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Kapitel 14
Der Intimfeind
Wir haben alle die
Wahl.
Wir sind die Summe unserer Entscheidungen.
Joseph O’Connor, Desperados
Madeline parkte den Zivilwagen vor dem Black Swan, einem Irish Pub, der seit mehreren Generationen im Besitz der Familie Doyle war.
Cheatam Bridge war eine kleine Enklave mit weniger als zehntausend Einwohnern, drei Kilometer nordöstlich vom Zentrum von Manchester. Nacheinander waren in das ehemals vorwiegend irisch geprägte Arbeiterviertel Inder, Pakistaner, Afrikaner und seit Neuestem Osteuropäer eingewandert. Dieses ethnische Gemisch hatte eine erstaunliche kulturelle Vielfalt hervorgebracht, war aber auch Ursprung eines mörderischen, mitleidlosen Bandenkrieges. Ein Eingreifen der Polizei war hier äußerst schwierig und die Kriminalitätsrate erschreckend hoch.
Kaum hatte Madeline den Pub betreten, rief jemand spöttisch:
»Hallo, Maddie! Weißt du eigentlich, dass du noch immer den knackigsten Hintern von allen Polizistinnen in Manchester hast?«
Sie drehte sich um und entdeckte Danny Doyle an der Theke vor einem Pint dunklem Bier, mit dem er ihr zuprostete. Seine Bodyguards lachten hämisch über diesen Witz.
»Guten Tag, Daniel«, sagte sie und trat näher. »Es ist lange her …«
Danny »Dub« Doyle, der »Finstere«, war der Chef eines der mächtigsten Clans der Unterwelt von Manchester. Der Pate einer kriminellen Familiendynastie, die seit fünfzig Jahren über das Reich von Cheatam Bridge herrschte. Mit Anfang dreißig hatte er bereits mehrmals im Gefängnis gesessen und ein ellenlanges Vorstrafenregister wegen Drogenschmuggel, Einbruch, Geldwäsche, Zuhälterei, Widerstand gegen die Staatsgewalt …
Danny war vor allem ein gewalttätiger Mensch, der in der Lage war, den Anführer einer rivalisierenden Gang auf einem Billardtisch zu kreuzigen. Mit seinem Bruder und seiner Bande hatte »Dub« mehr als zwanzig Menschen auf dem Gewissen, deren Tod oft mit Quälerei und extremer Brutalität verbunden gewesen war.
»Willst du ein Bier?«, fragte er.
»Lieber ein Glas Bordeaux«, antwortete Madeline. »Von deinem Guinness wird mir übel.«
Ein Murmeln erhob sich unter den Leibwächtern, die um Doyle herumstanden. Niemand würde es wagen, ihm gegenüber einen solchen Ton anzuschlagen – schon gar nicht eine Frau. Herausfordernd musterte Madeline die Gefolgsmänner des Gangsterbosses, erbärmliche Typen, die zu viel Scarface und Der Pate geguckt hatten. Sie versuchten, die Posen der Film-Gangster nachzuahmen, mit ihrem spießigen Aussehen und ihrem groben Akzent aber würden sie nie die Klasse eines Corleone erreichen.
Ohne die Stimme zu heben, fragte Danny den Barmann, ob er Bordeaux im Keller hätte.
»Bordeaux? Nein. Außer … vielleicht ist welcher in den Kisten, die Liam bei den Russen geklaut hat …«
»Dann sieh nach«, befahl Doyle.
Madeline blickte ihm in die Augen.
»Es ist dunkel hier drinnen, lass uns auf die Terrasse gehen, wenn das Wetter schon mal schön ist.«
»Ich folge dir.«
Doyle, ein komplexer und gequälter Charakter, teilte sich die Führung des Clans mit seinem Zwillingsbruder Jonny, der fünf Minuten nach ihm geboren war, aber nie den Status des Jüngeren akzeptiert hatte. Jonny litt an paranoider Schizophrenie, die ihn gewalttätig und unberechenbar gemacht und mehrmals in die Psychiatrie gebracht hatte – in seinem Fall angemessener als das Gefängnis. Von den beiden Brüdern war Jonny die blutrünstige Bestie, und Madeline war immer der Meinung gewesen, dass sich Danny vor allem in die Spirale der Gewalt hatte hineinziehen lassen, um die Kontrolle über seinen Bruder zu behalten.
Als sie den Innenhof erreichten, trat ein Rotschopf vor, der die junge Polizistin durchsuchen wollte, doch da kannte er Madeline schlecht.
»Wenn du mich anfasst, schlitze ich dir den Bauch auf!«
Danny lächelte und hob die Hand, um seine Leute zu beruhigen und wegzuschicken. Dann nahm er ihr selbst die Waffe ab und vergewisserte sich, dass sie nicht eine zweite im Rücken oder am Knöchel verbarg.
»Nutz bloß die Gelegenheit nicht, um mich zu befummeln!«
»Ich muss mich absichern, denn wenn die Bullen eines Tages beschließen, mich abzuknallen, werden sie dich diese Drecksarbeit erledigen lassen …«
In einer romantischen Laube nahmen sie einander gegenüber an einem emaillierten Gartentisch Platz.
»Man könnte meinen, wir wären in der Provence oder in Italien«, rief Doyle, um die Situation zu entspannen.
Madeline fröstelte. Es war nicht einfach, dem Teufel gegenüberzusitzen.
Außer dass Danny Doyle, bevor er der Teufel wurde, mit ihr die Grundschule besucht hatte und später der erste Junge gewesen war, von dem sie sich hatte küssen lassen.
»Na, dann schieß mal los«, sagte Danny und verschränkte die Hände.
Doyle hatte ein kantiges Gesicht, war mittelgroß, dunkelhaarig und versuchte, wie ein Durchschnittsbürger auszusehen. Madeline wusste, dass er das Chamäleonhafte des Darstellers Kevin Spacey in dem Film Die üblichen Verdächtigen bewunderte. Er war ganz in Schwarz gekleidet und trug, ohne damit zu protzen, einen Anzug von Ermenegildo Zegna, der sicher tausend Pfund gekostet hatte. Im Gegensatz zu seinen Handlangern wirkte Doyle nicht wie eine Karikatur. Im Gegenteil, er besaß den Charme jener Männer, die nicht mehr zu verführen versuchen.
»Ich komme wegen Alice Dixon, Daniel.«
»Das Mädchen, das verschwunden ist?«
»Ja, ich leite seit drei Monaten die Ermittlungen. Hast du vielleicht Informationen?«
Doyle schüttelte den Kopf.
»Nein, warum?«
»Schwörst du mir, dass du nicht hinter der Sache steckst?«
»Warum hätte ich das Mädchen entführen sollen?«
»Um sie für dich arbeiten zu lassen …«
»Sie ist erst vierzehn!«
Madeline zog ein Foto von Alice aus ihrer Brieftasche.
»Sie sieht mindestens wie sechzehn aus. Und sie ist hübsch, oder?«, meinte sie und zeigte ihm das Bild. »Sag mir nicht, dass du sie nicht gerne vernaschen würdest!«
Diese Provokation war Doyle unerträglich. Mit einer schnellen Geste packte er Madeline beim Kopf, zog sie dicht an sich heran und sah ihr in die Augen.
»Was soll das, Madeline? Ich habe sicher alle Fehler dieser Welt, ich habe Blut an den Händen, und mein Platz in der Hölle ist bereits reserviert, aber ich habe nie ein Kind angerührt.«
»Dann hilf mir«, sagte sie und befreite sich aus seinem Griff.
Nach einer Weile fragte Doyle, noch immer leicht verärgert:
»Was erwartest du von mir?«
»Du kennst Gott und die Welt hier im Viertel, und die meisten Leute sind dir etwas schuldig. Du schlichtest Nachbarschaftsstreitigkeiten, du schützt die Geschäftsleute und lässt sogar zu Weihnachten Geschenke an die ärmsten Familien verteilen …«
»Das ist meine Robin-Hood-Seite«, meinte Doyle ironisch.
»Dir ist vor allem daran gelegen, möglichst viele Menschen von dir abhängig zu machen.«
»Das ist die Grundlage des Geschäfts …«
»Nun, ich möchte, dass du deine Verbindungen nutzt, um Informationen über die Entführung von Alice zu bekommen.«
»Welche Art Informationen?«
»Die Informationen, die die Leute nicht der Polizei mitteilen wollen.«
Doyle seufzte und dachte kurz nach.
»Maddie, das Mädchen ist seit über drei Monaten verschwunden. Dir muss doch klar sein, dass man sie nie finden …«
»Ich bin nicht gekommen, um mir solchen Blödsinn anzuhören«, unterbrach sie ihn und fuhr fort: »Zu deinem Kreis gehören auch Politiker und Geschäftsleute. Typen, die dir ebenfalls etwas schulden, weil du kompromittierende Fotos von Sexgelagen mit Callgirls nicht an ihre Ehefrauen oder an die Presse geschickt hast. Aber du kennst die Einzelheiten besser als ich, denn du hast die Mädchen ja bezahlt.«
Ein nervöses Grinsen umspielte Doyles Lippen.
»Woher weißt du das?«
»Ich bin Bulle, Daniel. Du musst doch wissen, dass dein Telefon seit Monaten abgehört wird.«
»Ich habe Dutzende von Handys«, meinte er schulterzuckend.
»Egal, ich möchte, dass du diese ›feinen Herren‹ einspannst, um die Öffentlichkeit zu mobilisieren.«
Der Barmann brachte eine Flasche Bordeaux, die er doch noch aufgetrieben hatte.
»Ist der der gnädigen Dame genehm?«
»Ein Haut-Brion 1989!«, rief sie nach einem Blick auf das Etikett. »Nein, den können wir nicht aufmachen, das ist ein Grand Cru.«
Doyle befahl dem Barmann mit einer Kopfbewegung, ihnen zwei Gläser einzuschenken.
»Der gehörte dem dreckigen Ruskoff, der jetzt sechs Fuß unter der Erde ruht! Es ist mir also ein großes Vergnügen, auf sein Wohl zu trinken!«
Um ihn nicht zu verärgern, nahm Madeline das Glas und wartete auf Doyles Antwort.
»Was bekomme ich dafür, wenn ich dir helfe, das Mädchen zu finden?«
»Persönliche Befriedigung, Gottes Nachsicht für all deine Taten, eine Art Ablass …«
Er lachte leise.
»Und ernsthaft?«
Um sich Mut zu machen, nahm Madeline einen kräftigen Schluck Wein. Sie hatte diesen Deal vorbereitet. Bei Doyle bekam man nichts umsonst, darum hatte sie sich auch erst als eine letzte Möglichkeit an ihn gewandt.
»Seit mehreren Wochen informiert ein Spitzel die Great Manchester Police über deine Pläne …«, begann sie.
Doyle schüttelte den Kopf.
»Willst mir weismachen, unter meinen Männern gäbe es einen Verräter?«
»Er hat uns von dem Einbruch bei der Butterfly Bank in Kenntnis gesetzt, den du für nächsten Freitag geplant hast …«
Doyle reagierte nicht.
»Gibst du mir seinen Namen, wenn ich dir helfe?«
Madeline lehnte sich in ihrem Stuhl zurück.
»Kommt nicht infrage, ich habe schon zu viel gesagt. Sieh zu, dass du den Kerl selbst findest.«
»Du setzt deinen Ruf aufs Spiel, indem du hierherkommst und mich um Hilfe bittest, willst dir aber gleichzeitig die Finger nicht wirklich schmutzig machen, stimmt’s?«
»Daniel, bitte … wenn ich dir den Namen gebe, ist der Mann noch vor heute Abend tot.«
»Daran besteht kein Zweifel«, erwiderte er und sah sie mit einer Mischung aus Vorwurf und Zuneigung an.
Sie waren einander auf seltsame Weise verbunden. Außer ihr hatte ihn niemand je »Daniel« genannt, und er war sich ziemlich sicher, dass auch niemand sie »Maddie« nennen durfte.
»In dieser Angelegenheit gibt es keine Halbheiten, Maddie. Entweder du riskierst was, um das Mädchen zu retten, oder du wäschst deine Hände in Unschuld. Das musst du selbst entscheiden.«
»Du lässt mir keine Wahl.«
»Wir haben alle die Wahl. Wir sind die Summe unserer Entscheidungen. In welchem Buch kommt das vor? Es war einer der Romane, die du mir bei meinem ersten Gefängnisaufenthalt geschickt hast.«
Vor seinen Männern gab sich Daniel unkultiviert, was aber in Wirklichkeit nicht der Fall war. Im Gegensatz zu seinem Bruder interessierte er sich für Kunst und hatte vor seiner Verhaftung Betriebswirtschaft, zunächst in London, dann an der Universität von Kalifornien studiert.
Madeline zog ein gefaltetes Blatt aus der Tasche ihrer Jeans und reichte es Doyle.
»Okay, hier ist der Name unseres Spitzels«, sagte sie.
Sie erhob sich, um zu gehen.
»Bleib noch fünf Minuten«, bat er und hielt sie an der Hand zurück.
Sie zog ihre Hand zurück. Um sie umzustimmen, griff er nach einem Feuerzeug und hielt die Flamme unter das Papier, ohne den Namen gelesen zu haben.
»Gut, du hast gewonnen.«
Also setzte sie sich wieder, und er schenkte ihr noch ein Glas Wein ein.
»Warum hast du dieses beschissene Manchester nicht verlassen?«, fragte er und zündete sich eine Zigarette an. »Du hast immer gesagt, du wolltest in Paris leben …«
»Und warum bist du nicht in den USA geblieben? Wozu dienen dir die Restaurants und Immobilienbüros, die du in Los Angeles gekauft hast? Nur zur Geldwäsche?«
Er wich der Frage aus.
»Du wolltest ein Blumengeschäft aufmachen …«
»Und du hast gesagt, du wolltest Theaterstücke schreiben!«
Bei dieser Anspielung lachte Doyle kurz auf. Der Theaterclub im Gymnasium. 1988. Er war damals dreizehn Jahre alt gewesen.
»Das Buch meines Lebens war schon vor meiner Geburt geschrieben. Wenn du in Cheatam Bridge geboren bist und Danny Doyle heißt, entkommst du deinem Schicksal nicht.«
»Ich dachte, man hätte immer die Wahl«, neckte sie ihn.
Ein Aufblitzen erhellte seinen Blick, und ein offenes Lächeln machte seinen Gesichtsausdruck geradezu sympathisch. Schwer vorstellbar, dass dies derselbe Mann war, der einen Monat zuvor einem Ukrainer mit einer Machete Hände und Füße abgeschlagen hatte, weil dieser versuchte, ihn auszutricksen. Sie wusste, dass es in jedem Menschen Gutes und Schlechtes gab und dass manche, aus freiem Willen oder gezwungenermaßen, den schlimmsten Teil ihrer selbst kultivierten. In diesem Augenblick fragte sie sich, was wohl aus Daniel geworden wäre, wenn er die gute Seite seiner Persönlichkeit entwickelt hätte, statt den schwierigen Weg einer Flucht nach vorn zu wählen, deren Ausgang zwangsläufig verhängnisvoll war.
Für einige Sekunden schien die Zeit stehen zu bleiben. Jene wenigen Sekunden der Gunst, in denen sie beide wieder fünfzehn Jahre alt waren und sich zulächelten. In denen Daniel nie jemanden getötet hatte. In denen sie nicht Polizistin war. In denen Alice nicht verschwunden war. Die wenigen Sekunden, in denen das Leben noch voller Verheißungen war.
Zwei oder drei Sekunden …
Dann kam einer seiner Männer auf die Terrasse und zerstörte den gefährlichen Charme des Augenblicks.
»Wir müssen los, Chef, sonst verpassen wir den Jamaikaner.«
»Ich komme gleich zum Auto.«
Daniel trank sein Glas aus und erhob sich.
»Du kannst dich darauf verlassen, dass ich dir helfe, Maddie. Aber es ist vielleicht das letzte Mal, dass wir uns sehen.«
»Warum?«
»Weil ich bald sterben werde.«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Das sagst du schon seit Jahren.«
Doyle rieb sich erschöpft die Augen.
»Diesmal sind alle hinter mir her: die Russen, die Albaner, die amerikanische Finanzbehörde, die neue Generation hier im Viertel, die nichts mehr respektiert.«
»Du wusstest doch immer, dass es so enden würde, oder?«
»Früher oder später«, entgegnete er und gab ihr ihre Waffe zurück.
Dann sah er sie ein letztes Mal an, und die Worte kamen spontan über seine Lippen:
»Unser erster Kuss … ich denke noch oft daran.«
Sie senkte die Augen.
»Das ist schon über zwanzig Jahre her, Daniel.«
»Stimmt, aber du sollst wissen, dass mich diese Erinnerung immer begleitet und dass ich es nicht bereue.«
Sie hob erneut den Blick. Es war schwierig, das zu hören und zuzulassen. Es hatte auch etwas Beängstigendes, aber so war nun einmal die Welt – weder weiß noch schwarz. Und die Ehrlichkeit trieb sie dazu zu sagen:
»Ich auch nicht, Daniel, nein, ich bereue es auch nicht.«