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Ich kann immer noch sehen, wie er brennt.
Damals, und das ist lange her, als ich zusah, wie der Mann durch das Feuer hingerichtet wurde, war ich bereits achtzehn Jahre alt und hatte schon andere Menschen sterben sehen. Man hatte sie entweder den Göttern geopfert oder wegen eines schweren Verbrechens hingerichtet, oder aber sie waren einfach durch einen Unfall ums Leben gekommen.
Für die Opferungen benutzten die Priester immer ein Obsidianmesser, mit dem sie das Herz herausschnitten. Bei Hinrichtungen enthauptete man den Verbrecher stets mit dem Maquáhuitl-Schwert oder erdrosselte ihn mit einer Blumengirlande. Da unsere Stadt am Meer liegt, waren es häufig die Fischer, die tödlich verunglückten, in den hohen Wellen der Brandung ertranken oder aufgrund eines Frevels gegen unsere Göttin, die Herrin des Wassers, den Tod fanden.
In den Jahren, die seit jenem Tag vergangen sind, habe ich mit angesehen, wie Menschen im Krieg getötet wurden oder auf andere Weise gestorben sind. Doch niemals zuvor und auch nicht später habe ich erlebt, daß man einen Menschen dem Tod durch Feuer ausgeliefert hätte.
Ich, meine Mutter und mein Onkel standen in der großen Menschenmenge, die von den spanischen Soldaten der Stadt gezwungen wurde, der Hinrichtung beizuwohnen. Deshalb vermutete ich, daß es als eine Art Lektion für alle Nichtspanier gedacht war. Die spanischen Soldaten trieben unnachgiebig so viele von uns auf den Hauptplatz der Stadt zusammen, daß wir dort wie Vieh dicht an dicht gedrängt standen. In der Mitte einer Fläche, die von Soldaten freigehalten wurde, hatte man einen Metallpfahl in das Pflaster des Platzes eingelassen. Seitlich davon standen oder saßen spanische Christenpriester auf einer Tribüne, die offensichtlich zu diesem Anlaß errichtet worden war. Wie unsere Priester trugen sie weite schwarze Gewänder.
Zwei starke spanische Wachen führten den Verurteilten herbei und stießen ihn grob auf den freien Platz. Als wir sahen, daß es kein blasser, bärtiger Spanier war, sondern ein Mann unseres Volkes, hörte ich meine Mutter wie so viele andere in der Menge seufzen.
»Ayya ouiya …«
Der Mann trug ein armseliges, weites und ungefärbtes Gewand. Auf seinem Kopf saß eine schlecht geflochtene Krone aus Stroh. Der einzige Schmuck, den ich sah, war ein Anhänger, der an einer Lederschnur um seinen Hals hing und funkelte, wenn die Sonnenstrahlen ihn trafen. Der Mann war alt, sogar älter als mein Onkel, und er leistete keinen Widerstand. Ich hatte den Eindruck, als habe er sich mit seinem Schicksal abgefunden. Es schien ihm gleichgültig zu sein, was mit ihm geschah. Deshalb verstand ich nicht, weshalb man ihm sofort eine riesige Metallkette anlegte. Die Soldaten schoben ihm eines der schweren Kettenglieder über den Kopf und preßten es bis auf seine Schultern. Dann legten die Wachen die klirrende Kette um den Metallpfahl und begannen um seine Füße herum Brennholz aufzuschichten. Währenddessen richtete der älteste Priester auf der Tribüne – ich nahm an, es handelte sich um den Oberpriester – das Wort an den Gefangenen und sprach ihn mit dem spanischen Namen Juan Damasceno an. Es folgte eine lange Tirade, selbstverständlich auf spanisch, einer Sprache, die ich zu dieser Zeit noch nicht verstand. Doch ein jüngerer, etwas anders gekleideter Priester übersetzte zu meiner großen Überraschung die Worte ohne Stocken ins Náhuatl.
So verstand ich, daß der alte Priester die Anklagen gegen den Verurteilten aufzählte und abwechselnd salbungsvoll und drohend versuchte, den Mann so weit zu bringen, daß er Abbitte leistete oder so etwas wie Reue zeigte. Doch auch in meine Sprache übersetzt, waren die Ausdrücke und Begriffe des Oberpriesters sehr verwirrend für mich. Es war eine lange und wortreiche Rede, doch schließlich erhielt der Verurteilte die Erlaubnis zu sprechen. Er tat es auf spanisch. Als seine Worte ins Náhuatl übersetzt wurden, hatte ich keine Mühe, ihren Sinn zu verstehen.
»Euer Exzellenz, als kleiner Junge habe ich mir geschworen, wenn ich jemals für den Blumentod bestimmt sein sollte, und sei es auch auf einem fremden Altar, so würde ich die Ehre, die mein Sterben bedeutet, nicht herabwürdigen.«
Mehr sagte Juan Damasceno nicht. Doch die Priester, Wachen und die anderen Würdenträger begannen sofort, erregt miteinander zu tuscheln. Sie gestikulierten und berieten, bis schließlich ein knapper Befehl gegeben wurde. Daraufhin trat ein Soldat vor und hielt die Fackel an den Holzstoß zu Füßen des Verurteilten.
Es ist allgemein bekannt, daß es den Göttern und Göttinnen ein großes Vergnügen bereitet, uns Sterbliche zu verwirren. Sie durchkreuzen immer wieder unsere besten Absichten, komplizieren unsere einfachsten Pläne und vereiteln selbst unbedeutendes Streben. Oft gelingt ihnen das ohne jede Mühe, indem sie sich Dinge ausdenken, die scheinbar zufällig geschehen. Hätte ich es nicht besser gewußt, würde ich mir gesagt haben, daß nur ein Zufall uns drei – meinen Onkel Mixtzin, seine Schwester Cuicáni und mich, ihren Sohn Tenamáxtli – an jenem bestimmten Tag in diese Stadt Mexicos geführt hatte. Natürlich war es kein Zufall, aber das sollte ich erst sehr viel später begreifen.
Zwölf Jahre waren vergangen, seit wir in unserer Stadt Aztlan, der Heimat der Schneereiher, die weit im Nordwesten an der Küste des Westmeeres liegt, zum ersten Mal eine wirklich aufsehenerregende Nachricht gehört hatten. Fremde mit blasser Haut und dichten Bärten waren in der EINEN WELT erschienen. Es hieß, sie seien in großen Häusern, die auf dem Wasser schwammen und ähnlich wie Vögel von gewaltigen Schwingen vorwärtsbewegt wurden, über das Ostmeer gekommen.
Ich war damals erst sechs Jahre alt und mußte noch ganze sieben Jahre warten, bevor ich unter dem Mantel das Máxtlatl-Schamtuch tragen durfte, das Zeichen des erwachsenen Mannes. Deshalb war ich zu dieser Zeit ein völlig unbedeutender Mensch ohne jede Wichtigkeit. Doch ich besaß eine beachtliche frühreife Neugier und hatte gute Ohren. Außerdem lebten meine Mutter Cuicáni und ich zusammen mit meinem Onkel Mixtzin, seinem Sohn Yeyac und seiner Tochter Améyatl im Palast von Aztlan. So entging mir keine der eintreffenden Nachrichten, und ich hörte mir aufmerksam die Reaktionen an, die sie in der Ratsversammlung meines Onkels hervorriefen.
Die Endung -tzin, die dem Namen meines Onkels hinzugefügt ist, verrät seine Stellung als ein Edelmann unseres Volkes. Er war der höchste Adlige unter uns Azteca und der Uey-Tecutli, der Ehrwürdige Statthalter, von Aztlan. Als ich gerade laufen lernte, hatte der damalige Uey-Tlatoáni Motecuzóma, der Ehrwürdige Sprecher der Mexica, der mächtigsten Nation der EINEN WELT, unserem damals kleinen Dorf den Status einer autonomen Kolonie der Mexica verliehen. Er machte meinen Onkel Mixtli zu einem Edelmann, zum Herrn Mixtzin, übertrug ihm die Herrschaft über Aztlan und befahl ihm, es zu einer wohlhabenden und menschenreichen, zivilisierten Kolonie zu machen, auf die jeder Mexica stolz sein konnte. Deshalb brachten Motecuzómas Boten regelmäßig alle Nachrichten, die für seine Statthalter von Interesse sein mochten, nicht nur in die anderen Kolonien, sondern auch in den Palast von Aztlan, obwohl wir sehr weit von der Hauptstadt Tenochtitlan, dem Herzen der EINEN WELT, entfernt waren. Natürlich war die Nachricht von jenen rätselhaften Eindringlingen vom anderen Ufer des Meeres keineswegs etwas Alltägliches. Sie rief in der Ratsversammlung von Aztlan Bestürzung und viele Spekulationen hervor.
»In den Annalen verschiedener Völker unserer EINEN WELT«, erklärte Canaútli, unser Geschichtserinnerer, der ein Großvater meines Onkels und meiner Mutter war, »ist verzeichnet, daß Quetzalcóatl, die Gefiederte Schlange, der ehemals größte aller Herrscher, der Herr der Toltéca, der später als der höchste Gott verehrt wurde, eine eher weiße Hautfarbe und ein bärtiges Gesicht hatte.«
»Wollt Ihr damit andeuten …?« unterbrach ein anderes Ratsmitglied, ein Priester unseres Kriegsgottes Huitzilopochtli, meinen Urgroßvater. Doch Canaútli beachtete ihn nicht. Das hätte ich dem Priester vorher sagen können, denn ich wußte sehr gut, wie gerne mein Urgroßvater redete.
»Es ist auch verzeichnet, daß Quetzalcóatl die Herrschaft über die Toltéca niederlegte, weil er einen Frevel begangen hatte. Sein Volk hätte vielleicht nie etwas davon erfahren, doch er gestand das Vergehen ein. Er hatte einmal zuviel Octli getrunken und im Rausch mit seiner eigenen Schwester den Akt der Ahuilnéma vollzogen. Die Toltéca verehrten Gefiederte Schlange so sehr, daß sie ihm den Fehltritt zweifellos verziehen hätten, doch er selbst konnte sich nicht verzeihen.«
Mehrere Räte nickten ernst. Canaútli fuhr fort:
»Das ist der Grund, weshalb er am Strand ein Floß baute – manche sagen, es habe aus Federn bestanden, die irgendwie zu Filz verarbeitet worden waren; andere behaupten, aus ineinander verschlungenen Schlangen – und damit über das Ostmeer fuhr. Seine Untertanen warfen sich am Strand zu Boden und beklagten laut seinen Abschied. Vermutlich rief er ihnen deshalb beruhigend zu, eines Tages, wenn er lange genug in der Verbannung für sein Vergehen gebüßt habe, werde er zurückkehren. Doch im Laufe der Zeit verschwand das Volk der Toltéca selbst allmählich von der Erde. Inzwischen ist es beinahe ausgestorben, und Quetzalcóatl wurde nie wieder gesehen.«
»Willst du andeuten, er wurde bis heute nicht mehr gesehen?« fragte Onkel Mixtzin ungnädig. Er war im Grunde niemals freundlich oder fröhlich. Die Nachricht des Boten hatte verständlicherweise wenig dazu beigetragen, seine Laune zu bessern. »Ist es das, was du meinst, Canaútli?«
Der alte Mann zuckte die Schultern und sagte: »Aquin ixnéntla?«
»Wer weiß?« wiederholte ein anderes älteres Ratsmitglied und fügte mit einem langen Seufzer hinzu: »Ich bin mein Leben lang Fischer gewesen und soviel kann ich sagen: Es ist so gut wie unmöglich, mit einem Floß das Meer zu überqueren. Es gelingt niemandem, vom Strand ein Floß durch die Brecher, die Strömung und die auf das Land zulaufende Brandung hindurch ins offene Wasser zu bringen.«
»Vielleicht gelingt es einem Gott«, gab ein anderer zu bedenken. »Und wenn Gefiederte Schlange damals vielleicht auch große Schwierigkeiten hatte, so muß er inzwischen etwas gelernt haben, sonst könnte er jetzt nicht in Häusern mit Flügeln zu uns zurückkehren.«
»Aber warum würde er dazu mehr als eines dieser schwimmenden Gefährte benutzen?« fragte ein anderer. »Er ist allein davongefahren. Aber wie es scheint, kommt er mit einer großen Mannschaft oder mit vielen Begleitern zurück.«
Canaútli erwiderte: »Seit seinem Abschied sind zahllose Jahre vergangen. Er könnte überall dort, wohin er kam, eine Frau geheiratet und ganze Völkerscharen von Nachkommen gezeugt haben.«
»Kann einer von euch voraussagen, welche Auswirkungen diese Rückkehr haben wird?« fragte der Priester des Kriegsgottes mit einem leichten Zittern in der Stimme. »Vorausgesetzt natürlich, daß es sich tatsächlich um Quetzalcóatl handelt?«
»Ich nehme an, es wird sich vieles zum Guten ändern«, erwiderte mein Onkel, der sich ein Vergnügen daraus machte, den Priester aus der Fassung zu bringen. »Die Gefiederte Schlange war freundlich und gütig. Alle Aufzeichnungen der Vergangenheit stimmen darin überein, daß es in der EINEN WELT niemals zuvor und niemals danach einen so dauerhaften Frieden, soviel Glück und solches Wohlergehen gegeben hat.«
»Aber die anderen Götter werden sich ihm dann unterordnen müssen oder sogar in Vergessenheit geraten«, jammerte der Priester des Huitzilopóchtli sichtlich bekümmert. »Und uns, den Priestern aller Götter, wird es nicht anders ergehen. Wir werden gedemütigt werden, weniger gelten als die erbärmlichsten Sklaven. Wir werden abgesetzt … entlassen … ausgestoßen, so daß wir betteln und hungern müssen.«
»Wie ich gesagt habe«, brummte mein Onkel unbeeindruckt, »alles Veränderungen zum Guten.« Der Uey-Tecutli Mixtzin und seine Räte mußten jedoch bald einsehen, daß sich der Gott Quetzalcoatl nicht unter den Ankömmlingen befand und auch keiner der Fremden in seinem Auftrag erschienen war. In den folgenden eineinhalb Jahren verging kaum ein Monat, ohne daß ein Bote aus Tenochtitlan nicht noch erstaunlichere und beunruhigendere Nachrichten überbrachte. Von einem Läufer erfuhren wir, daß es sich bei den Fremden nur um Menschen handelte, nicht um Götter oder um die Nachkommen von Göttern, und daß sie sich selbst Españoles oder Castellanos nannten. Die beiden Namen schienen austauschbar, doch den letzteren konnten wir leichter ins Náhuatl übertragen. Und so nannten wir die Fremden lange Zeit Caxtiltéca. Der nächste Läufer, der eintraf, setzte uns davon in Kenntnis, daß die Caxtiltéca Göttern ähnelten – zumindest Kriegsgöttern –, denn sie waren raubgierig, grausam, unbarmherzig und eroberungslustig. Es dauerte nicht lange, und sie erzwangen sich ihren Weg vom Ostmeer landeinwärts. Ein weiterer Bote berichtete, die Caxtiltéca seien in ihrer Kriegsführung und in ihren Waffen in der Tat den Göttern ähnlich oder zumindest in den Künsten der Magie bewandert. Viele ritten auf riesigen, geweihlosen Hirschen, und fast alle besäßen furchteinflößende Rohre, die Blitz und Donner spien. Andere hätten Pfeile und Speere mit Spitzen aus einem Metall, das sich nicht verbog oder brach. Alle trügen sie Rüstungen aus diesem Metall, das normale Geschosse nicht zu durchdringen vermochten.
Dann traf ein Bote ein, der den weißen Mantel der Trauer trug und dessen Haar auf eine Weise geflochten war, die schlechte Neuigkeiten verhieß. Er brachte die Nachricht, daß die Eindringlinge auf ihrem Weg nach Westen ein Volk und einen Stamm nach dem anderen besiegt hatten – die Totonáca, die Tepeyahuáca, die Texcaltéca – und daß sie alle überlebenden Krieger in ihre eigenen Reihen gezwungen hatten. Dadurch verringerte sich die Zahl ihrer Kämpfer auf dem Vormarsch nicht, sondern wuchs ständig. Rückblickend will ich anmerken, daß sich viele dieser einheimischen Krieger der Streitmacht der Fremden nicht unbedingt widerstrebend anschlossen, denn ihre Völker hatten Tenochtitlan seit langem zähneknirschend hohe Tribute geleistet. Nun bot sich ihnen die Gelegenheit zur Rache an den herrschenden Mexica. Schließlich erreichte ein weiterer Bote im weißen Umhang und mit geflochtenem Haar Aztlan. Er berichtete, daß die weißen Caxtiltéca und ihre einheimischen Verbündeten nun in Tenochtitlan selbst, dem Herzen der EINEN WELT, einmarschiert seien. Unvorstellbarerweise befanden sie sich dank der persönlichen Einladung des einst mächtigen, inzwischen jedoch wankelmütigen Verehrten Sprechers Motecuzóma in der Stadt. Die Eindringlinge waren nicht einfach durch den Ort marschiert und in Richtung Westen weitergezogen, sondern hatten die Stadt besetzt und schienen die Absicht zu haben, dort zu bleiben.
Der Priester des Gottes Huitzilopochtli, der die Ankunft der Fremden am meisten gefürchtet hatte, schien in letzter Zeit sehr zufrieden, weil er jetzt sicher sein konnte, nicht von dem zurückkehrenden Quetzalcóatl um Amt und Würden gebracht zu werden. Doch seine Ängste erfaßten ihn gleich von neuem, als der Bote fortfuhr: »Auf ihrem Weg nach Westen haben die barbarischen Caxtiltéca in allen Städten und Dörfern jeden Teocáli-Tempel zerstört und jede Tlamanacáli-Pyramide dem Erdboden gleichgemacht. Sie haben die Statuen unserer Götter und Göttinnen umgestürzt und zerschlagen. An ihrer Stelle haben die Fremden das häßliche Bildnis einer nichtssagenden und einfältigen weißen Frau errichtet, die ein weißes Kind in den Armen hält. Diese Statuen, so sagen die Caxtiltéca, stellen eine menschliche Mutter dar, die einen kleinen Gott geboren hat, und sind das Fundament ihrer Religion, des Crixtanóyotl.« Unser Priester rang erneut die Hände. Offenbar war er dazu verurteilt, in jedem Fall von den Eindringlingen verdrängt zu werden, allerdings nicht von einem der großen und erhabenen Götter unseres Landes, sondern von einer neuen, unverständlichen Religion, die ihre Anhänger zwang, eine gewöhnliche Frau zu verehren und ein dummes kleines Kind.
Dieser Bote war der letzte, der aus Tenochtitlan oder aus einem anderen Ort im Land der Mexica zu uns kam und Nachrichten überbrachte, die wir als zuverlässig und glaubwürdig ansehen konnten. Danach hörten wir nur noch Gerüchte, die sich von einem Ort zum anderen verbreiteten und uns schließlich durch Reisende erreichten, die über Land zogen oder in Acáli-Kanus die Küste entlangfuhren. Aus diesen Gerüchten mußte man erst einmal alles Unmögliche und Unlogische aussondern – Wunder und Zeichen, die angeblich von Priestern und Hellsehern vorhergesagt worden waren, oder Übertreibungen, die man dem Aberglauben des niedrigen Volks zuzuschreiben hatte, und ähnliches mehr. Was danach übrigblieb und zumindest für möglich gehalten werden konnte, war schlimm genug.
Im Laufe der Zeit hörten wir erstaunliche Dinge und hatten keinen Grund, sie nicht zu glauben: Motecuzóma war durch die Hand der Caxtiltéca gestorben; zwei Verehrte Sprecher, die jeweils für kurze Zeit seine Nachfolge antraten, waren ebenfalls ums Leben gekommen; die ganze Stadt Tenochtitlan – Häuser, Paläste, Tempel, Marktplätze, ja sogar die mächtige Icpac Tlamanacáli, die Große Pyramide – war dem Erdboden gleichgemacht worden; alle Kolonien der Mexica und ihre tributpflichtigen Völker gehörten nun den Caxtiltéca; mehr und mehr schwimmende Häuser kamen über das Ostmeer und brachten immer neue weiße Männer ins Land. Die fremden Krieger schwärmten nach Norden, Westen und Süden aus, um auch andere, weiter entfernt lebende Völkerschaften und Länder zu erobern und zu unterwerfen. Den Gerüchten zufolge brauchten die Caxtiltéca, wohin sie auf dem Siegeszug auch kamen, ihre tödlichen Waffen kaum zu benutzen.
Einer unserer Informanten sagte: »Es müssen ihre Götter sein, die für sie töten. Die weiße Frau und das Kind sind blutdürstig und geradezu unersättlich. Mögen sie zur Mictlan fahren! Sie schlagen ganze Völker mit Krankheiten, an denen alle außer den Weißen sterben.«
»Es sind entsetzliche Krankheiten«, flüsterte ein anderer. »Ich habe gehört, daß sich auf der Haut der Leute schreckliche Beulen und Pusteln bilden. Die Kranken müssen lange Zeit unvorstellbare Qualen leiden, bevor der Tod sie endlich gnädig erlöst.«
»Die Menschen sterben scharenweise an dieser Plage«, rief ein Dritter. »Doch die Weißen scheinen dagegen gefeit zu sein. Es muß ein böser Zauber der weißen Göttin und des kleinen Gottes sein!«
Wir hörten auch, daß in Tenochtitlan und Umgebung alle gesunden und überlebenden Männer, Frauen und Kinder zu Sklavenarbeit gezwungen wurden. Sie mußten aus den Trümmern und Ruinen die Stadt neu aufbauen. Doch auf Anordnung der Eroberer hieß sie von nun an Mexico. Sie war immer noch die Hauptstadt der ehemaligen EINEN WELT, doch auf Befehl der Weißen war daraus Nueva España, Neuspanien, geworden. Und, so ging das Gerücht, die neue Stadt gliche in keiner Weise der alten – Architektur und Verzierungen der Gebäude seien fremdartig und verwirrend. Offenbar hatten die Caxtiltéca die Pläne aus ihrem ›Altspanien‹ mitgebracht, wo immer das liegen mochte.
Als wir in Aztlan schließlich erfuhren, daß sich die Weißen daranmachten, die Länder der Otomi und der Purémpecha zu unterwerfen, waren wir darauf gefaßt, die Räuber in allernächster Zeit auch bei uns zu sehen, denn Michihuácan, das nördlichste Gebiet des Purémpecha-Landes, liegt nur neunzig Lange Läufe von Aztlan entfernt. Doch die Purémpecha leisteten erbitterten und beharrlichen Widerstand, und das hielt die Eindringlinge jahrelang in Michihuácan fest. Die Otomi dagegen zogen sich vor den Angreifern zurück und überließen ihnen das Land, was immer es wert sein mochte. Es besaß für niemanden, auch nicht für die räuberischen Caxtiltéca, einen großen Wert, denn es war und ist, was wir das ›Tote-Knochen-Land‹ nennen – eine trockene, trostlose und ungastliche Wüste, die das ganze Land nördlich von Michihuácan umschließt.
Die Weißen gaben sich schließlich zufrieden und beendeten ihren Vormarsch am Südrand dieser einförmigen Wüste, die sie den ›Großen öden Ort‹ nannten. Sie zogen die Nordgrenze ihres ›Neuspanien‹ entlang einer Linie, die ungefähr vom Chápalan-See im Westen bis zur Küste des Ostmeeres verläuft. Bei dieser Grenze ist es bis heute geblieben. Wo die Südgrenze von Neuspanien schließlich gezogen wurde, weiß ich nicht. Doch ich weiß, daß die Soldaten der Caxtiltéca die ehemaligen Maya-Gebiete Uluümil Kutz und Quautemálan unterwarfen und die noch weiter südlich gelegenen, feuchten heißen Länder besiedelten. Die Mexica hatten früher mit diesen Ländern Handel getrieben, doch selbst auf dem Höhepunkt ihrer Macht nie das Verlangen gehabt, sie ihrem Reich einzugliedern oder dort zu leben. In diesen ereignisreichen Jahren, über die ich hier in groben Zügen berichtet habe, fielen auch die leichter vorhersehbaren und weniger aufsehenerregenden Ereignisse meiner Jugend. An dem Tag, an dem ich sieben Jahre alt wurde, brachte man mich zu dem runzligen alten Tonalpóqui, dem Namensgeber von Aztlan. Er zog sein Tonalmati, das Buch der Namen, zu Rate, erwog alle guten und schlechten Zeichen bei meiner Geburt und gab mir den Namen, den ich von nun an tragen würde. Mein erster Name war natürlich nur der des Tages, an dem ich auf die Welt kam: Chicuáce-Xóchitl, die ›Sechs Blüten der Blume‹. Als meinen zweiten Namen wählte der alte Seher Téotl-Tenamáxtli, ›Gegürtet und stark wie Stein‹, weil der Stein, wie er sagte, ›ein gutes Omen‹ sei. Zur gleichen Zeit, als ich Tenamáxtli wurde, begann mein Unterricht an den beiden Telpochcáltin, den Schulen von Aztlan – im Haus der Körperstärkung und im Haus der Sittenlehre. Als ich dreizehn war und das Schamtuch des Mannes anlegte, schloß ich die Ausbildung an diesen Einführungsschulen ab und besuchte nur noch die Calmécac der Stadt. Dort unterrichteten Priester aus Tenochtitlan Wortkunde und viele andere Fächer wie Geschichte, Medizin, Geographie und Dichtkunst – also fast jede Art von Wissen, das ein Schüler vielleicht erwerben mochte.
»Jetzt ist auch die Zeit«, sagte Onkel Mixtzin an meinem dreizehnten Geburtstag, »für dich noch eine andere Art Reife zu feiern. Komm mit, Tenamáxtli!« Er führte mich durch die Straßen zum besten Anyanicáti von Aztlan. Von den zahlreichen Bewohnerinnen wählte er die hübscheste aus – ein Mädchen, das beinahe so jung und so schön war wie seine Tochter Améyatl – und sagte zu ihr: »Dieser junge Mann ist heute zum Mann geworden. Ich möchte, daß du ihm alles zeigst, was ein Mann über das Ahuilnéma wissen sollte. Nimm dir dafür die ganze Nacht Zeit.«
Das Mädchen versprach es ihm lächelnd, und sie löste ihr Versprechen ein. Ich muß gestehen, mir gefielen ihre Aufmerksamkeiten und alles, was wir in jener Nacht taten, und ich war meinem großzügigen Onkel entsprechend dankbar. Doch ich muß hinzufügen, daß ich ohne sein Wissen bereits einige Monate bevor ich das Schamtuch anlegte, einen Vorgeschmack solcher Freuden bekommen hatte.
Jedenfalls wurden in jenen und in den folgenden Jahren weder Aztlan noch die umliegenden Gemeinden, mit denen wir Azteca Handel trieben, von den Caxtiltéca-Streitkräften heimgesucht. Natürlich waren die Gebiete nördlich von Neuspanien im Vergleich zur Mitte des Landes schon immer spärlich bevölkert gewesen. Es hätte mich nicht überrascht, wenn Stämme, die nördlich von unserem Land in noch größerer Abgeschiedenheit lebten, nicht einmal erfahren hätten, daß die EINE WELT überfallen worden war oder daß es so etwas wie weiße Männer gab.
Aztlan und die anderen Gemeinden waren begreiflicherweise erleichtert, daß sie von den Eroberern unbehelligt blieben. Wir stellten jedoch fest, daß die Sicherheit, die wir dank unserer Abgeschiedenheit genossen, auch Nachteile mit sich brachte. Da wir und unsere Nachbarn nicht die Aufmerksamkeit der Caxtiltéca erregen wollten, schickten wir keine unserer Pochtéca, unserer reisenden Fernhändler, ja nicht einmal Boten über die Grenze nach Neuspanien. Das bedeutete, daß wir uns freiwillig vom Handel mit den Gemeinden südlich dieser Linie abschnitten. Früher waren dort die besten Absatzmärkte für unsere selbst erzeugten Waren wie Kokosmilch, Süßigkeiten, alkoholische Getränke, Seife, Perlen und Schwämme gewesen. Und wir hatten Dinge erworben, die es in unserem Land nicht gab, das heißt alle möglichen Güter von Kakaobohnen bis hin zu Baumwolle und selbst Obsidian, den wir für Werkzeuge und Waffen benötigten. Deshalb begannen die Vorsteher mehrerer Gemeinden in unserer Umgebung – Yakóreke, Tépiz, Tecuéxe und andere – unauffällig Spähtrupps nach Süden zu schicken. Dabei handelte es sich um Gruppen von drei unbewaffneten Personen, unter denen sich immer eine Frau befand. Sie trugen schlichte ländliche Kleidung und wirkten wie einfache Leute vom Lande auf dem Weg zu einem harmlosen Familientreffen. Sie hatten nichts bei sich, was die Grenzwachen der Caxtiltéca argwöhnisch gemacht oder ihre Habgier geweckt hätte; üblich war ein Lederbeutel voll Wasser und ein anderer aus Pinóli für die Verpflegung. Die Kundschafter machten sich mit verständlicher Beklommenheit auf den Weg, denn sie wußten nicht, welche Gefahren unterwegs auf sie warten würden. Aber sie waren auch neugierig, denn sie hatten den Auftrag, ihren Häuptlingen zu berichten, was sie vom Leben im Inland, in den kleinen und großen Städten und vor allem in der Stadt Mexico erfuhren, die inzwischen alle unter der Herrschaft der Weißen standen. Von solchen Berichten hingen die Entscheidungen unseres Volkes ab. Sollten wir uns in der Hoffnung auf die Wiederaufnahme des normalen Handels und gesellschaftlicher Kontakte an die Eroberer wenden und uns mit ihnen verbünden, oder sollten wir uns von ihnen fernhalten und unauffällig und unabhängig bleiben, selbst wenn wir dadurch ärmer wurden? Oder sollten wir uns auf den Aufbau starker Streitkräfte konzentrieren, uneinnehmbare Verteidigungsanlagen errichten, Waffenarsenale anlegen und um unser Land kämpfen, wenn die Caxtiltéca eines Tages tatsächlich kamen?
Im Laufe der Zeit kehrten beinahe alle Kundschafter unbehelligt von irgendwelchen Zwischenfällen zurück. Nur ein oder zwei Gruppen hatten einen Grenzposten zu Gesicht bekommen. Abgesehen davon, daß die Kundschafter beim ersten Anblick eines weißen Mannes vor Ehrfurcht erstarrt waren, wußten sie von ihrem Grenzübergang nichts Besonderes zu berichten. Die Wachen hatten sie so wenig beachtet wie Eidechsen auf der Suche nach neuen Futterplätzen. In ganz Neuspanien hatten die Kundschafter weder in den Dörfern auf dem Land noch in den kleinen und großen Städten einschließlich der Hauptstadt Mexico Anzeichen dafür gesehen oder von den Einwohnern gehört, daß die neuen Herren strenger oder härter waren als die Mexica. »Meine Kundschafter berichten«, sagte Kévari, der Tlatocapili des Dorfes Yakóreke, »allen überlebenden Pipiltin des Hofes von Tenochtitlan und den Erben jener, die nicht überlebt haben, sind die Ländereien, der Besitz und die Privilegien ihrer Familien bestätigt worden. Die Eroberer haben ihnen gegenüber größte Milde gezeigt.«
»Allerdings«, erklärte Teciuápil, der Häuptling von Tecuéxe, »gibt es außer den wenigen, die als Herren oder Edelleute gelten, keine Pipiltin mehr. Ebensowenig findet man noch Macehualtin der arbeitenden Klasse oder Tlacótin-Sklaven. Alle Angehörigen unseres Volkes sind jetzt gleich. Sie arbeiten das, was der weiße Mann ihnen befiehlt. So berichten es meine Kundschafter.«
»Von meinen Kundschaftern ist nur einer zurückgekommen«, sagte Tototl, der Häuptling von Tépiz. »Er erzählt, daß die Stadt Mexico bis auf ein paar wenige, sehr prächtige Gebäude, an denen noch gearbeitet wird, wieder beinahe völlig aufgebaut ist. Natürlich gibt es keine Tempel der alten Götter mehr. Aber auf den Marktplätzen, sagt er, herrscht großes Gedränge, und die Geschäfte gehen sehr gut. Deshalb haben sich meine beiden anderen Kundschafter, Netzlin und Citláli, ein verheiratetes Paar, entschlossen, ihr Glück zu versuchen. Sie wollen dort bleiben.«
»Das überrascht mich nicht«, knurrte mein Onkel Mixtzin, dem die Oberhäupter der Gemeinden Bericht erstatteten. »Dumme Bauern wie sie haben in ihrem ganzen Leben noch nie eine Stadt gesehen. Kein Wunder, daß sie nur Gutes über die neuen Herren melden. Sie sind zu unwissend, um Vergleiche anstellen zu können«.
»Ayya!« fuhr Kévari auf. »Wir und unsere Leute haben uns wenigstens darum bemüht, etwas in Erfahrung zu bringen, während Ihr und Eure Azteca faul und zufrieden hier herumsitzt.«
»Kévari hat recht«, sagte Teciuápil. »Es war vereinbart, daß wir Häuptlinge zusammenkommen, um über das zu sprechen, was wir in Erfahrung gebracht haben. Dann wollten wir entscheiden, welche Haltung wir in Hinblick auf die Eindringlinge einnehmen. Doch Ihr, Herr Mixtzin, zeigt uns nur Eure Geringschätzung.«
»Jawohl«, rief Tototl. »Wenn Ihr die ehrlichen Bemühungen unserer dummen Bauern so verächtlich abtut, Herr Mixtzin, dann schickt doch ein paar Eurer gebildeten und kultivierten Azteca! Warum laßt Ihr nicht ein paar Eurer Mexica-Einwanderer die Lage auskundschaften? Wir werden alle Entscheidungen aufschieben, bis sie zurückkommen.«
»Nein«, erwiderte mein Onkel, nachdem er einen Augenblick nachgedacht hatte. »Auch ich habe, wie die Mexica, die bei uns leben, die Stadt Tenochtitlan auf dem Gipfel ihrer Macht und Herrlichkeit gesehen. Ich werde selbst gehen.« Er wandte sich an mich. »Tenamáxtli, mach dich bereit und sag deiner Mutter, sie soll sich ebenfalls bereit machen. Ihr beiden werdet mich begleiten.«
Das waren die Ereignisse, die uns drei in die Stadt Mexico führten, wo mir schließlich mein Onkel widerstrebend die Erlaubnis gab, eine Weile zu bleiben. Dort lernte ich vieles, auch die spanische Sprache. Ich habe mir jedoch nie die Zeit genommen, mi querida muchacha, mi inteligente y bellísima y adorada Verónica, deine Sprache lesen und schreiben zu lernen. Deshalb berichte ich dir jetzt meine Erinnerungen, damit du die Worte für alle meine Kinder und alle unsere Kindeskinder niederschreibst, die sie eines Tages lesen sollen. Der Höhepunkt dieser Kette von Ereignissen war, daß mein Onkel, meine Mutter und ich im Monat Panquetzaliztli, im Jahr der Dreizehn Schilfrohre – du würdest sagen im Oktober im Jahre des Herrn fünfzehnhunderteinunddreißig – in der Stadt Mexico eintrafen, und zwar genau an dem Tag, an dem der alte Mann Juan Damasceno durch Feuer hingerichtet wurde. Ich kann immer noch sehen, wie er brennt.