Kapitel 21

The Wild Side

Schwindel ist etwas anderes als Angst vor dem Fall. Schwindel bedeutet, dass uns die Tiefe anzieht und lockt, sie weckt in uns die Sehnsucht nach dem Fall, eine Sehnsucht, gegen die wir uns dann erschrocken wehren.

Milan Kundera, Die unerträgliche

Leichtigkeit des Seins

 

 

 

 

Paris, Montparnasse

Dienstag, 20. Dezember

19:20 Uhr

 

Vor dem Spiegel ihrer Wohnung inspizierte Madeline ihren Kampfdress: elegantes, diskretes Make-up, High Heels, um die Figur zu strecken, kleines Schwarzes aus Taft und Seide. Das Wichtigste war die Länge – nicht zu kurz und nicht zu lang, genau bis zum Knie. An diesem Abend fühlte sie sich wie »im Dienst«, und angesichts der Sexbomben, die durch LaTulips Bett hüpften, musste sie verführerisch sein, wenn sie ihm eine Falle stellen wollte.

Sie schlüpfte in ihren Gabardinemantel – ein Geschenk von Raphael – und verließ ihre Wohnung mit dem Gefühl, sexy und aufreizend genug zu sein, um den Feind zu täuschen.

Um diese Zeit waren die Straßen hoffnungslos überfüllt. Deshalb entschied sie sich, trotz der Kälte die Metro zu nehmen, und betrat die Station Raspail.

Die Wagen waren brechend voll. Die meisten Fahrgäste kamen von der Arbeit, andere gingen zum Essen oder ins Theater, wieder andere machten ihre letzten  Weihnachtseinkäufe. Madeline öffnete ihre Handtasche: sie enthielt eine Glock .17 – ihre ehemalige Dienstwaffe, die sie nicht zurückgegeben hatte – und ein Taschenbuch – Der schwedische Reiter von Leo Perutz –, das ihr ihre Buchhändlerin vor langer Zeit empfohlen hatte.

An einen Klappsitz gelehnt, sah sie sich um. Sie hatte den Eindruck, dass immer weniger Leute während der Fahrt lasen. Stattdessen waren ihre Blicke auf das Display ihres Handys gerichtet, andere unterhielten sich, wenn sie nicht gerade telefonierten, spielten oder Musik hörten. Sie versuchte, sich in ihren Roman zu vertiefen, war aber außerstande, sich zu konzentrieren. Zu viele Menschen, zu großes Gedränge und vor allem die Last des schlechten Gewissens. Seit Samstag belog sie Raphael. Und zwar auf eine immer weniger unschuldige Art. Heute Abend hatte sie ihm vorgeschwindelt, sie würde mit einer Freundin deren Abschied vom Junggesellenleben feiern. Glücklicherweise war er weder misstrauisch noch eifersüchtig, sonst hätte er ihr leicht auf die Schliche kommen können.

Wie erhofft, hatte George LaTulip sehr schnell Kontakt mit ihr aufgenommen. Wenige Stunden nach dem »Unfall«, hatte er sie im Geschäft angerufen und zum Mittagessen eingeladen. Um sein Interesse anzustacheln, hatte sie zunächst abgelehnt, doch glücklicherweise hatte er insistiert, und diesmal hatte sie die Einladung zum Abendessen angenommen. Typen wie George kannte sie zur Genüge. In den psychologischen Artikeln der Frauenzeitschriften wurden sie als »zwanghafte Verführer« bezeichnet. In der Wirklichkeit nannte man sie Aufreißer – alles nur eine Frage des Vokabulars.

An der Endstation der Linie 6 stieg sie aus. Sobald sie an die Oberfläche kam, tauchte sie in ein Lichtermeer ein. Von der Place de la Concorde bis zur Étoile waren auf einer Länge von mehr als zwei Kilometern die Bäume entlang der schönsten Avenue der Welt durchzogen von bläulich schimmernden Lämpchen, die funkelten wie Kristalle. Selbst die blasiertesten Pariser konnten sich der Magie dieses Schauspiels nicht entziehen.

Sie zog ihren Mantel fester um sich und lief über die Avenue Hoche bis zum Restaurant Royal Monceau.

»Sie sehen bezaubernd aus«, erklärte LaTulip zur Begrüßung.

Er hatte sich nicht lumpen lassen. Das Restaurant des Luxushotels, äußerst eindrucksvoll mit seinen Säulen, den beigefarbenen Ledersesseln und der Kombination unterschiedlicher Materialien – Barhocker aus Metall, Theke aus Plexiglas – war unerhört stylish …

»Gefällt Ihnen das Dekor?«, fragte er, während man sie zu einem Tisch in einer kleinen Nische führte.

Madeline nickte.

»Der Designer ist Philippe Starck. Wussten Sie, dass er auch mein Restaurant eingerichtet hat?«

Nein, das wusste sie nicht.

Ab diesem Moment sagte sie fast nichts mehr, sondern begnügte sich damit, hübsch zu sein, zu lächeln und Bewunderung für Georges affiges Verführungsspiel zu heucheln. Man spürte, dass er sein Annäherungsmanöver souverän beherrschte. Lässig redete er für zwei, erzählte von seinen Reisen, seinen Extremsport-Erfahrungen und von den DJs David Guetta und Armin van Buuren, die er »persönlich kannte«, sowie vom Pariser Nachtleben, das er für »langweilig, kaputt und so gut wie tot« hielt.

»Es ist wirklich schlimm, es gibt hier keine richtige Underground-Kultur mehr. Die kreativsten DJs und Labels gehen nach Berlin oder London. Wenn man sich heute wirklich amüsieren will, muss man das Flugzeug nehmen.«

Madeline lauschte zerstreut den stereotypen Floskeln, die er sicher schon hundert Mal von sich gegeben hatte. Bei allen Gängen, die man ihr servierte – Wachseier mit Flusskrebsen und Steinpilzen, Kalbsbraten an Karotten im eigenen Saft –, fragte sie sich, was Jonathan wohl dazu gesagt hätte.

Nachdem sie jeden Bissen ihres Desserts – eine exzellente Schoko-Zitronen-Blätterteigschnitte – genossen hatte, erklärte sie sich bereit, »ein letztes Gläschen« bei Georges zu trinken.

Sie nahm auf dem Beifahrersitz des Porsches Platz, den der Valet vorgefahren hatte. Ehe LaTulip den Motor anließ, beugte er sich zu Madeline und küsste sie.

Der Typ hat wirklich nichts gemerkt.

Sie lächelte ihm zu, tat so, als gefiele ihr das, und erwiderte seinen Kuss.

 

 

 

 

Zur selben Zeit in San Francisco

 

Die Flughafenuhr zeigte auf 12. Jonathan schloss seinen Sohn in die Arme und stellte ihn dann wieder auf den Boden. Das Flugticket in der Hand, sah er Marcus eindringlich an.

»Also, ich vertraue dir Charly für zwei Tage an. Alessandra bleibt während der Ferien in der Stadt, sie kann dir helfen. Was das Restaurant betrifft, so habe ich alle Reservierungen bis Ende der Woche annulliert.«

»Bist du sicher, dass du diesen Flug nehmen willst?«

»Ganz sicher.«

»Ich verstehe nicht, was du in London willst.«

»Eigentlich fahre ich nach Manchester. Ich muss dort jemanden treffen und ein paar Sachen überprüfen.«

»Und das kann nicht warten?«

»Nein.«

»Willst du es mir nicht erklären?«

Jonathan antwortete ausweichend:

»Ich habe eine Schuld zu begleichen, ein paar Phantome zu vertreiben und dunkle Zonen zu erhellen …«

»Hat das mit dieser Frau, dieser Madeline Greene, zu tun?«

»Das erzähle ich dir, wenn ich etwas klarer sehe. Einstweilen kümmer dich gut um Charly.«

»Natürlich.«

»Für dich bedeutet das, keinen Tropfen Alkohol, keine Mädchen im Haus, kein Gras, kein …«

»Ich glaube, ich habe verstanden.«

»Und für ihn bedeutet das morgens, mittags und abends Zähneputzen, keine Gewaltfilme, keine Reality-Shows im Fernsehen, wenig Süßigkeiten, fünf Portionen Obst und Gemüse am Tag, und um acht Uhr Schlafanzug an und ab ins Bett.«

»Alles klar.«

»Wirklich?«

»Klar wie Kloßbrühe«, antwortete Marcus, was Charly zum Kichern brachte.

Nacheinander schloss Jonathan die beiden noch einmal in die Arme und begab sich in den Eincheckbereich.

Der Flug British Airways nach London hob um ein Uhr ab. Als Jonathan durch das Fenster auf die Startbahn sah, zog sich sein Herz zusammen.

War die Entscheidung, seinen Sohn, den er ohnehin so selten sah, mitten in den Weihnachtsferien im Stich zu lassen, wirklich richtig? Bestimmt nicht. Doch er zwang sich, seine Zweifel zu vertreiben. Jetzt konnte er ohnehin nicht mehr zurück. Er musste verstehen, musste diesem Mysterium auf den Grund gehen – durfte sich nicht mit Erinnerungen und möglichen Verwechslungen zufriedengeben. Nach Madeline war er jetzt an der Reihe, sich mit dem Phantom von Alice Dixon auseinanderzusetzen.

 

 

 

 

Paris

 

George ließ Madeline als Erste in den winzigen Lift einsteigen, drückte auf den Knopf zum fünften Stock und schob seine Zunge in den Mund der jungen Frau. Er legte eine Hand auf ihre Brust, während er mit der anderen versuchte, ihren Rock hochzuschieben.

Madeline spürte Übelkeit in sich aufsteigen, konnte aber den Ekel ignorieren. Sie war im Dienst.

Im Dienst.

Georges Maisonette-Wohnung befand sich in den beiden oberen Etagen des Gebäudes. Das Loft war modern, die Einrichtung minimalistisch, mit einer Note von Industrie-Design. Eine futuristische Metalltreppe verband die beiden Ebenen.

George nahm seinem Gast den Mantel ab und berührte einen Glasschalter, der Musik in Gang setzte.

»Gefällt dir das? Das ist Progressive Trance, gemixt von einem Dänen: Carl Karl, der König der Berliner Szene. Für mich ist er der neue Mozart.«

Und du bist ein saublöder Idiot, dachte Madeline, während sie ihm ihr schönstes Lächeln schenkte.

Jetzt, da sie allein waren, fühlte sie sich zunehmend unwohl, und ihr Herz begann heftig zu schlagen. Sie fürchtete sich ein wenig vor dem, was folgen würde. Einerseits wünschte sie sich, anderswo zu sein, bei Raphael in seiner behaglichen Wohnung. Andererseits aber verspürte sie angesichts der Gefahr eine fiebrige Erregung.

»Soll ich dir einen Pink Pussy Cat mixen?«, schlug sie vor und trat hinter die Bar.

Bei dem Wort Pussy stöhnte Georges genießerisch auf. Er stellte sich hinter seine Eroberung, legte die Hände auf ihre Hüften und ließ sie hinauf zu ihrer Brust gleiten.

»Warte, Liebling, sonst verschütte ich alles!«, sagte sie.

Sie nahm zwei Gläser und füllte sie mit Eiswürfeln.

»Ich habe ein Geschenk für dich«, erklärte er und zog zwei rosafarbene Tabletten, die jeweils mit einem Stern versehen waren, aus der Tasche.

Ecstasy …

Sie nahm eine der beiden und zwinkerte ihm verschwörerisch zu.

»Könntest du nicht das Licht etwas dämpfen?«, fragte sie und tat so, als würde sie das Amphetamin schlucken.

Dieser Trottel wird meinen Plan zerstören.

Schnell schenkte sie Wodka in die beiden Cocktailgläser, goss mit Grapefruitsaft auf und gab ein paar Tropfen Grenadinesirup dazu. Dann nutzte sie einen Moment der Unaufmerksamkeit, um ein paar Tropfen Rohypnol, die oft von Vergewaltigern benutzte Date-Rape-Droge, in Georges Drink zu geben.

»Ex!«, rief sie und reichte ihm seinen Pink Pussy Cat.

George ließ sich nicht lange bitten und leerte sein Glas in einem Zug. Kaum hatte er es abgestellt, drückte er Madeline auf ein schwarz bezogenes Sofa. Seine Hände legten sich um ihren Kopf und zogen ihn hoch, um ihr einen Kuss zu geben, den er wohl für sinnlich hielt. Er presste seine Zunge in ihren Mund, schob ihren Rock bis zum Slip hinauf und knöpfte ihr Oberteil auf, um anschließend an ihren Brüsten zu saugen.

George lag jetzt mit seinem ganzen Gewicht auf ihr, sodass sie kaum Luft bekam. Sein Körper verströmte eine Hitze und einen Geruch, die ihr widerwärtig waren. Sein warmer, salziger Speichel ließ Übelkeit in ihr aufsteigen. Erregt dominierte er sie, biss sie in den Hals und hielt sich offenbar für einen Löwen, der im Begriff war, eine Gazelle zu verschlingen. Sie ließ es mit sich geschehen. Niemand hatte sie gezwungen, zu kommen oder zu bleiben. Sie hätte das Spiel mit einem Wort oder einem Schrei beenden können, aber sie tat es nicht.

Um sich abzulenken, konzentrierte sie sich auf ihre Umgebung, nahm das Geräusch seines Schuhs wahr, der auf den Boden fiel, und den Lichtschein, der die Decke erhellte.

Das Gesicht des Restaurantbesitzers glitt von ihren Brüsten zu ihrem Ohr, um daran zu knabbern.

»Magst du das?«, flüsterte er.

Sie begnügte sich mit einem Stöhnen und spürte seine Erektion an ihrer Hüfte. Mit einer autoritären Geste ergriff George ihre Hand und legte sie auf seinen Penis. Madeline schloss die Augen und spürte einen blutigen Geschmack im Mund.

Suchen. Wissen. Verstehen.

Ermitteln.

Das war ihre Droge, seit sie ihren Beruf begonnen hatte. Sie war Polizistin und würde immer Polizistin bleiben. Das war ihre wahre Natur. Das war in ihr verankert und hatte von ihr Besitz ergriffen wie eine Krankheit.

Georges Hände glitten zu ihrem Bauch und wagten sich dann zwischen ihre Schenkel.

Madeline wandte den Kopf zu dem Spiegel im Salon und sah im Dämmerlicht, dass ihre Augen glänzten. Diese Erregung, dieses Fieber, die Ambiguität der Gewalt, der Drang, die Grenzen zu überschreiten. Diese Feinnervigkeit, die sie seit zwei Jahren unterdrückt hatte, kam zurück wie ein Bumerang. Erinnerungen und altbekannte Gefühle stiegen wieder an die Oberfläche. Diese Sucht nach Gefahr, die Abhängigkeit, die dieser Beruf erzeugen konnte. Wenn sie es mit einem blutigen Verbrechen zu tun gehabt hatte, konnte nichts mit dem Adrenalin der Verbrecherjagd konkurrieren. Weder Urlaub noch Partys, noch nicht einmal Sex. Der Beruf war ihre einzige Leidenschaft, die Ermittlungen wie eine Droge. Wenn sie früher mit einem wichtigen Fall befasst gewesen war, »lebte« sie sozusagen auf dem Revier, sie schlief in ihrem Auto auf dem Parkplatz oder auch schon mal in einer der Arrestzellen. Heute Abend war die Sache anders. Zumindest dem Anschein nach. Es ging nicht um Mord, aber ihr Instinkt befahl ihr, nicht lockerzulassen. Francesca war eine Obsession für sie geworden: Was hatte diese Frau dazu getrieben, willentlich ihre Beziehung und ihre Familie zu zerstören? Für ein solches Verhalten gab es mit Sicherheit ernsthafte Gründe …

Georges Hand wanderte noch eine Weile über ihren Körper, schob sich unter den Stoff ihres Slips und blieb dann schlaff liegen. Als sie spürte, dass der Körper des Mannes auf ihr zusammensackte, befreite sich Madeline und glitt vom Sofa wie eine Taucherin, die es eilig hatte, an die Oberfläche zu gelangen. Benommen von dem Roofie, lag LaTulip auf der Couch. Madeline vergewisserte sich, dass er noch atmete, und hoffte, dass die Wechselwirkung zwischen dem Beruhigungsmittel und dem Ecstasy keine allzu schlimmen Folgen haben würde.

 

 

 

 

23:00 Uhr

 

Keine Zeit verlieren. Den Job erledigen. Sofort.

Madeline ging systematisch vor. In dieser Wohnung verbarg sich ein Geheimnis, dessen war sie sich sicher. Zunächst machte sie die ohrenbetäubende Musik aus, die sie grauenvoll fand, dann schaltete sie alle Lichter ein und begann mit der Durchsuchung.

Die Wohnung war geräumig, aber nur spärlich möbliert. Oder besser gesagt: Alles war an seinem Platz. George war ein ordentlicher Mensch und hatte mit Sicherheit eine Putzfrau. Der Ankleideraum war so groß, wie es sich jede Frau nur erträumen konnte. In den Bücherregalen und in den Schränken herrschte peinliche Ordnung: Sportausrüstung, HiFi-Geräte der jüngsten Generation, Hunderte von DVDs, einige Bildbände … Madeline durchwühlte die Kleidungsstücke, zog alle Schubfächer und Türen auf und inspizierte jeden Winkel. Dieses Know-how vergaß man nicht. Sie wusste nicht wirklich, was sie suchte, wohl aber, dass es etwas zu finden gab. Vielleicht unter den Tonnen von Papieren, die LaTulip in seinen zahlreichen Ordnern aufbewahrte?

Sie überzeugte sich, dass er noch immer bewusstlos war, zog, für den Fall, dass er zu schnell aufwachen würde, ihre Glock aus der Tasche und setzte sich an seinen Schreibtisch, um die Dokumente durchzusehen. Kontoauszüge, Steuerbescheide, Stromrechnungen, Besitzurkunden mobiler und immobiler Güter. Diese »Durchsuchung« dauerte eine Stunde, ergab aber nichts, was sie nicht schon wusste. LaTulip hatte beachtliche Einkünfte als Inhaber seines Restaurants, vor allem aber als Verwalter der DeLillo-Stiftung.

Madeline war wütend, nichts Neues entdeckt zu haben.

Die Zeit verging schnell.

Blieb der silberglänzende Laptop, der auf dem Couchtisch stand. Vorsichtig öffnete Madeline den Deckel. In ihrer Polizeikarriere hatte sie die Möglichkeit gehabt, die Festplatten in ihrer Dienststelle auswerten zu lassen, ihre eigenen Informatikkenntnisse waren somit beschränkt. Glücklicherweise war das Gerät im Stand-by-Modus, sodass sie kein Password eingeben musste. Sie begnügte sich damit, einen schnellen Blick auf die Dateien zu werfen, inspizierte den Ordner »Eigene Bilder«, in dem Unmengen von Tauchfotos gespeichert waren, und kontrollierte den Browserverlauf des Internets. Dann überflog sie den Posteingang, ohne etwas Interessantes zu finden.

Ermittlungen erfordern Hartnäckigkeit.

Also ließ sie sich nicht entmutigen, sondern öffnete Georges E-Mail-Konto, das als IMAP-Protokoll angelegt war. Madeline hatte sich für dieselbe Methode entschieden, um ihre Mails sowohl auf dem Smartphone als auch auf dem Computer einsehen zu können. Man musste kein Fachmann sein, um zu wissen, dass in diesem Fall alle Nachrichten auf dem Server bleiben – selbst die, die der Benutzer gelöscht zu haben glaubt.

Also sah sich Madeline das Archiv an. Es gab Tausende von gesendeten und empfangenen Nachrichten. Mit verschiedenen Suchbefehlen gelang es ihr, die Mails auszusortieren, die sie suchte. Der Beweis, dass sie auf dem richtigen Weg war:

 

 

Von: Francesca DeLillo

An: Georges LaTulip

Betreff: Re:

Datum: 4. Juni 2010 19:47

 

George,

ich bitte Dich, vergiss Deinen Plan, Jonathan in San Francisco aufzusuchen. Wir haben die richtige Entscheidung getroffen. Jetzt ist es zu spät für Gewissensbisse, ich dachte, das hättest Du durch die Zeitungsartikel verstanden …

Vergiss Jonathan und das, was uns widerfahren ist. Lass ihn sich erholen.

Wenn Du ihm die Wahrheit gestehst, bringst Du uns alle drei in eine furchtbare Situation, und Du wirst alles verlieren: Deine Arbeit, Deine Wohnung, Deinen Komfort.

F.

 

 

Die Nachricht war zwar konfus, aber interessant. Doch zwischen den Zeilen gab es sicher etwas zu entdecken. Sie druckte die E-Mail aus und schickte zur Sicherheit eine Kopie an ihre eigene Adresse.

 

 

 

 

1 Uhr nachts

 

Eiskaltes Wasser ins Gesicht, dann Ohrfeigen. George öffnete die Augen in dem Moment, als ihn ein erneuter Schwall Wasser traf.

»Was …«

Er war mit seinen eigenen Krawatten an einen Stuhl im Wohnzimmer gefesselt. Er versuchte, sich zu befreien, aber seine Hände waren hinter dem Rücken zusammengebunden, die Knöchel an den Stuhlbeinen festgezurrt. Zehn Zentimeter vor seinem Gesicht richtete sich drohend der Lauf einer Pistole auf ihn. Er war dieser Frau, die er leichtsinnigerweise mit in seine Wohnung genommen und die ihn gefesselt hatte, vollständig ausgeliefert.

»Ich … ich gebe Ihnen Geld. In der Ankleide ist ein kleiner Safe, da sind mindestens zwanzigtausend Euro drin.«

»Ja, deine Kohle habe ich schon gefunden«, sagte Madeline und warf ihm ein Bündel Scheine ins Gesicht.

»Aber was wollen Sie dann?«

»Die Wahrheit.«

»Die Wahrheit über was?«

»Über das!«

Er senkte den Blick und entdeckte Francescas E-Mail.

»Wer … Wer sind Sie wirklich? Ich dachte, Sie wären Floristin und …«

»Ich bin die Frau, die die Knarre hat, nur das zählt.«

»Ich weiß nicht, was Sie an dieser Sache interessiert, aber ich rate Ihnen …«

»Ich glaube, in deiner Situation solltest du besser keine Ratschläge erteilen. Aber zurück zu der Mail: Warum wolltest du Jonathan Lempereur in San Francisco aufsuchen?«

George, der einem Schwächeanfall nahe war, traten Schweißperlen auf die Stirn. Um ihn zum Sprechen zu bringen, drückte ihm Madeline den Lauf der Waffe an die Schläfe.

»Ich verdanke Jonathan alles«, stieß er hervor. »Er hat mir aus dem Dreck geholfen und mir eine Karriere ermöglicht. Er war jung und voller Energie. Er war wirklich ein einzigartiger Typ: großzügig und in der Lage, die Menschen von ihren Lastern abzubringen und ihre guten Seiten zu entdecken …«

»Und zum Dank hast du ihm die Frau weggeschnappt …«

»Das stimmt nicht«, verteidigte sich George, der zu zittern begann. »Sie werden doch nicht glauben, dass sich Francesca in einen Typen wie mich hätte verlieben können! Sie war verrückt nach ihrem Mann!«

Kalter Schweiß rann ihm übers Gesicht.

»Die beiden waren ein besonderes, ein leidenschaftliches Paar«, fuhr er fort. »Sie bewunderten einander, und jeder wollte den anderen beeindrucken. Sie hatten sich die Aufgaben aufgeteilt, er am Herd und in den Fernsehsendungen, sie im Hintergrund mit der Erweiterung der Firmengruppe beschäftigt. Francesca liebte ihren Mann über alles und wollte seine Küche weltberühmt machen, aber …«

»Aber was?«

»Sie wollte zu schnell expandieren und hat einige Fehlentscheidungen getroffen, die das Unternehmen an den Rand des Ruins gebracht haben.«

George klapperte mit den Zähnen. Unter seinen Augen lagen tiefe dunkle Schatten. Ganz offensichtlich war die Mischung von Ecstasy und Beruhigungsmittel nicht gerade empfehlenswert.

»Die Bilder von dir und Francesca waren also gefälscht, oder?«

»Natürlich! Vor zwei Jahren hat sie mich plötzlich von den Bahamas angerufen. Es war während der Weihnachtsferien. Ich war mit einem Freund zum Tauchen auf den Malediven. Sie war völlig außer sich und sagte, ich müsste am nächsten Tag vor fünfzehn Uhr bei ihr in Nassau sein, es sei dringend. Ich habe versucht, mehr herauszufinden, aber sie hat mir versichert, je weniger ich wüsste, desto besser wäre es für mich.«

»Warum hast du eingewilligt?«

»Francesca war meine Chefin und hat mir nicht wirklich die Wahl gelassen. Ich erinnere mich, es war ein furchtbares Chaos: Die Maschinen waren ausgebucht, ich musste über London fliegen, um rechtzeitig dort zu sein. Ich dachte, einmal an Ort und Stelle, würde sie mir weitere Informationen geben. Aber sie hat nur die Fotos mit einem albernen Paparazzo inszeniert, und dann sind wir zusammen nach Hause geflogen.«

»Und?«

»Bei der Ankunft erwartete uns Jonathan am Flughafen. Ich weiß nicht, wer ihn informiert hatte, aber die Sache ist schlecht gelaufen. Er hat mir einen Kinnhaken verpasst und sich vor allen Leuten furchtbar mit seiner Frau gestritten. Am nächsten Tag hat er die Scheidung und den Verkauf des Unternehmens bekanntgegeben.«

»Und du hast deinem Freund nie die Wahrheit erzählt?«

»Nein. Ich habe mehrmals daran gedacht. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, ich wusste, dass es ihm nicht gut ging und dass er in San Francisco lebte. Ich habe mit Francesca darüber gesprochen, aber jedes Mal hat sie mich davon abgebracht, vor allem da …«

»Vor allem, da du von der DeLillo-Foundation reichlich dafür bezahlt wirst, damit du den Mund hältst.«

»Hören Sie, ich habe nie vorgegeben, ein guter Mensch zu sein«, verteidigte sich George. »Das hat nur Jonathan geglaubt.«

»Und Francesca?«

»Sie lebt noch immer mit ihrem Sohn in New York. Seit dem Tod ihres Vaters kümmert sie sich vorrangig um die Stiftung.«

»Hat sie einen Freund?«

»Das weiß ich nicht. Sie kommt manchmal in Begleitung zu Wohltätigkeitsveranstaltungen oder Theaterpremieren, aber das muss nicht heißen, dass sie eine Beziehung mit diesen Typen hat. Jetzt binden Sie mich endlich los, verdammt noch mal!«

»Schrei nicht so! Was meint sie mit ›ich dachte, das hättest du durch die Zeitungsartikel verstanden …‹?«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung!«

Madeline blieb misstrauisch. Sie hätte wetten können, dass George in diesem Punkt log. Jetzt, da er langsam wieder zu sich kam, wurde er aggressiv.

»Ihnen ist doch wohl klar, dass ich, sobald Sie mich befreit haben, ins nächste Kommissariat gehe und …«

»Das glaube ich nicht.«

»Und warum?«

»Weil ich von der Polizei bin, du Idiot!«

Sie musste sich beruhigen. Sie befand sich in einer prekären Situation. Was sollte sie als Nächstes tun? Ihm den Lauf der Glock in den Mund schieben? Ihm Wasser in die Atemwege schütten, damit er erstickte? Ihm ein Fingerglied abtrennen?

Ein Typ wie Danny hätte George in weniger als fünf Minuten zum Reden gebracht. Aber Danny wäre vermutlich nicht damit einverstanden gewesen, dass sie die Seite wechselte.

Sie nahm ein Küchenmesser und durchtrennte die Fessel, an Georges rechter Hand.

»Den Rest machst du selbst«, sagte sie und verließ die Wohnung.