicht daran, wer von uns beiden welche Worte aussprach.

»Jesus Christus!«

Sie sprach nicht sehr laut, doch rissen mich diese Worte aus dem Schlaf, und mein erster Gedanke war, daß ich noch nie gehört hatte, daß Swanilda den Namen Jesu als Fluch benutzt hätte. Mein zweiter Gedanke war Erleichterung

darüber, daß unsere Decken Thors und meine Blöße leidlich verhüllten, da helles Tageslicht durch das Fenster des Zimmers strömte und Swanilda uns offensichtlich in enger Umarmung hatte liegen sehen. Dann fiel die Tür mit einem lauten Knall ins Schloß, als sie aus dem Zimmer stürzte. Ich beeilte mich, aus dem Bett zu kommen, doch Thor lachte nur.

»Ihr Überwachungssystem funktioniert gut, nicht wahr?«

»Sei ruhig«, knurrte ich, während ich ungeschickt anfing, mich anzuziehen.

»Nun, wenn sie dein Geheimnis bis jetzt noch nicht geteilt hat, weiß siejedenfalls nun Bescheid. Und wie ich die Frauen kenne und das tue ich zur Genüge - wird sie es in kürzester Zeit der gesamten Schöpfung mitteilen.«

»Das glaube ich nicht«, murmelte ich. »Doch muß ich mir Gewißheit darüber verschaffen.«

»Es gibt nur einen sicheren Weg, die Lippen einer Frau zu versiegeln. Und zwar mit der Erde, in der sie begraben wird.«

»Wirst du wohl ruhig sein? Verdammt, wo ist mein anderer Stiefel geblieben?«

Thor stand auf, wühlte unter dem Bett herum und kam

grinsend durch das Zimmer auf mich zu, um mir den Stiefel zu überreichen. Selbst in meinem gegenwärtigen Zustand, in dem ich zwischen Ärger, Schuldgefühlen und Besorgnis hinund herschwankte, konnte ich nicht umhin, erneut die

Schönheit von Thors nacktem Körper im Licht der

Morgensonne zu bewundern. Und wenn meine Gedanken

auch noch so unritterlich waren, ich mußte doch zugeben, daß Thor sich geschmeidiger und anmutiger bewegte als

Swanilda. Gleich darauf zuckte ich zusammen, als der

strahlend schöne Körper sich umwandte und ich die

totenblasse Narbe in Form von Thors Hammer sah.

»Ich begleite Swanilda zu Meirus' Haus zurück«, sagte ich.

»Du bleibst hier, Thor. Zieh' dich an, frühstücke, tu, was dir beliebt. Achte nur darauf, außer Sichtweite zu bleiben. Gib mir viel Zeit, Swanilda zu besänftigen und herauszufinden, was sie erraten hat. Ich werde dich später in Meirus

Lagerhalle am Hafen treffen.«

Ich schickte mich an, zu gehen, doch hielt Thor mich lange genug auf, um die uralte weibliche Handlung zu zelebrieren, die Besitzansprüche symbolisiert: er zupfte ein paar Fäden aus meiner Tunika, bevor ich hinaus in die Öffentlichkeit trat.

Dann verließ ich eiligst das Zimmer und das Gebäude. Ich dachte, Swanilda sei überstürzt geflohen und schon weit weg, doch schlich sie nur traurig über den Hof vor den Stallgebäuden des Gasthauses. Als ich sie eingeholt hatte, platzte ich mit dem ersten Satz heraus, der mir in den Sinn kam: »Hast du schon gefrühstückt, Swanilda?«

Sie entgegnete scharf: »Natürlich. Es ist fast Mittag.

Meirus gab mir etwas zu essen.« Doch als sie mir ihr

Gesicht zuwandte, war es nicht zornig, sondern

tränenüberströmt.

Ich entschloß mich, keine Hinhaltetaktik zu betreiben, sondern sofort zur Sache zu kommen. »Meine Liebe, du

sagtest mir selbst, bevor wir diese Reise antraten, daß ich jederzeit nur zu sagen brauchte: ›Swanilda, genug‹.«

Sie fuhr sich über die Augen. »Ach, geliebter Thorn, ich war innerlich darauf vorbereitet, dich eines Tages zu

verlieren. Vielleicht an eine andere schöne Prinzessin wie Amalamena. Doch hätte ich mir nie träumen lassen, daß ich dich an einen Mann verlieren könnte.«

Ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Thor und ich waren also durch unsere Decken wirklich ausreichend verhüllt gewesen. Swanilda dachte nur, sie wisse, was sie gesehen habe.

Ich erwiderte: »Ich sagte dir doch, daß Thor und ich

gestern abend viel zu besprechen hatten. Als uns dann der Schlaf übermannte, kippten wir einfach um.«

»Und einander in die Arme. Sei kein Heuchler, Thorn. Ich mache dir keine Vorwürfe. Schließlich hätte ich dich auch nicht zu überraschen brauchen. Ich bin nur so traurig, weil...

weil ich dich so gut zu kennen glaubte.« Sie versuchte zu lachen, schluchzte aber statt dessen. »Da habe ich mich wohl geirrt, oder?«

Ich war nicht gerade erfreut darüber, daß sie Thor und mich für zwei verachtenswerte Homosexuelle hielt, doch war das immer noch besser, als wenn sie uns als das erkannt hätte, was wir wirklich waren, und es womöglich noch in alle Welt hinausposaunt hätte.

»Es tut mir leid, daß du das entdeckt hast, Swanilda. Oder zumindest auf diese peinliche Art und Weise entdecken

mußtest. Doch gibt es da noch ein paar Dinge, die du

unmöglich wissen kannst. Wenn du sie wüßtest, würdest du vielleicht besser von mir denken.«

»Ich denke nicht schlecht von dir«, sagte sie, und es klang aufrichtig. »Ich lasse dir deine - deine Vorlieben. Doch werde ich mich nicht von dir trennen. Wir wollen weitermachen mit der Mission.«

»Nein, das wollen wir nicht.«

Sie schaute mich ungläubig an. »Du würdest die Suche

aufgeben?«

»Nein, ich will nur, daß sich unsere Wege trennen. Ich möchte, daß du nach Novae zurückkehrst.«

Sie sah untröstlich aus. »Ach, Thorn, als ich dir damals erklärte, du könntest jederzeit sagen: ›Swanilda, genug‹, fügte ich hinzu, daß ich von diesem Zeitpunkt an dann deine demütige Dienerin sein würde. Bitte - laß mich wenigstens das für dich sein.«

Ich schüttelte den Kopf. »Das wäre für dich, für mich, für jeden von uns unerträglich. Du mußt das einfach einsehen, und besser jetzt als später.«

Sie wirkte nun völlig verzweifelt. »Bitte, Thorn!«

»Swanilda, ich halte nicht viel von Hellsehern, doch

vielleicht sollte man sie in ganz seltenen Fällen manchmal ernstnehmen. Gestern abend sagte Meirus voraus, daß du mir exakt am heutigen Tag die Freundschaft aufkündigen würdest. Ich schlage vor, daß du genau das tust.«

» Das kann ich nicht!«

»Doch. Es wird uns das Abschiednehmen erleichtern, und Abschied nehmen müssen wir. Nun komm, geh mit mir zu

dem Haus des alten Juden. Ich bin ganz benommen vor

lauter Schlafmangel. Ich werde ihn um einen Schluck Wein bitten, der meine Lebensgeister wieder wecken soll, und um eine Kleinigkeit zu essen.«

Meirus begrüßte mich lediglich mit einem kurzen Knurrlaut und trug einem Dienstboten nur widerwillig auf, die Mahlzeit zu servieren, um die ich ihn gebeten hatte. In der

Zwischenzeit huschte sein mürrischer Blick zwischen mir und Swanilda hin und her Sie hatte mich schweigend, wenn auch schleppenden Schrittes, begleitet und saß nun mit kummervoller Miene da. Aber sie erzählte dem Schlamm-Mann nicht, was sie in der Herberge vorgefunden hatte, sondern sagte nur, sie wolle ihr Pferd holen und es zum Gasthaus führen, um all ihre Sachen zu holen und

zusammenzupacken, die sie noch in unseren Zimmern

hatte. Es blieb mir überlassen, Meirus zu erzählen, daß ich Swanilda heim nach Novae schickte -

um unsere

Reisegruppe zu entlasten, wie ich sagte. Diese Bemerkung schien die schlechte Laune des alten Juden noch zu

verstärken, deshalb versuchte ich ihn dadurch aufzuheitern, daß ich sagte: »Mein Amtsgenosse Thor und ich haben die Angelegenheit, ob wir Euren Schürfer mit uns nehmen

sollen, besprochen. Wir sind übereingekommen, daß Made mit uns reiten kann, und werden uns bemühen, ihn gesund und munter an der Bernsteinküste abzusetzen.«

»Thags izei Euch beiden«, brummte Meirus mürrisch.

Ich aß und trank weiterhin mit großem Appetit, bis er

schließlich etwas auftaute und sagte: »Thags izvis, Saio Thorn. Ich hoffe, einen großen Gewinn aus diesem

Unternehmen zu ziehen und ich bin sicher, Maghib wird

davon profitieren, seinen Erfahrungsbereich erweitern zu können. Ich hoffe nur, daß er und Euer neuer Freund Thor zusammen als Begleiter auch nur halb so viel wert sind, wie es das Mädchen Swanilda war.«

Ich verkniff mir einen Kommentar zu dieser Bemerkung

und erhob mich von der Tafel.

»Gehen wir und tragen Made auf, alles für die Reise

vorzubereiten. Ich würde mir auch gerne das Pferd ansehen, das Ihr ihm versprochen habt.«

»Maghib wartet in der Lagerhalle auf Euch. Ich werde

meinen Stallknecht anweisen, ein paar Pferde dorthin zu bringen, aus denen Ihr und Maghib dann eines auswählen könnt.«

»Gut«, sagte ich. »Thor wird sich uns dort anschließen. Ihr beide werdet Euch also erneut begegnen.«

»Biy yom sameach.«

»Was?«

»Ich sagte: ›O freudiger Tag‹«, knurrte er und verließ das Haus durch eine Hintertür, während ich zur Vordertür

hinausging.

Made stand in der Lagerhalle an der Tür, die auf die

Straße führte, als erwarte er mich höchst ungeduldig, doch sah er ganz und gar nicht erfreut aus, mich zu sehen. Er hielt die Zügel von Swanildas Pferd, und da es schon

gesattelt und mit einem Bündel bepackt war, nahm ich an, daß sie auch da sei und im Innern des Lagerhauses wartete, um sich zu verabschieden, wenn wir uns alle versammelt hatten.

»Hails, Made! Ich habe eine gute Neuigkeit für dich. Wenn du immer noch vorhast, dich ins Abenteuer zu stürzen, laden Thor und ich dich ein, mit uns zusammen zu reiten.«

Er dankte mir keineswegs überschwenglich oder vollführte gar Luftsprünge vor Freude, sondern sagte nur: »Frau

Swanilda...«

»Sie begleitet uns nicht.«

»Nein«, stieß er mit einem Krächzlaut hervor und deutete in den dunklen Innenraum des Gebäudes. »Frau

Swanilda...«

»Ich weiß«, sagte ich. »Wir wollen uns alle von ihr

verabschieden.«

»Ihr wißt es also schon?« rief er mit schriller Stimme und verdrehte die Augen.

»Was ist denn los mit dir?« fragte ich.

»Mit mir?!« stieß er halb schluchzend hervor und deutete erneut ins Innere des Warenlagers.

Kopfschüttelnd ging ich hinein. Es dauerte einige

Augenblicke, bis sich meine Augen an die Dunkelheit

gewöhnt hatten. Dann sah ich, was Made gemeint hatte. In einer Ecke hing von einem hohen Balken ein Gewirr von

Pferdegeschirrteilen, die straff gespannt waren, weil die unteren Riemen um den Hals des kleinen, baumelnden,

toten Körpers geknotet waren.

7

Ich zog sofort mein Schwert, durchtrennte die Lederriemen und nahm ihren leblosen Körper in meine Arme, merkte

jedoch gleich, daß es für sie keine Rettung mehr gab.

Vorsichtig legte ich die noch warme Leiche auf einem

Heuballen nieder und sagte halb zu mir selbst und halb zu dem neben mir stehenden Made: »Wie kann eine lebendige Person sich bei strahlendem Sonnenschein an so einen

feuchten und übelriechenden Ort zurückziehen und sich so etwas Schreckliches antun?«

Inzwischen waren Meirus und Thor zu uns gestoßen, und

eine Zeitlang starrten wir alle schweigend auf Swanildas mitleiderregenden, kleinen Körper. Wieder sagte ich halb zu mir selbst: »Ich habe sie nach Novae zurückgeschickt, und zwar allein. Ich hatte vergessen, daß sie mir einmal gesagt hatte, sie sei ohne eine Herrin oder einen Herrn eine

verlorene Waise. Das hat sie wahrscheinlich dazu

bewegen...« Dann blickte ich auf und bemerkte, daß Thor mich spöttisch und beinahe herausfordernd ansah. Ich

bemühte mich sehr um männliche Härte und sagte so kühl wie ich nur konnte: »Nun, welche Gründe sie auch immer gehabt haben mag, ich wünschte, sie hätte es nicht getan...«

Ich spürte, daß mir fast die Stimme brach und sagte daher zu Meirus: »Seht Ihr, als Christin hat sie eine unverzeihliche Sünde begangen. Sie hat gegen den Willen, die Gnade und das Urteil Gottes verstoßen. Kein Priester wird ihr daher mit einem offiziellen Begräbnis die Absolution erteilen, sondern man wird sie voller Abscheu irgendwo in ungeweihter Erde verscharren.«

Meirus spuckte wütend auf den Boden und gab ein Wort

von sich, das wie eine sehr wüste Beschimpfung klang:

»Tsephuwa! Ihr mögt wenig vom Judaismus halten,

Marschall, aber diese Religion ist nicht so kalt und grausam wie die der Christen. Überlaßt das arme, tote Mädchen mir.

Ich werde dafür sorgen, daß sie mit unchristlichem Mitgefühl und mit Anstand und Würde beerdigt wird.«

»Ich bin Euch wirklich sehr verbunden, guter Schlamm-

Mann«, sagte ich mit aufrichtiger und tief empfundener Dankbarkeit. »Erlaubt mir, mich für diesen großen Dienst zumindest ein wenig erkenntlich zu zeigen, indem ich Made Swanildas Reittier überlasse.« Ich wandte mich an den

Armenier: »Wenn du also mit uns weiterreiten willst, hier ist das Pferd; es ist schon gesattelt.«

Er schaute ratlos von einem zum ändern, bis sein Herr

schließlich eindringlich zu ihm sagte: »Nimm es, Maghib. In meinem ganzen Stall gibt es kein besseres Pferd.«

Daraufhin willigte Made mit einer resignierten Geste in mein Angebot ein.

Ich fand es ziemlich unangebracht, daß Meirus dann nicht mich, sondern Thor fragte: »Würdet Ihr bitte diese von mir aufgesetzte Urkunde durchlesen und mir sagen, ob sie in Ordnung ist, Fräuja Thor? Das Dokument soll Maghib dazu berechtigen, in meinem Namen mit Bernstein zu handeln.«

Diese Bitte ließ Thor verwirrt einen Schritt zurücktreten und leicht erröten; dann jedoch nahm er sofort wieder jene Haltung ein, die Meirus schon mehrfach als »überheblich«

bezeichnet hatte, und sagte hochmütig: »Ich habe keine Ahnung vom Bernsteinhandel oder von den Arbeiten eines Sekretärs; ich will damit sagen, daß ich etwas so

Stumpfsinniges und Mühseliges wie das Lesen lieber den Schreiberlingen überlasse.«

»Tatsächlich?« grunzte Meirus und gab nun mir das

zusammengerollte Pergament. »Ich nahm an, daß ein von

König Eurich gesandter Geschichtsschreiber zumindest

lesen können müßte.«

Ich tat so, als ließe der Wortwechsel der beiden mich

gleichgültig, und rollte das Dokument auseinander.

Nachdem ich es kurz überflogen hatte, nickte ich und steckte es in meine Tunika. In Wirklichkeit war mir die Angelegenheit noch peinlicher als dem offensichtlich nur kurz in

Verlegenheit geratenen Thor. Im Gegensatz zu Meirus war ich zwar kein Augur; dennoch hätte ich mich zumindest nach Thors Fähigkeiten erkundigen können, bevor ich ihn als meinen »mitreisenden Geschichtsschreiber« ausgab. Ich

wäre gar nicht auf den Gedanken gekommen, daß ein so

redegewandter Mensch wie Thor nicht einmal lesen konnte.

Natürlich war es einer Zofe, die tagtäglich den Gesprächen ihrer Herrschaften lauschen konnte, nicht besonders

schwergefallen, höfliche und kultivierte Umgangsformen vorzutäuschen. Ich behielt meine Gedanken für mich und sagte nur ganz beiläufig zu Made: »Möglicherweise kannst du ein paar von Swanildas Sachen gebrauchen. Ihre

Schlaffelle vielleicht, oder ihren Reiseumhang für den Winter. Du bist ja nicht viel größer als sie... war. In ihrem Gepäck befindet sich auch noch Kochgeschirr.«

»Es tut mir leid, Fräuja«, sagte Maghib schüchtern, »aber ich kann gar nicht kochen.«

»Wenigstens das kann Thor«, bemerkte ich spitz und

wollte damit natürlich andeuten, daß er sonst wohl nicht viel könne. Es verschaffte mir eine gewisse Genugtuung, daß Thor nach dieser Anspielung sichtlich Mühe hatte, seinen Ärger zu unterdrücken. Dann gab ich als Anführer unserer kleinen Truppe meinen ersten Befehl: »Von jetzt ab bis zum Ende unserer Reise wird Thor für uns kochen!«

Ich beugte mich über Swanilda, um ihr einen letzten Kuß zu geben. Erneut schaute Thor mich entrüstet an. Ich küßte jedoch nur die Hand des toten Mädchens, denn das Gesicht eines Menschen, der sich erhängt hat, sieht zu schrecklich aus, um es zu küssen. Im stillen sagte ich ihr Lebewohl und gab ihr ein geheimes Versprechen: Falls ich diese Reise überleben und wirklich die Geschichte der Goten für andere niederschreiben sollte, dann würde ich meine

Aufzeichnungen Swanilda widmen.

Nachdem Made seine Habseligkeiten hinter dem Sattel

befestigt hatte, ritten wir drei Seite an Seite aus Noviodunum hinaus. Obwohl Made so plump und unbeholfen im Sattel

saß wie ein Sack voll Brennholz und auch sein Pferd nicht zu einer ruhigen und gleichmäßigen Gangart zu bringen

vermochte, fiel mir doch auf, daß er es trotz seiner

mangelnden Reitkünste immer irgendwie zuwege brachte,

so neben mir her zu reiten, daß ich mich stets zwischem ihm und Thor befand. Er ging unserem dritten Reisegefährten so offensichtlich aus dem Weg, daß ich begann, Mutmaßungen über diesen Thor anzustellen, von dem ich so wenig wußte.

Niemand mochte Thor, auch ich nicht. Ich war von seiner Art wirklich nicht besonders angetan, mußte mir jedoch eingestehen, daß ich unsere Verbindung selbst dann nicht gelöst hätte, wenn ich seinen Charakter wirklich abstoßend gefunden hätte. Meine Beweggründe warfen auch auf

meinen eigenen Charakter kein sehr vorteilhaftes Licht. Ich konnte Thor ebensowenig aufgeben wie ein Trinker seinen billigen Wein oder der Eremit Galindo sein fauliges Kraut.

Auch sie waren von dem, was sie da tranken oder rauchten, nicht unbedingt begeistert, konnten jedoch wegen seiner Wirkung nicht darauf verzichten. Obwohl Thors Schönheit ebenso fragwürdig war wie seine Moral, machte mich meine Begierde zum Sklaven jener Genüsse, die auf der ganzen Welt einzig und allein Thor mir verschaffen konnte. In diesem Augenblick bereute ich es sogar schon, daß ich

Thors Vorschlag, Made vor uns herreiten zu lassen,

abgelehnt hatte. Ich war zwar nur sehr ungern bereit, auch nur auf eine einzige Nacht in Thors Armen zu verzichten, wollte jedoch nicht, daß Made uns sah oder hörte. Ich sollte bald erfahren, daß Thor derartige Erwägungen völlig fremd waren.

»Väi«, sagte Thor verächtlich, als ich meine

Befürchtungen während einer Rast zur Sprache brachte.

»Soll der Kerl doch schockiert sein. Selbst wenn er ein Bischof und nicht nur ein Armenier wäre, würde ich

seinetwegen nicht auf mein Vergnügen verzichten.«

»Nein, du sicher nicht«, sagte ich, »aber ich möchte

vermeiden, daß unser Geheimnis herauskommt. Und du

weißt ja bestimmt, wie redselig Armenier sind.«

»Dann laß wenigstens mich meine Verkleidung ablegen;

zumindest teilweise. Solange Made sich dort drüben um die Pferde kümmert, werde ich mich wieder in Genoveva

verwandeln und ihre Kleider solange tragen, wie Made noch bei uns ist. Wir können ihm ja etzählen, daß ich mich aus streng vertraulichen, politischen Gründen bisher als Mann verkleiden mußte.« Sein Vorschlag erschien mir sehr klug und zudem noch äußerst großzügig, bis Thor plötzlich

boshaft hinzufügte: »Du hast mich zum Koch unserer

Reisegesellschaft ernannt, warum sollte ich mich also nicht auch so unterwürfig kleiden und verhalten, wie es dem

bloßen Untergebenen eines großen Marschalls zukommt?«

Ich versuchte, seine letzten Worte ins Scherzhafte zu

ziehen, und entgegnete: »Nun, in der Nacht können wir dann ja abwechselnd den Untergebenen und den Übergebenen

spielen.« Keiner von uns lachte über dieses mißlungene Wortspiel, und ich schämte mich, daß ich so gewöhnlich geworden war.

Unser listiger Plan hatte Erfolg. Als Made mit einem

Armvoll Brennholz auf uns zukam, um Feuer zu machen,

war er nicht besonders überrascht, daß sich anstelle von Thor nun auf einmal eine junge Frau mit mir unterhielt. Er nickte höflich, als ich ihm diese als Genoveva vorstellte, und wenn er irgendwelche Zweifel an unserer Geschichte hatte, dann brachte er diese jedenfalls nicht zum Ausdruck. Er sagte nur: »Da niemand von uns heute ein Stück Wild

gesehen, geschweige denn erlegt hat, werdet Ihr, Fräuja Thorn und Fräujin Genoveva, vielleicht froh sein, zu hören, daß ich vorsorglich etwas geräuchertes Fleisch und

gepökelten Fisch aus der Küche des Fräuja Meirus

mitgenommen habe.«

Wir dankten ihm freudig für seine Umsicht, und Genoveva machte sich ausnahmsweise einmal ganz bereitwillig an ihre Arbeit. Sie ging sofort mit einem Topf zum Fluß hinunter und holte Wasser, um das Essen darin zu kochen. Weder sie

noch Made tadelten oder verspotteten mich, weil ich als ihr Anführer nicht daran gedacht hatte, für Reiseproviant zu sorgen. Mir wurde bewußt, daß dieses Versäumnis nur ein weiteres Anzeichen meines augenblicklich recht verwirrten Geisteszustandes war, und ich beschloß, mich von nun an etwas weniger mit unserem neuen Reisegefährten zu

beschäftigen und mich stattdessen wieder mehr meinen

eigentlichen Aufgaben zu widmen.

Als wir unsere deftige Mahlzeit verspeist hatten, reinigte Genoveva unsere Kochutensilien mit Sand, während ich die brennenden Holzscheite für die Nacht zusammenschob.

Dann breiteten wir unsere Schlaffelle aus. Made entfernte sich diskret und legte sich in der Nähe des Flußufers nieder.

Von dort aus konnte er uns zwar nicht mehr sehen, vielleicht aber doch hören, denn Genoveva-Thor und Thorn-Veleda

gaben im Verlaufe dieser Nacht viele laute und vergnügte Schreie von sich.

Tagsüber kleidete sich Thor auch weiterhin als Genoveva.

Ich nannte ihn bei seinem weiblichen Namen, und Made

redete ihn mit Fräujin an. Zumindest während des Tages wurde er für mich allmählich immer mehr zur Frau; in meinen Gedanken und Worten tauchte im Zusammenhang mit

Genoveva nur noch das Personalpronomen ›sie‹ auf.

Ich wußte ja bereits, daß die Donau in dieser Gegend öfter ihre Richtung wechselt, sich gelegentlich teilt und manchmal an großen oder kleinen Seen vorüberfließt. Daher hätte ich den Pyretus, diesen Nebenfluß, zu dem wir unterwegs

waren, vielleicht gar nicht von den vielen anderen Armen oder Zuflüssen der Donau unterscheiden können; Made

erkannte ihn jedoch sofort, als er in Sichtweite kam. Dieses Gebiet nördlich der Donau wurde Altdakien genannt, und die Römer südlich der Donau hielten es für eine unberührte Wildnis ohne Wege, in der nur wilde Barbaren lebten. Man hatte mir jedoch bereits vor vielen Jahren einmal gesagt:

»Jeder ist ein Barbar, nur man selbst nicht«, daher fürchtete ich mich nicht allzusehr vor der Begegnung mit echten

Wilden. Die meisten Bewohner dieses Landstrichs kannten die Annehmlichkeiten und Reize der Zivilisation tatsächlich nicht, hatten sich jedoch inmitten der Wildnis bewohnbare und fruchtbare Inseln geschaffen. Dort führten sie ein ruhiges, selbstgenügsames und alles in allem recht

zufriedenes Leben. Ab und zu stießen wir allerdings auch auf richtige Barbaren. Diese Nomadenfamilien oder

Nomadenstämme, die als Jäger und Sammler umherzogen,

waren Nachkommen der Avaren oder der Kutriguri. Diese

beiden Völker waren offensichtlich mit den Hunnen

verwandt, denn sie hatten wie diese eine gelbliche Hautfarbe und Tränensäcke und waren auch ebenso schmutzig und

verlaust. Diese Nomaden bereiteten uns keine ernsthaften Schwierigkeiten. Wenn sie uns über den Weg liefen,

bettelten sie uns lediglich aufdringlich an, und zwar nicht um Geld, sondern um Salz, Kleider oder Stücke von unserer Jagdbeute. ~

In den meisten Dörfern, an denen wir vorüberkamen, lebte ein Volk, das von den alten Dakern, also den ursprünglichen Bewohnern dieser Region, abstammte, und das sich

inzwischen mit römischen Siedlern oder Legionären

vermischt hatte. Es hatten sich jedoch auch Slowenen,

Goten einer der drei Linien sowie Germanen anderer

Herkunft in dieser Region angesiedelt.

In den slowenischen Dörfern hielten wir uns nie sehr lange auf, denn falls es dort überhaupt irgendein Quartier für Vorbeireisende gab, dann handelte es sich um eine

ungastliche Krchma. In den Siedlungen der Germanen fand sich dagegen immer ein schlichtes Gasthaus, ›Gastsrazn‹

genannt, und fast alle rumänischen Dörfer verfügten über eine annehmbare Herberge, ein sogenanntes ›ospitun‹, an die manchmal sogar ein ganz einfaches Badehaus

angeschlossen war. Wenn es nach mir gegangen wäre,

dann hätten wir weniger oft in Herbergen übernachtet, aber Genoveva bestand darauf, so oft wie möglich eine

Ruhepause einzulegen, um sich von den »Strapazen des

Lebens im Freien« zu erholen. Deshalb nahmen wir uns

immer wieder ein Zimmer, während Made natürlich im Stall bei den Pferden übernachtete. Oft versuchte Genoveva,

mich dazu zu überreden, an dem einen oder anderen Ort

unnötig lange faul herumzulungern, aber ich ließ mich von ihren schmeichelnden und inständigen Bitten nicht

erweichen und gab auch dann nicht nach, wenn sie wie eine Xantippe in Wutanfälle ausbrach.

Dennoch war die Zeit, die wir in den Gasthäusern und

Herbergen verbrachten, nicht vergeudet, denn in einigen von ihnen erfuhr ich so manches, was ich in meine historischen Aufzeichnungen aufnehmen konnte. Ein Gasthaus liegt

natürlich meist an einer viel befahrenen Straße. Oft ist es so alt wie die Straße selbst und wird seit seiner Erbauung von ein und derselben Familie geführt. Da sein Eigentümer

selbst nie verreist und meist nur mit den üblichen

Hausarbeiten beschäftigt ist, besteht seine einzige

Unterhaltung darin, den Geschichten seiner Gäste zu

lauschen. Diese Geschichten erzählt er dann weiter, auch an seine Söhne, die das Gasthaus einmal übernehmen; daher kennt jeder Gastwirt eine Unzahl von Geschichten,

Gerüchten und Anekdoten. Manches, was er so berichtet, hat sich erst in jüngerer Zeit zugetragen; viele der

Geschichten hat jedoch bereits sein Vater erzählt, der sie wiederum von seinem Vater oder Großvater gehört hat.

Manche Geschichten sind also uralt und schon seit

Generationen überliefert. So ein gelangweilter, allmählich Moos ansetzender Stubenhocker hört zwar gern seinen

Gästen zu, aber noch viel lieber erzählt er selbst. Es fiel mir also leicht, jedem gotischen oder rumänischen Gastwirt einen wahren Schwall von Vorträgen, Berichten und

Erinnerungen zu entlocken.

Ich nahm natürlich nicht alles, was ich so hörte, in meine historischen Aufzeichnungen auf. Manche Geschichten

waren recht unglaubwürdig, andere kannte ich bereits.

Trotzdem war ich manchmal von dem, was irgendein

gesprächiger Gastwirt mir erzählte, so gefesselt, daß ich mit ihm bis in die Nacht hinein vor dem Herdfeuer der Herberge saß. Irgendwann wurde Genoveva dann immer unruhig und

gereizt und unterbrach unseren Gastgeber mit den Worten:

»Diese Geschichte hat nichts mit dem zu tun, was wir

eigentlich wissen wollen, und es ist schon nach Mitternacht.

Komm zu Bett, Thorn.«

Die gotischen Wirte erzählten mir interessantere Dinge als die rumänischen. In einem Punkt waren sich die Goten und die Rumänen jedoch einig. Es war ein rumänischer Gastwirt, der mir als erster die folgende Warnung gab: »Gebt acht, junger Mann, daß Ihr und Eure Mitreisenden nicht von dem direkt in Richtung Norden führenden Weg abkommt, dem ihr bis jetzt gefolgt seid. Oder haltet Euch westlich des Weges, falls Euch Eure Suche eher in diese Richtung führt, aber vermeidet es unter allen Umständen, nach Osten zu reiten.

Etwas weiter nördlich von hier werdet Ihr auf den Fluß Tyras stoßen. Was immer Ihr auch vorhabt, bleibt auf der

westlichen Uferseite, denn östlich des Flußes beginnen die Tafelländer der Sarmaten, und in diesen Pinienwäldern

lauern die schrecklichen ›Viramne‹.«

»Ich weiß nicht, was Euer rumänisches Wort ›viramne‹

bedeutet«, sagte ich.

»Die lateinische Übersetzung lautet ›viragines‹.«

»Ach, ja«, sagte ich. »Diese Frauen, die die alten

Griechen Amazonen nannten. Wollt Ihr mir etwa erzählen, daß es sie wirklich gibt?«

»Ich kann nicht sagen, ob es wirklich Amazonen sind; ich weiß jedoch genau, daß es sich um einen Stamm von

kriegerischen und bösartigen Frauen handelt.«

Wie eine Frau, die sich ein Urteil über mögliche Rivalinnen bilden möchte, fragte Genoveva: »Sind diese Frauen wirklich so schön, wie man sagt?«

Der Rumäne breitete bedauernd die Hände aus: »Auch

das kann ich nicht sagen. Ich selbst habe sie nie zu Gesicht bekommen, und ich kenne auch niemanden, der weiß, wie

sie aussehen.«

»Warum fürchtet Ihr sie dann so sehr?« fragte ich. »Wie wollt Ihr dann überhaupt wissen, daß sie sich wirklich dort aufhalten?«

»Es kam vor, daß sich Reisende in ihr Gebiet verirrten, und die wenigen, die diesen Frauen wieder lebendig

entkamen, erzählten haarsträubende Geschichten über die höllischen Qualen, die sie dort zu erleiden hatten. Ich selbst habe bis jetzt noch keinen solchen Überlebenden getroffen, aber es werden die schrecklichsten Geschichten erzählt. Es ist auch weithin bekannt, daß eine Gruppe rumänischer

Siedler auf der Suche nach eigenem Ackerland tollkühn

genug war, den Tyras zu überqueren, um in den Wäldern

der Sarmaten Land zu roden. Nicht einmal ihre Verwandten, die sie auf der anderen Seite des Tyras zurückließen, haben jemals wieder irgend etwas von ihnen gehört.« »Vái, das sind nur Gerüchte und keine Beweise«, höhnte Genoveva.

Der Gastwirt schaute sie eindringlich an. »Mir reichen solche Gerüchte. Ich bin gar nicht auf Beweise aus. Und wenn Ihr klug seid, dann setzt Ihr Euch lieber nicht der Gefahr aus, selbst zum Beweis zu werden.«

»Ich habe schon verschiedene Geschichten über diese

Mannweiber gehört«, sagte ich, »aber in keiner davon wurde erklärt wie sich ein solcher Frauenstamm fortpflanzt.«

»Es heißt, daß sie sowohl den Geschlechtsverkehr wie

auch das Kindergebären verabscheuen. Beides ist für sie nur eine Pflicht, um das Aussterben ihres Stammes zu

verhindern. Daher tun sie sich notgedrungen ab und zu mit den Männern anderer wilder Sarmatenstämme zusammen,

vielleicht mit den widerlichen Kutriguri. Alle männlichen Neugeborenen werden von den Viramne ausgesetzt und

dem Tod überlassen. Sie ziehen nur die Mädchen groß.

Noch nie hat ein König eine Streitmacht losgeschickt, um diesen Stamm auszulöschen. Welcher Krieger wäre schon

bereit, gegen sie zu kämpfen? Falls er nicht auf der Stelle getötet, sondern nur verwundet würde, dann könnte er kaum darauf hoffen, als ihr Gefangener am Leben zu bleiben oder vielleicht sogar irgendwann freigelassen zu werden. Wer würde schon von Frauen Gnade erwarten, die imstande

sind, ihre eigenen kleinen Söhne zu töten?«

»Was für ein Unsinn!« sagte Genoveva ungeduldig, dann

wandte sie sich an mich: »Warum hörst du dir Balgsdaddja an, das nichts mit unserem Vorhaben zu tun hat? Es ist schon lange Schlafenszeit, Thorn, laß uns auf unser Zimmer gehen.«

Der Rumäne schaute sie erneut an. »Ein Sprichwort

unserer Gegend lautet: Wer sich seine Zunge verbrennt und seinen Tischgenossen nicht sagt, daß die Suppe

brühendheiß ist, ist kein redlicher Mann. Und ich gebe mir Mühe, ein redlicher Mann zu sein.«

»Trotzdem würde ich gar zu gerne herausfinden, ob diese Frauen schön sind«, sagte ich halb im Scherz.

Genoveva warf mir einen zornigen Blick zu, und der

Rumäne, der sie jetzt nachdenklich anschaute, sagte nur noch: »Selbst die appetitlichste Suppe kann brühendheiß sein.«

Auch viele gotische Wirte warnten uns vor diesem Stamm.

Sie nannten die Amazonen Bagaqinons, was »Kriegsfrauen«

bedeutet. Ich verbrachte sogar einen ganzen Tag in einem slowenischen Dorf, nur um die Leute dort ebenfalls zu

fragen, ob sie etwas von diesem Stamm wüßten. Auch sie kannten und fürchteten diese Frauen. Das slowenische Wort für diesen Stamm klang so ähnlich wie Pozorzheni; das

bedeutete ungefähr: »Frauen, vor denen man sich in Acht nehmen muß.« Alle, die uns von diesem Stamm erzählten, gaben übereinstimmend an, daß er die Weidegebiete östlich des Tyras bewohne, und alle warnten uns gleichermaßen

eindringlich davor, diese Gegend zu betreten.

8

Als Genoveva, Made und ich ungefähr einhundertachtzig

römische Meilen das Tal des Pyretus hinaufgeritten waren, machte der Fluß eine scharfe Biegung nach Westen. Wir

ließen den Fluß hinter uns und ritten durch eine

Hügellandschaft weiterhin direkt nach Norden. Nach ein paar Meilen erreichten wir das Tal des Tyras und folgten dem Fluß in nordwestliche Richtung. Wir ritten das westliche Ufer entlang; nicht so sehr wegen der vielen Warnungen, sondern weil wir schlicht keinen Grund und kein Bedürfnis hatten, den Fluß zu durchqueren.

In dieser Gegend gab es nur wenige Dörfer, dafür aber

Wild und Fische im Überfluß. Genoveva wußte unsere

Jagdbeute zwar immer äußerst delikat zuzubereiten, aber sie schmollte und murrte stets beim Kochen. Jedesmal,

wenn wir an einem Gasthaus vorbeikamen, bestand sie

darauf, dort zu essen und zu übernachten, selbst wenn es nur eine slowenische Krchma war. Ich willigte schon allein deswegen ein, weil ich Made und mir ihre ständigen Klagen über die Küchenarbeit ersparen wollte. Auch in diesen

Herbergen lernten wir so manches hinzu. Die Slowenen

dieser nördlichen Region schienen sich hauptsächlich von dicken Suppen zu ernähren, die die Wirte auch ihren Gästen servierten. Die Zutaten waren teilweise recht ungewöhnlich.

So aßen wir unter anderem Sauerampfersuppe, Biersuppe, Suppe aus saurem Roggen, ja sogar eine Suppe aus

Rinderblut und Kirschen, und all diese Suppen schmeckten zu unserer Überraschung vorzüglich.

In einer Krchma war außer uns noch ein weiterer

Reisender zu Gast. Er war zwar ein Rugi und konnte als solcher leicht zum Feind meines Königs und damit auch zu meinem Feind werden, ich freute mich jedoch trotzdem,

seine Bekanntschaft zu machen weil er der erste

Bernsteinhändler war, den ich je getroffen hatte Seine kostbare Ware, die er auf ein Packpferd geladen hatte, bot er nur auf Märkten an, auf denen sie sich auch verkaufen ließen. Stolz zeigte der Mann mir durchscheinende

Bernsteinstücke in verschiedenen Farbtönen. Die hellsten schimmerten blaßgelb, andere waren goldfarben bis rötlich, während die dunkelsten die Farbe von Bronze hatten. In einige der Brocken waren Blütenblätter, Stücke eines

Farnblatts oder ganze Libellen eingeschlossen und auf diese Weise für immer erhalten. Meine Bewunderung war

grenzenlos. Schließlich rief ich Made aus dem Stall herein und stellte ihn dem Händler vor. Den ganzen Abend saßen wir drei vor dem Kaminfeuer der Herberge und tranken

mehrere Krüge Bier. Als ich mich schließlich mit Genoveva in unsere Kammer zurückzog, waren Made und der Händler immer noch ins Gespräch vertieft. Es wurde eine lange

Nacht. Zwischen unseren mehrfachen Umarmungen legte

Thor sich entspannt nieder, um sich zu erholen, während mir so manches durch den Kopf ging. Ich war mir schon sehr früh über die verschiedenen männlichen und weiblichen

Züge meines Wesens klargeworden und hatte mich seitdem bemüht, die besseren Seiten beider Geschlechter an mir zu fördern und die niedrigeren eher zu unterdrücken. Doch wie ein Spiegel, der ein seitenverkehrtes Abbild zurückwirft, so schien mein Partner, der ja in gewisser Weise mein

Gegenstück war, genau andersherum verfahren zu sein.

Thor war all das, was man einem Mann vorwerfen konnte: wenig einfühlsam, tyrannisch, selbstbezogen, fordernd und gierig, während Genoveva alle schlechten Eigenschaften des weiblichen Geschlechts verkörperte: sie war gereizt, mißtrauisch, gehässig, fordernd und gierig. In beiden Rollen bot dieser Mensch, der da neben mir lag, nicht nur einen reizvollen Anblick, er befriedigte als Thor und Genoveva auch meine körperlichen Bedürfnisse voll und ganz. Doch wer kann schon seinen Partner ununterbrochen bewundern oder in den Armen halten. Wäre ich eine Frau gewesen,

dann hätte ich den ungehobelten Thor nicht lange als

Ehemann ertragen; wäre ich ein Mann gewesen, dann wäre mir eine so zänkische Ehefrau wie Genoveva ebenfalls bald unerträglich geworden; aber als Mannamawi war ich nun an beide gebunden.

Ich begann zu begreifen, was damals mein Juikabloth

erkannt haben muß, als er sich an den ungekochten

Eingeweiden eines Wildschweins gütlich getan hatte: ein Raubvogel kann von seiner eigenen Beute gefressen

werden, und zwar von innen heraus. Ganz so, als würde

mein Innerstes unsichtbar bluten, wurde auch ich ganz

allmählich meiner Kraft, meines Willens und meines Wesens beraubt. Um meine Unabhängigkeit und meine

Persönlichkeit wiederzuerlangen, ja vielleicht sogar um zu überleben, mußte ich diese Beute wieder ausspeien und mir diese verhängnisvolle Kost abgewöhnen. Aber wie sollte mir das gelingen, wo sie doch so köstlich war, daß man sich nur allzugern und leicht an sie gewöhnte?

Nun, ich würde gerne glauben, daß es mir schließlich doch aus eigener Kraft gelungen wäre; Genoveva kam mir jedoch zuvor und nahm mir diesen schweren Entschluß ab.

Auf der Suche nach Wild trieb ich Velox eines Nachmittags in einen der umliegenden Wälder, mußte jedoch sehr weit ausschwärmen bevor ich schließlich einen guten, fetten Auerhahn erspähte und erlegte. Die Sonne war schon lange untergegangen, als ich zu den anderen zurückkehrte, die bereits das Nachtlager vorbereitet hatten. Wortlos nahm Made wie gewöhnlich Velox beim Zügel; es schien also

während meiner Abwesenheit nichts Besonderes vorgefallen zu sein. Auch Genoveva hatte mir nichts zu erzählen, als ich den Vogel zur Feuerstelle trug, wo sie inzwischen ein Feuer angezündet hatte; dennoch hatte ich plötzlich das sichere Gefühl, daß irgend etwas nicht stimmte.

Obwohl wir uns unter freiem Himmel aufhielten und das

Holzfeuer zudem einen beißenden Geruch verbreitete,

konnte ich buchstäblich riechen, daß Genoveva irgendeine Art von Geschlechtsverkehr gehabt haben mußte. Das allein war natürlich nichts Außergewöhnliches, denn es verging kaum eine Nacht, in der wir uns nicht vereinigten. Ich kannte jedoch inzwischen alle Duftnoten ihres Körpers ebensogut wie die meinigen, und ihr Eigengeruch wurde jetzt ganz deutlich von einem fremden Geruch überlagert, der nicht an Lattich, sondern an Haselnüsse erinnerte. Er stammte also von einem Mann und nicht von einer Frau; es war weder

Thors, noch Thorns Geruch.

Ich beobachtete Genoveva, während sie den Auerhahn

rupfte, und sagte zunächst einmal noch nichts. Ich

versuchte, mich an alle Personen zu erinnern, denen wir heute auf dem Weg begegnet waren. Es waren insgesamt

fünf gewesen: zwei Reiter mit Gepäck hinter dem Sattel, ein Mann und eine Frau auf Maultieren und ein alter Köhler, der unter seiner hochaufgetürmten Last mühsam die Straße

entlanggestolpert war. Jeder der Männer hatte der so

elegant neben mir herreitenden Genoveva zumindest einen kurzen Blick zugeworfen; der eine oder andere hatte sie sogar regelrecht angestarrt. Und vielleicht waren, während ich auf der Jagd war, noch mehr Reisende die Straße

entlanggekommen.

Genoveva spießte gerade den Vogel auf einen

zurechtgeschnittenen, geraden Ast, als ich schließlich doch grimmig fragte: »Wer war es?«

»Wer war was?« fragte sie ohne aufzuschauen zurück,

während sie den Bratspieß über zwei am oberen Ende

gegabelte Stöcke legte, die sie senkrecht in die Erde gebohrt hatte.

»Du hast vor kurzem mit einem anderen Mann

geschlafen.«

Sie starrte mich an; ihr Blick war trotzig und müde

zugleich. »Hast du hinter mir herspioniert? Hast du mich vielleicht dabei beobachtet?«

»Das war gar nicht nötig. Ich rieche das Sperma eines

Mannes.«

»Väi, ich dachte, ich hätte scharfe Sinne, aber du scheinst die Nase eines Spürhundes zu haben.« Sie zuckte

gleichmütig mit den Schultern. »Ja, ich habe mit einem Mann geschlafen.«

»Warum?«

»Warum nicht? Die Gelegenheit war günstig: da war ein

Mann, und du warst nicht da. Ich gab vor, daß mein Pferd sich einen Stein in seinen Huf getreten hätte, und bat Made, schon einmal vorauszureiten.« Kühl fügte sie noch hinzu:

»Mir blieb zwar nur wenig Zeit, aber sie genügte.«

Ich sagte gefühlvoll: »Aber warum? Warum hast du so

etwas Schmutziges getan, Genoveva? Wo wir beide doch

alles haben, was wir uns nur wünschen können...«

»Verschone mich«, sagte sie und rollte gequält die Augen.

»Willst ausgerechnet du mir Vorträge über Treue und

Standhaftigkeit halten? Ich bin es leid, nur dein Anhängsel zu sein. Ich möchte um meiner selbst willen beachtet

werden. Dieser Mann hat mich beachtet.«

»Wer? Welcher Mann?« stieß ich hervor. Ich packte sie an den

Schultern und schüttelte sie heftig. »Ich bin alle Männer durchgegangen, die heute an uns vorbeikamen. Welcher

war es?«

Ich schüttelte sie so sehr, daß ihre Zähne klapperten und sie ihre Worte nur mühsam hervorstoßen konnte: »Es war...

es war der... der Köhler...«

»Was?!« brüllte ich und ließ sie vor Überraschung los.

»Warum ausgerechnet dieser heruntergekommene

slowenische Bauer? Wir haben doch unterwegs noch andere Männer getroffen?«

Sie grinste selbstgefällig. »Ach, ich habe schon einige Slowenen gehabt; aber ich habe es noch nie mit einem so alten Mann versucht; und auch nicht mit so einem

schmutzigen. Es war zwar etwas völlig Neues, aber ich muß zugeben, daß ich es enttäuschend fand.«

»Du lügst. Du weißt, daß ich den Mann, der es war,

suchen und töten werde, deshalb deckst du ihn.«

»Ni allis. Es ist mir gleichgültig, wen du umbringst, solange ich dadurch keine Unannehmlichkeiten habe.«

»Made!« rief ich. »Nimm Velox den Sattel noch nicht ab, sondern bring ihn her.«

Maghib, dem unser Streit zweifellos nicht entgangen war, schlich ängstlich hinter dem Pferd hervor. Ich sagte zu ihm:

»Kümmere dich um das Essen und wende den Bratspieß

um! Wir werden zurück sein, bevor das Essen fertig ist.«

Dann warf ich Genoveva geradezu in den Sattel, sprang

hinter sie auf Velox und trieb ihn zum Galopp an. Um den alten Mann zu finden, brauchten wir nur ein kleines Stück den Weg zurückzureiten. Er saß zusammengesunken neben

einem kleinen Feuer, das er mit seiner eigenen Holzkohle entfacht hatte, und röstete darin ein paar auf dünne Äste aufgespießte Pilze. Überrascht blickte er auf, als ich Genoveva vom Pferd zerrte und zu ihm hinüberschleifte.

Dann zog ich mein Schwert, legte es ihm an den Hals und fauchte Genoveva an: »Sag ihm, er soll es zugeben. Ich möchte es von ihm selbst hören.«

Das alte Wrack stammelte: »Prosim!... Prosim!«, was auf slowenisch »bitte« heißt, und seine Augen quollen vor Angst aus den Höhlen. Statt Worten sprudelte dann plötzlich Blut aus seinem Mund heraus, das über seinen Bart und meine Hand floß. Kurz darauf fiel er schräg nach hinten, und ich sah Genovevas Messer in seinem Rücken stecken.

»Hier«, sagte sie mit einem gewinnenden Lächeln. »Habe ich es damit wieder gutgemacht, Thorn?«

»Ich habe keinen Beweis, daß er es war.«

»Doch, das hast du. Schau ihn dir nur an. Siehst du diesen gelassenen Ausdruck auf seinem Gesicht? Dieser Mann ist glücklich gestorben.«

Sie bückte sich, zog ihr Messer heraus, wischte es an dem zerlumpten Mantel des alten Bauern ab und steckte es in seine Scheide an ihrem Gürtel zurück.

»Selbst wenn ich dir glaube«, sagte ich eisig, »dann hast du mich jetzt zweimal mit diesem Mann hintergangen, denn ich wollte ihn selbst umbringen.« Ich setzte ihr die Spitze meines Schwertes unters Kinn und zog sie mit der anderen Hand an ihrer Tunika so nahe an mich heran, daß ihr

Gesicht sich dicht vor meinem befand. »Glaub mir, daß ich das gleiche auch mit dir tun werde, falls du mich noch einmal betrügst.«

In ihren Augen stand die blanke Angst, und es klang

ehrlich, als sie sagte: »Ich glaube dir.«

In ihrem Atem spürte ich jedoch immer noch den

haselnußartigen Geruch männlichen Spermas, daher stieß ich sie derb von mir weg und sagte: »Und glaub mir auch, daß das nicht nur für Genoveva, sondern ebenso für Thor gilt. Ich werde dich weder mit anderen Männern, noch mit anderen Frauen teilen.«

»Ich glaube dir ja, ich glaube dir ja! Siehst du? Ich bin immer noch dabei, mein Vergehen wieder gutzumachen.«

Sie hatte einen leeren Sack gefunden, der dem alten Mann gehört hatte, und füllte diesen Sack nun mit Brocken seiner Holzkohle. »Ich ersetze sogar das Holz, das ich für unser Feuer vergeudet habe. Laß uns nun seine Leiche in den

Fluß werfen und zu unserem Lager zurückreiten. Das

Abendessen wartet auf uns, und diese ganze Aufregung hat mich wirklich sehr hungrig gemacht.«

Sie aß tatsächlich mit Heißhunger. Beim Essen plapperte sie, ganz wie ein Weibchen, ununterbrochen über

belanglose Dinge und war dabei so unbekümmert, als hätten wir nur einen ganz gewöhnlichen Reisetag ohne besondere Vorkommnisse hinter uns. Made dagegen nagte so zaghaft an den Knochen des Auerhahns herum, als wolle er

vermeiden, daß man ihn überhaupt wahrnahm. Ich aß nur

ein oder zwei Bissen, denn mir war der Appetit vergangen.

Bevor wir uns schlafen legten, zog ich Made beiseite,

damit Genoveva uns nicht hören konnte. Dann gab ich ihm ein paar Anweisungen für die Zukunft.

»Aber, Fräuja«, wimmerte er. »Warum soll ausgerechnet

ich die Fräujin bespitzeln? Oder gar einen ihrer Befehle nicht befolgen? Ich bin auf dieser Reise doch nicht viel mehr als ein Gepäckstück.«

»Du wirst tun, was ich dir sage, weil ich der Anführer dieser kleinen Reisegesellschaft bin. Falls ich je noch einmal dazu gezwungen sein sollte, Genoveva allein zu lassen, dann wirst du meine Augen und Ohren ersetzen.« Halb zu mir selbst sagte ich dann noch mit gequältem Humor: »Ich wünschte nur, deine große Nase wäre imstande...«

»Meine Nase?« schrie er entgeistert, als hätte ich gedroht, ihm diese abzuschneiden. »Was ist mit meiner Nase, Fräuja Thorn?«

»Nichts, nichts«, sagte ich. »Bewahr sie dir für das

Bernsteinschnüffeln auf. Du sollst für mich lediglich Augen und Ohren offen halten. Laß Fräujin Genoveva nicht aus den Augen, und laß dir keines ihrer Worte entgehen.«

»Aber Ihr habt mir noch gar nicht gesagt, was ich nicht übersehen oder überhören darf.«

»Schon gut«, grunzte ich, da ich ungern zugeben wollte, daß ich ein von Eifersucht zerfressener Hahnrei war.

»Berichte mir einfach nur jeden noch so alltäglichen Vorfall und überlaß mir das Urteil. Laß uns jetzt schlafen gehen.«

Zumindest in dieser Nacht hatte ich auch auf andere Dinge keinen Appetit. Es war eine der wenigen gemeinsam

verbrachten Nächte, in denen Thorn, Thor, Veleda oder