Kapitel 31

Auf feindlichem Terrain

In der Finsternis jedem sein Schicksal.

Gao Xingjian, Der Berg der Seele

 

 

 

 

Café Peels

Lower East Side

10 Uhr morgens

 

Wie betäubt ließ sich Madeline zurücksinken. Ihr war plötzlich übel. Weder Alice noch Danny waren tot. Und was noch verrückter war: Das Mädchen war die Tochter des Paten von Cheatam Bridge. Aber Jim war tot; und sie selbst hätte sich beinahe umgebracht. Dutzende von Personen hatten Tag und Nacht an dem Fall gearbeitet. Warum? Für wen? Plötzlich zog sie alles in Zweifel. Wer waren die Opfer in dieser Geschichte? Wer die Schuldigen? Sobald sie bei diesem Fall einen Punkt erhellt hatte, war ein neues Geheimnis aufgetaucht und hatte sie auf ein immer gefährlicher werdendes Terrain geführt – das war von Anfang an so gewesen.

Sie hob den Blick und suchte Unterstützung bei Jonathan, doch der hatte die Stirn an die Scheibe gedrückt und starrte beunruhigt auf die Straße.

»Ich glaube, wir werden verfolgt.«

»Machst du Witze?«

»Siehst du den schwarzen Ferrari, der etwas weiter unten parkt?«

»Vor der Galerie des Morrison Hotels?«

»Ja. Ich bin ihm heute Morgen schon zweimal begegnet, zuerst in TriBeCa, dann in Little Italy. Er hat keine Nummernschilder, und ich kann den Fahrer nicht erkennen.«

Madeline kniff die Augen zusammen. Aus dieser Entfernung war es unmöglich, irgendetwas im Inneren des Wagens auszumachen.

»Komm mit«, sagte sie entschlossen.

Noch vor einer Stunde hätte sie sich nicht vorstellen können, dass man sie überwachte, doch nach Jims Tod und ihrer letzten Entdeckung schien ihr alles möglich.

Sie bezahlten ihr Frühstück und verließen das Café, um zu ihrem Wagen zu gehen.

»Lass mich fahren«, sagte Madeline.

Sie setzte sich ans Steuer des Smart und gab Gas.

»Glaubst du, er fährt uns nach? Vielleicht macht uns diese Geschichte nur völlig hysterisch …«

»Du wirst sehen. Ich bin sicher, er schert gleich aus.«

Und tatsächlich verließ der Ferrari die Parklücke und folgte ihnen in zwanzig Metern Abstand.

»Dreh dich nicht um«, befahl sie, »und schnall dich an.«

Der Kleinwagen legte Tempo zu und fuhr die Bowery hinauf Richtung Cooper Square. Plötzlich bremste Madeline abrupt und riss das Steuer nach links, sodass das Auto auf den Mittelstreifen schoss.

»Du bist verrückt!«, rief Jonathan und klammerte sich am Haltegriff fest.

Der Smart landete auf der anderen Straßenseite, sodass er dem Ferrari jetzt entgegenfuhr.

»Sei still und pass auf!«

Als sich die beiden Wagen begegneten, konnte Jonathan kurz die Person am Steuer erkennen.

Es war eine blonde, sehr hübsche Frau mit einer ungewöhnlichen Narbe, die sich vom Augenbrauenbogen quer über die Wange bis zum Mundwinkel erstreckte …

 

 

»Und?«

»Ich kenne sie!«, rief Jonathan aus. »Ich bin sicher, dass es dieselbe Frau ist, der ich begegnet bin, als ich vor zwei Jahren Alice nach Cap d’Antibes begleitet habe!«

»Die, die sich als ihre Mutter ausgegeben hat?«

»Ja.«

Madeline sah in den Rückspiegel. Der Ferrari bog über den Astor Place in westliche Richtung ab. Intuitiv wählte sie die Hudson Street.

»Wenn sie über den Broadway fährt, können wir sie verfolgen, oder?«

»Müsste möglich sein.«

Sie hielten aufmerksam nach dem schwarzen Ferrari Ausschau, und tatsächlich tauchte der markante Kühler des Spiders kurz danach auf.

Das Cabriolet bog in die Spring Street ein. Madeline versuchte, in gebührendem Abstand zu folgen. Doch die Fahrerin des Sportwagens hatte sie offenbar bemerkt, denn sie gab plötzlich Gas und hängte den Smart ab.

»Verdammt, wir verlieren sie!«

Das schien unausweichlich, denn was konnte ein Motor mit 12 PS gegen einen mit 280 PS ausrichten? Doch Madeline ließ sich nicht entmutigen. Um die Spur nicht zu verlieren, fuhr sie über eine rote Ampel.

»Vorsicht!«, rief Jonathan.

Ein Hotdog-Verkäufer hatte seinen Karren auf den Zebrastreifen geschoben. Madeline hupte und wich nach links aus. Der Händler machte einen Satz zurück, während der Smart den Metallkarren streifte, der umstürzte und Würste, Ketchup, Senf, Zwiebeln, Pommes frites und Sauerkraut auf die Straße ergoss.

Der Wagen geriet ins Schleudern und schrammte den Bordstein, doch Madeline hatte ihn gleich wieder unter Kontrolle, trat das Gaspedal durch und raste mit Höchstgeschwindigkeit über die Delancey Street.

 

 

 

 

Inzwischen auf Coney Island …

 

Alice lag wie ein verängstigtes Tier zusammengerollt am Boden und hielt nach der Ratte Ausschau, doch der Nager hatte sich mit Juri aus dem Staub gemacht.

Sie glühte vor Fieber, war schweißnass, das Haar klebte an ihrer Stirn, und eiskalte Schauer liefen ihr über den Rücken. Ihr Körper wurde von Krämpfen geschüttelt, und Übelkeit stieg in ihr auf. Außerdem hatte sie das Gefühl, dass ihre Knöchel und Füße stark angeschwollen waren.

Nach dem »Film« war der Russe gegangen, ohne sie von dem verdammten Rohr loszumachen. All ihren Bitten zum Trotz hatte er ihr nicht genug zu trinken gegeben, sondern sich damit begnügt, ihr Gesicht mit Wasser zu bespritzen. Obwohl sie erschöpft und müde war, wand sich Alice so lange, bis sie den Reißverschluss ihres Sweatshirts mit den Zähnen erreichte, und zog ihn zu.

Bei der geringsten Bewegung wurde ihr schlecht und schwindelig. Sie erbrach grünliche Galle. Sie richtete sich auf, lehnte sich an die Wand und rang nach Luft. Ihr Herz raste und stolperte bisweilen auf beunruhigende Weise. Wie lange würde sie durchhalten? Jetzt konnte sie sich nichts mehr vormachen: Die bohrenden Kopfschmerzen und der furchtbare Druck auf ihrem Magen waren Anzeichen dafür, dass die Hypertension ein Nierenversagen ausgelöst hatte.

Seit Stunden wäre sie gerne auf die zwei Meter entfernte Toilette gegangen, doch diese war viel zu hoch. Schließlich überwand sie alle Scham und erleichterte sich in ihre Unterwäsche. Auf eine Demütigung mehr oder weniger kam es jetzt auch nicht mehr an. Sicher, sie lag in ihrem Erbrochenen und ihrem Urin, aber zumindest war der Druck weg.

Doch diese Atempause war nur von kurzer Dauer, denn schon bald begannen ihre Ohren zu pfeifen. Ihr Blick verschleierte sich, und es war, als würden im ganzen Raum kleine Lichter funkeln. Sie glaubte, ersticken zu müssen, und war dem Delirium nahe. Sie kämpfte gegen die Ohnmacht an, glitt aber dennoch in einen halbkomatösen Zustand ab.

 

 

 

 

Lower East Side

 

»Da ist er!«, rief Jonathan und deutete auf den Ferrari, der auf die Williamsburg Bridge fuhr.

Die vierspurige Hängebrücke, eine zwei Kilometer lange Konstruktion aus Kabeln und Eisengerüsten, die sich über den East River spannte und die Lower East Side mit Brooklyn verband, wurde täglich von zigtausenden Autos benutzt.

»Es ist viel Verkehr, also muss sie den Fuß vom Gas nehmen«, meinte Madeline.

Und tatsächlich verlor der Ferrari an Geschwindigkeit. Madeline war wieder optimistisch. Um den Spider einzuholen, schlängelte sie sich von einer Spur auf die andere.

»Fahr langsamer! Du baust noch einen Unfall!«

Nach der Brücke bog das italienische Cabriolet mit quietschenden Reifen in die erste Ausfahrt.

»Wohin will sie?«, fragte Madeline, die sich in New York nicht gut auskannte.

»Nach Williamsburg.«

Sie erreichten die Bedford Avenue, das Herz des Viertels. Alte Ziegelbauten und moderne Häuser wechselten sich ab. Dieser Stadtteil, der gerade saniert wurde, stand im Kontrast zur »aseptischen« Seite von Manhattan. Klamottengeschäfte, kleine Cafés, Schallplatten- und Bioläden, Antiquariate – all das wirkte authentisch und zugleich avantgardistisch.

Wegen der »ländlichen« Atmosphäre, die hier herrschte – die Geschäfte boten draußen ihre Ware an, Amateurmusiker und Feuerspucker zeigten ihre Künste –, musste der Ferrari sein Tempo verlangsamen.

Madeline und Jonathan folgten ihm jetzt in weniger als zehn Metern Entfernung. Da sie den Smart hinter sich wusste, bog die Fahrerin des Spyder vor dem McCarren-Park links ab. Ehe sie den Fluss erreichten, fuhren sie durch ein Industriegebiet mit Brachland, Lagerhallen und Schuppen, deren Wände mit Graffiti bedeckt waren, die an den Neoexpressionisten Jean-Michel Basquiat erinnerten.

»Das ist eine Sackgasse, die zum Fluss führt!«, rief Jonathan, als sie in eine schmale Straße bogen. »Da kommt sie nicht wieder heraus.«

Der Ferrari hielt auf einen Gebrauchtwagenhandel zu. Das Gebäude führte auf die Kais hinaus, die einen unerwarteten Blick auf die Skyline von Manhattan boten. Der Spyder rollte langsam über den Pier und fuhr dann plötzlich durch das große Eisentor einer der Lagerhallen.

Zwanzig Meter vor der Werkstatt, die den Namen MOCONDO MOTOR CLUB trug, brachte Madeline den Wagen mit einer Vollbremsung zum Stehen.

»Und jetzt?«

»Sie hat uns reingelegt«, meinte Jonathan. »Nicht wir haben sie gejagt, sondern sie uns. Meinst du, wir sollten …«

Er konnte seinen Satz nicht beenden. Das Knirschen von Reifen veranlasste sie, sich umzuwenden. Der riesige Kühler eines Abschleppwagens traf sie mit voller Wucht und schob den Smart in das Maul der offenen Werkstatt. Durch den Aufprall wurden sie nach vorn geschleudert. Madeline hatte ihren Sicherheitsgurt nicht angelegt, doch Jonathans Arm schnellte rechtzeitig vor, um zu verhindern, dass ihr Kopf auf das Lenkrad schlug. Der Abschleppwagen bugsierte das kleine Auto bis tief in die Halle, deren Tore sich hinter ihnen schlossen.

Der Lagerraum war über zweihundert Quadratmeter groß. Etwa fünfzig Wagen waren hier, einer dicht neben dem anderen, geparkt. Jonathan erkannte einen Peugeot 403, doch offenbar war man eher auf große Autos spezialisiert: Ford Gran Torino, Chevrolet Camaro, Plymouth Barracuda …

»Nichts passiert?«, fragte er Madeline und sah sie besorgt an.

Sie halfen sich gegenseitig aus dem Smart, der jetzt eher einer Skulptur des Bildhauers César als einem Auto glich.

Neben ihrem Ferrari stand die Frau mit der Narbe und hob eine Waffe in ihre Richtung.

»Agentin Blythe Blake vom United States Marshals Service«, rief sie. »Hände hoch!«

United States Marshals Service? Eine Vollzugsbeamtin des Justizministeriums der Vereinigten Staaten …

Jonathan und Madeline wechselten verblüfft einen Blick. Die Frau war eine Polizistin!

Dann sahen sie sich nach dem Abschleppwagen um, aus dem ein Mann sprang.

In Drillichhosen und Militärjacke kam Danny Doyle auf sie zu.

»Hallo, Maddie, weißt du eigentlich, dass du noch immer den knackigsten Hintern von allen Floristinnen in ganz Paris hast?«