Kapitel 6

Das Band

Denn (sie) waren durch einen unsichtbaren, sehr elastischen Faden verbunden […], ein Faden, wie er nur Menschen wie sie beide verbinden konnte: zwei Menschen, die im jeweils anderen die eigene Einsamkeit erkannt hatten.

Paolo Giordano, Die Einsamkeit der Primzahlen

 

 

 

 

San Francisco

9:30 Uhr

 

Marcus hatte Mühe, aufzuwachen.

Wie ein Schlafwandler ging er ins Bad, trat, ohne Unterhose oder Hemd auszuziehen, in die Duschkabine und blieb dort bewegungslos unter dem Wasserstrahl stehen, bis der Boiler leer war. Das nachfolgende eiskalte Wasser ließ ihn erschaudern, und nachdem er sich rasch abgetrocknet hatte, schlurfte er in sein Zimmer, um festzustellen, dass seine Schublade mit Unterwäsche leer war. Alle seine Unterhosen und T-Shirts häuften sich in dem Weidenkorb. Jonathan, der bereits x-mal angekündigt hatte, seine Wäsche nicht mehr zu waschen, hatte seine Drohung also wahr gemacht!

»Jon!«, rief er in vorwurfsvollem Ton, bis ihm einfiel, dass es Samstag war und der Koch um diese Zeit sicher das Haus längst verlassen hatte, um seinen wöchentlichen Besuch auf dem Bauernmarkt am Embarcadero zu machen.

Noch immer leicht benebelt, fasste er in den Berg Schmutzwäsche und zog die ersten »wiederverwertbaren« Stücke heraus, die ihm in die Finger kamen.

Anschließend trottete Marcus in die Küche und fand tastend die Thermoskanne mit Pu-Erh-Tee, den Jonathan jeden Morgen zubereitete. Er ließ sich auf einen Stuhl fallen und nahm direkt aus der Kanne einen kräftigen Schluck Schwarztee. Als hätte das Getränk seine Neuronen wieder funktionstüchtig gemacht, hatte er eine plötzliche Eingebung und zog sich auf der Stelle aus, um seine Unterwäsche im Ausgussbecken mit Spülmittel zu waschen. Nachdem er sie ausgewrungen hatte, legte er sie in die Mikrowelle und stellte die Zeit auf acht Minuten ein.

Mit sich selbst sehr zufrieden, ging er im Adamskostüm auf die Terrasse.

»Sei gegrüßt, Trunkenbold!«, empfing ihn Boris.

»Guten Morgen, gefiedertes Teleplasma«, erwiderte Marcus und kraulte den Vogel.

Als Zeichen höchsten Einvernehmens hüpfte der Vogel auf seiner Stange, legte den Kopf schräg und öffnete den Schnabel, um ihm eine Ladung vorgekaute Obstmischung zu präsentieren.

Marcus dankte seinem Freund, bevor er sich in der Sonne rekelte, wobei er so herzhaft gähnte, dass er sich fast den Kiefer ausrenkte.

»Beweg deine müden Knochen! Beweg deine müden Knochen!«, kreischte der Papagei.

Von dieser Ermahnung angeregt, erfüllte Marcus die seiner Meinung nach wichtigste Arbeit des Tages: Er überprüfte das Pumpensystem, das ein Dutzend Cannabispflanzen, die hinter den Rosenstöcken im Garten verborgen wuchsen, bewässerte. Jonathan billigte diesen Kleinanbau keinesfalls, duldete ihn jedoch stillschweigend. Immerhin war Kalifornien der wichtigste westliche Produzent von indischem Hanf, und San Francisco stand für Toleranz und Subkultur.

Marcus blieb noch einen Moment auf der Terrasse, um von der Wärme zu profitieren. Nachdem er die längste Zeit seines Lebens in der Kälte Montreals verbracht hatte, genoss er das milde kalifornische Klima ganz besonders.

Auf der kleinen Erhebung des Telegraph Hill konnte man sich kaum vorstellen, dass Weihnachten vor der Tür stand: Die glänzenden Kelche des Jasmins begannen sich zu öffnen, Palmen, Prunus und Oleander glänzten in der Sonne, die Holzhäuser schienen sich unter dem Efeu zu biegen und verschwanden beinah inmitten eines üppigen Dschungels, in dem muntere Spatzen und bunte Kolibris lebten.

Auch zu der relativ frühen Stunde stiegen bereits Spaziergänger die blumengesäumten Stufen der Filbert-Treppe hinab. Trotz der üppigen Vegetation war das Haus nicht völlig sichtgeschützt. Einige Passanten waren belustigt, andere schockiert, keiner jedenfalls blieb gleichgültig angesichts dieses komischen nackten Kauzes, der eine Unterhaltung mit einem Papagei führte.

Marcus blieb davon ungerührt, bis einer der Touristen seine Kamera zückte, um die Szene zu verewigen.

»Nicht mal daheim hat man seine Ruhe!«, murrte der Kanadier und zog sich genau in dem Moment in die Küche zurück, als der Wecker der Mikrowelle durch sein Klingeln anzeigte, dass der »Garvorgang« abgeschlossen war.

Neugierig auf das Ergebnis, öffnete er das Gerät und zog seine Kleidung heraus. Sie war nicht nur trocken, sondern auch warm und herrlich weich!

Außerdem riecht alles nach Brioche, beglückwünschte er sich, während er den Geruch der Wäsche tief einatmete.

Er zog sich vor dem Spiegel an, rückte seine Unterhose zurecht und strich das T-Shirt glatt, dessen Aufdruck er besonders liebte:

 

OUT OF BEER

(life is crap)

 

Ohne Bier (ist das Leben scheiße).

Sein Magen knurrte. Ausgehungert öffnete er den Kühlschrank und kramte zwischen den Lebensmitteln, bevor er eine gewagte Mischung ausprobierte. Auf eine Scheibe Toastbrot strich er eine ordentliche Schicht Erdnussbutter, belegte sie mit Ölsardinen und verteilte einige Bananenscheiben darauf.

Exquisit!, dachte er und stieß einen Seufzer des Wohlbehagens aus.

Er hatte erst wenige Bissen von seinem Sandwich gegessen, als er sie bemerkte.

Die Fotos von Madeline.

Mehr als fünfzig Porträts waren mit Nadeln an die Korkplatte gepinnt, mit Magneten an den Türen der Metallschränke befestigt oder mit Tesafilm direkt an die Wand geklebt.

Sein Mitbewohner hatte ganz offensichtlich einen Großteil der Nacht damit verbracht, diese Fotos auszudrucken. Die junge Frau war darauf aus verschiedensten Blickwinkeln zu sehen: allein, mit ihrem Partner, von vorn, im Profil … Jonathan hatte einige Aufnahmen sogar vergrößert, um Augen und Gesicht hervorzuheben.

Perplex hielt Marcus im Kauen inne und näherte sich den Fotos. Insgeheim und möglichst unauffällig wachte der Kanadier über Jonathan. Warum diese Inszenierung? Welches Geheimnis suchte er im Blick von Madeline Greene zu entschlüsseln?

Er wusste, wie labil sein Freund noch war und dass seine »Genesung« auf wackligem Fundament stand.

Jeder Mensch hat in seinem Herzen eine Leere, eine Wunde, ein Gefühl von Verlassensein und Einsamkeit.

Marcus wusste, dass die Wunde in Jonathans Herz sehr tief war.

Und dass ein solches Verhalten nichts Gutes verhieß.

 

 

 

 

Währenddessen einige Kilometer weiter …

 

»Papa, darf ich das Jerky probieren?«, fragte Charly. »Das ist doch das Fleisch, das die Cowboys essen!«

Seit einer Stunde lief Jonathan, seinen Sohn auf den Schultern, zwischen den Ständen des Bauernmarktes umher, die sich auf dem Vorplatz des ehemaligen Piers drängten. Ein unumgängliches Ritual für den Restaurantbesitzer: Jeden Samstag kam er hierher, um sich mit Lebensmitteln einzudecken und sich für den Speiseplan der kommenden Woche Inspirationen zu holen.

Der Farmers’ Market war eine echte Institution in San Francisco. Rund um das Ferry Building versammelten sich etwa hundert Bauern und Fischer, um ihre regionalen Produkte aus biologischem Anbau anzubieten. Hier fand man das schönste Gemüse, das saftigste Obst, den frischesten Fisch und das zarteste Fleisch. Jonathan liebte diesen Markt, der eine bunt gemischte Kundschaft anzog: Touristen, Küchenchefs oder einfach Feinschmecker auf der Suche nach Qualitätsware.

»Bitte, Papa, da hinten gibt es Jerky! Das habe ich noch nie gegessen!«

Jonathan hob seinen Sohn von den Schultern, der sofort zu dem Stand hinstürzte. Begeistert verschlang er ein Stück von dem getrockneten Rindfleisch und musste sich eine Grimasse verkneifen.

Jonathan zwinkerte ihm verschwörerisch zu.

Inmitten dieses Festivals des Geschmacks fühlte er sich zu Hause. Basilikum, Olivenöl, Walnüsse, Ziegenfrischkäse, Avocados, Gurken, Tomaten, Auberginen, Gewürzkräuter, Riesenkürbis und Salat: Er prüfte, schnupperte, probierte, wählte. »Wer den Urgeschmack der Zutaten nicht hervorheben, sondern verbergen will, ist ein schlechter Koch.« Vom Sternekoch Jacques Laroux, seinem Lehrmeister, hatte er sein Know-how und seine strengen Kriterien bei der Produktauswahl, den Respekt vor den Jahreszeiten und die Suche nach dem besten Lieferanten gelernt.

Hier, im Gemüsegarten der USA, war das nicht schwierig. Bio-Lebensmittel waren längst nicht mehr ein Attribut der Hippies, sie gehörten inzwischen in San Francisco wie in ganz Kalifornien zur neuen Lebensart.

Ohne Charly aus den Augen zu lassen, setzte Jonathan seinen Rundgang fort, kaufte fünf Stück Geflügel, zehn Portionen Steinbutt und eine Kiste Jakobsmuscheln. Er verhandelte über ein Dutzend Hummer und fünf Kilo Langusten.

Bei jeder Bestellung nannte er die Platznummer, wo er seinen Lieferwagen geparkt hatte, damit die Angestellten die Ware dorthin bringen konnten.

»Hey, Jonathan, probier mal!«, rief ihm ein Austernhändler von Point Reyes zu und hielt ihm eine Auster hin.

Es war der übliche Scherz zwischen ihnen, denn der Franzose, der den örtlichen Brauch, die Austern vor dem Servieren in Wasser zu tauchen, nicht schätzte, setzte diese Meeresfrucht nie auf die Speisekarte seines Restaurants.

Jonathan bedankte sich und schlürfte die Auster trotzdem mit etwas Zitrone.

Er nutzte die Pause, um das Handy von Madeline aus seiner Blousontasche zu ziehen. Er schaute auf das Display und spürte eine leichte Enttäuschung, als er feststellte, dass die Floristin seine Nachricht nicht beantwortet hatte. Vielleicht sollte er ihr eine SMS schicken, um sich zu entschuldigen. War er zu weit gegangen? Aber diese Frau weckte seine Neugier … Vergangene Nacht, direkt nachdem er die Fotos ausgedruckt hatte, war ihm bei der Überprüfung der Speicherkapazität des Smartphones etwas Merkwürdiges aufgefallen:

 

Speicherkapazität: 32 GB

Verfügbarer Speicherplatz: 1,03 GB

Genutzt in %: 97,8

Verfügbar in %: 3,2

 

Diese Angabe hatte ihn überrascht. Wie konnte es sein, dass der Speicher des Handys bereits so voll war? Auf den ersten Blick enthielt es fünf Filme, etwa fünfzehn Apps, fünfzig Fotos, rund zweihundert Musiktitel und … das war alles. Man brauchte kein Informatikfachmann zu sein, um zu wissen, dass dies nicht ausreichte, um den Speicher eines Smartphones zu füllen. Schlussfolgerung? Es mussten also noch andere Daten existieren!

An die Brüstung oberhalb der Bucht gelehnt, zündete sich Jonathan eine Zigarette an und beobachtete Charly, der vor einem Kaninchenstall kniete. Rauchen war hier sicher nicht erlaubt, aber bei seinem Schlafmangel brauchte er einfach eine Dosis Nikotin. Er stieß eine Rauchwolke aus und antwortete mit einem Kopfnicken auf den Gruß eines Kollegen. Jonathan war unter den Restaurantbesitzern erst wirklich beliebt, seit er sie nicht mehr in den Schatten stellte! Die meisten grüßten ihn mit einer seltsamen Mischung aus Respekt und Mitgefühl. Fast jeder hier wusste, wer er war: Jonathan Lempereur, der ehemals kreativste Sternekoch seiner Generation, der Ex-Mozart der Gastronomie, der Ex-Chef der besten Küche der Welt.

Der Ex, Ex, Ex …

Heute war er so gut wie niemand mehr. Juristisch gesehen war er nicht einmal mehr dazu berechtigt, ein Restaurant zu führen. Bei dem erzwungenen Verkauf der Lizenz für seinen Namen hatte er sich nämlich dazu verpflichtet, sich vom Herd künftig fernzuhalten. French Touch gehörte ihm nicht, und sein Name war nie in den Vordergrund gestellt worden, weder auf der Internetseite des Restaurants noch auf den Visitenkarten.

Eine Journalistin des Chronical hatte in einem Artikel das Geheimnis gelüftet, jedoch zugeben müssen, dass die bescheidene Kneipe, in der er heute wirkte, absolut nichts von dem Glanz des Imperator besaß. Jonathan hatte diesen Artikel im Übrigen dafür genutzt, die Dinge auf den Punkt zu bringen: Ja, sein neues Restaurant servierte nur einfache Gerichte zu erschwinglichen Preisen. Nein, er würde nie mehr irgendein Rezept kreieren, seine Inspiration war nicht zurückgekehrt. Nein, er würde nie mehr auch nur die bescheidenste kulinarische Auszeichnung anstreben. So waren die Dinge zumindest klargestellt, und der Artikel hatte den Vorteil gehabt, die Sterneköche zu beruhigen, die angesichts einer möglichen Rückkehr von Lempereur leicht beunruhigt gewesen waren.

»Papa, darf ich die kleinen Wasabi-Erbsen probieren?«, bettelte Charly, der voller Neugier den Stand eines alten Asiaten betrachtete, der auch Entenzungen und Schildkrötensuppe anbot.

»Nein, kleiner Mann. Die würdest du nicht mögen, sie sind sehr scharf!«

»Ach bitte, bitte! Die sehen so gut aus!«

Jonathan zuckte mit den Schultern. Warum brachte uns die menschliche Natur bereits in jungen Jahren dazu, nicht auf qualifizierte Ratschläge zu hören?

»Mach, wie du meinst.«

Er zog erneut an seiner Zigarette und kniff die Augen gegen die Sonne zusammen. Zahlreiche Menschen nutzten das schöne Wetter, um mit dem Motorroller, dem Fahrrad oder zu Fuß am Ufer entlangzufahren oder spazieren zu gehen. In der Ferne glitzerte das Meer, und am intensiv blauen Himmel kreisten gierige Möwen, allzeit bereit, sich auf Nahrung zu stürzen.

Nach der Enttäuschung mit dem Jerky hätte Charly vorsichtiger sein sollen, aber die schöne grüne Farbe der Erbsen flößte ihm Vertrauen ein. Furchtlos schob er sich daher eine Handvoll der scharfen Erbsen in den Mund, und …

»Igitt! Das brennt!«, rief er und spuckte sie eiligst wieder aus.

Unter dem amüsierten Blick des alten Japaners drehte sich der Junge zu seinem Vater um.

»Du hättest mich aber auch warnen können!«, warf er ihm vor, um die Peinlichkeit zu überspielen.

»Na komm, trinken wir eine Schokolade«, schlug Jonathan vor, drückte seine Zigarette aus und hob Charly wieder auf die Schultern.

 

 

 

 

Währenddessen in Paris …

 

Kurz nach neunzehn Uhr öffnete ein Kurierbote die Tür zum Jardin Extraordinaire. Trotz der vorgerückten Stunde waren noch Kunden im Laden, und Madeline gab sich alle erdenkliche Mühe, sie zufriedenzustellen.

Als der Bote seinen Helm abnahm, hatte er den Eindruck, in eine andere Zeit versetzt zu sein. Mit seinen bunten Blumen in den Farben des Herbstes, den verschiedenen Düften, der Schaukel und der alten Metallgießkanne erinnerte ihn das Pflanzenatelier auf seltsame Weise an den Garten des Landhauses seiner Großmutter, wo er als Kind oft die Ferien verbracht hatte. Von der unerwarteten Schönheit dieser Naturinsel überrascht, kam es ihm vor, als würde er seit Langem zum ersten Mal wieder richtig durchatmen können.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Takumi.

»Federal Express«, antwortete er, plötzlich aus seinen Träumereien gerissen. »Ich soll hier ein Päckchen abholen.«

»Richtig, hier ist der Umschlag.«

Der Bote nahm den verstärkten Umschlag, den der Lehrling ihm reichte, entgegen.

»Danke, schönen Abend noch.«

Er trat hinaus auf die Straße und schwang sich auf sein Zweirad, startete und beschleunigte, um auf den Boulevard einzubiegen. Nachdem er bereits einige Dutzend Meter zurückgelegt hatte, bemerkte er im Rückspiegel eine Frau, die ihn rief. Er bremste und hielt am Randstein.

»Ich bin Madeline Greene«, erklärte sie, als sie ihn eingeholt hatte. »Ich habe im Internet das Formular für den Expressversand dieses Päckchens ausgefüllt, aber …«

»Möchten Sie den Auftrag stornieren?«

»Ja, und das Päckchen bitte zurückhaben.«

Ohne ihr Schwierigkeiten zu machen, gab der junge Mann Madeline den Umschlag zurück. Offenbar kam es häufig vor, dass Absender im letzten Moment ihre Meinung änderten.

Sie unterzeichnete eine Quittung und reichte ihm einen Zwanzig-Euro-Schein als Entschädigung.

Madeline lief zurück in ihren Laden und drückte das Smartphone an ihre Brust, wobei sie sich fragte, ob ihre Entscheidung richtig gewesen war. Ihr war klar, dass sie riskierte, Jonathan zu provozieren, indem sie sein Handy nicht zurückschickte. Wenn sie in den nächsten Tagen nichts mehr hörte, hätte sie noch genügend Zeit, es ihm zukommen zu lassen, aber sollten sich die Dinge ungünstig entwickeln, wollte sie die Möglichkeit haben, direkt mit ihm Kontakt aufzunehmen.

Wobei sie hoffte, dass dieser Fall niemals eintreten würde.

 

 

 

 

San Francisco

 

Jonathan setzte seine Einkäufe unter den Arkaden des Ferry Building fort. Der über hundert Jahre alte Hafenbahnhof erhob sich stolz entlang des Embarcadero. Seine Glanzzeit hatte er in den Zwanzigerjahren erlebt, als er die wichtigste Endstation der Welt für Reisende gewesen war. Heute war das Hauptgebäude in eine elegante Ladengalerie umgebaut, in der Bäcker, Käse- und Delikatessenhändler zu einem Gourmet-Spaziergang einluden.

Der Gastronom beendete seine Einkäufe mit einer Auswahl an Winterobst – Trauben, Kiwis, Zitronen, Granatäpfel und Orangen –, bevor er sein Versprechen einlöste und seinem Sohn in einem der Cafés am Embarcadero eine Tasse Schokolade spendierte.

Erleichtert vertrieb Charly den Senfgeschmack, der in seinem Mund brannte, mit dem milden Kakao. Jonathan begnügte sich mit einer Tasse Pu-Erh-Tee. Er war gedankenverloren. Beim ersten Schluck schaute er prüfend auf das Display des Handys. Noch immer keine Nachricht von Madeline.

Eine innere Stimme befahl ihm, das Spielchen zu beenden. Was suchte er? Was wollte er beweisen? Was, außer Ärger, konnten ihm seine Nachforschungen eintragen?

Er beschloss jedoch, diese Warnungen zu ignorieren. Letzte Nacht hatte er systematisch alle Apps und Speicherbereiche geöffnet, wobei ihm ein einziger verdächtig erschienen war: ein Ordner, auf dem große, von irgendeinem Computer übertragene Dateien einzusehen waren – PDFs, Bilder, Videos. Falls Madeline in ihrem Smartphone Dokumente verbarg – was die Analyse des Telefonspeichers vermuten ließ –, mussten sie sich dort befinden.

Nur war das App leider durch ein Passwort geschützt!

 

ENTER PASSWORD

 

Jonathan betrachtete den blinkenden Cursor, der ihn aufforderte, den Geheimcode einzugeben. Auf gut Glück probierte er nacheinander MADELINE, GREENE, dann PASSWORD.

Das war natürlich illusorisch.

Nachdem auch der dritte Versuch gescheitert war, sah er auf seine Armbanduhr und stellte mit Schrecken fest, wie viel Zeit er vertrödelt hatte. Am Wochenende beschäftigte er eine Küchenhilfe. Dieser Jungkoch hatte jedoch keinen Schlüssel, und auf die Pünktlichkeit des Faulenzers Marcus konnte er nicht zählen.

»Auf geht’s, Matrose, wir lichten die Anker!«, befahl er seinem Sohn und ließ Charly seine Jacke anziehen.

»Ach, Papa, können wir vorher noch den Seelöwen hallo sagen?«

Der Junge liebte es, wenn sein Vater ihm diese seltsamen Meerestiere zeigte, die seit dem Erdbeben von 1989 den Pier 39 als Domizil gewählt hatten.

»Nein, mein Schatz, ich muss arbeiten«, antwortete Jonathan etwas schuldbewusst. »Wir schauen sie uns morgen in der Bodega Bay an, wenn wir angeln gehen, okay?«

»Okay!«, rief Charly und sprang von seinem Stuhl.

Mit einer Serviette wischte Jonathan den Schnurrbart aus Schokolade unter der Nase seines Sohnes ab.

Sie erreichten gerade den Parkplatz, als das Handy in seiner Tasche vibrierte. Jonathan zog es heraus und sah auf dem Display den Vornamen ESTEBAN.

 

Einen Augenblick zögerte er, ob er das Gespräch annehmen sollte, doch der für die Lieferungen zuständige Angestellte belegte ihn sofort mit Beschlag, um ihm beim Einladen der Waren zu helfen. Charly gefiel es, mitzuhelfen, und so luden die drei rasch alle Kisten in den Austin Mini Kombi, einen echten Countryman aus den Sechzigerjahren mit Holzverzierungen, die das Emblem des Restaurants trugen.

»Anschnallen!«, befahl Jonathan seinem Sohn, bevor er den Motor anließ.

Während er in Richtung des italienischen Viertels fuhr, steckte er das Telefon in die Halterung und …

Bingo! Esteban hatte eine Nachricht hinterlassen! Er schaltete den Lautsprecher ein, um sie zu hören, aber während er eine Männerstimme erwartete, erklang eine melodiöse Frauenstimme:

Guten Tag, Mademoiselle Greene, hier ist die Praxis Dr. Esteban, ich wollte fragen, ob wir Ihren Termin am Montag um eine Stunde verschieben können. Bitte rufen Sie mich zurück. Ein wunderschönes Wochenende.

Jonathan machte überrascht eine Bewegung. Esteban war also nicht der Vorname eines südamerikanischen Liebhabers, sondern der Nachname eines Arztes! Von Neugier ergriffen, wählte er die Gelben Seiten, die auf dem Telefon verfügbar waren, als sein Sohn ihn zur Ordnung rief:

»Schau auf die Straße, Papa!«

Er gab ihm recht.

»Okay, kleiner Mann, du kannst mir mal helfen.«

Charly, der sich freute, eine Aufgabe zu bekommen, gab über das Display die Daten in das Online-Formular ein. Nach Anweisung seines Vaters tippte er DOCTEUR ESTEBAN und PARIS ein und startete die Suche. Innerhalb weniger Sekunden tauchte das Suchergebnis auf:

Laurence Esteban

Psychiater

66 bis, rue Las Cases 75007 Paris

 

Jonathan war mit der vermeintlichen Untreue von Madeline also auf einer falschen Spur gewesen, hatte jedoch erraten, dass es ihr schlecht ging. Zwar gab sich die junge Frau auf den Fotos den Anschein, glücklich zu sein, aber jemand, der zweimal pro Woche einen Psychiater aufsuchte, konnte kaum ungewöhnlich heiter sein …