14.
KAPITEL
Clarence
Da ich die Verabredung selbst getroffen hatte, stimmte Nathan schließlich zu, dass ich Clarence aufsuchen sollte und nicht Cyrus. Den würde der Butler wahrscheinlich sofort versuchen umzubringen, sollte er nur einen Fuß auf das Grundstück setzen.
„Oder dich, was das angeht“, drängte ich weiter, „denn Clarence mag keine Vampire.“
Nathan lächelte über meine letzte Bemerkung. „Komisch, wie seine Karriere immer wieder mit ihnen zusammenhängt, oder?“
Ich hatte das Gefühl, dass es viel zu einfach gewesen war, Nathan von dem „Ich gehe hin und du bleibst hier“ zu überzeugen. Und ich fragte mich, ob er mir immer noch böse war und hoffte, Dahlia würde mich wirklich töten. Oder ich fragte mich, ob er immer noch wütend auf Cyrus war, und was er ihm antun würde, sobald ich aus dem Haus war.
Er spürte meine Zweifel, und das verletzte ihn anscheinend. „Du bist mein Zögling. Glaubst du, ich würde dir so etwas antun?“
Ohne nachzudenken, gab ich kurz zurück: „Heute Morgen hättest du es getan.“
Wir verabschiedeten uns nicht gerade herzlich, indem Nathan vorgab, mir nicht mehr böse zu sein und ich so tat, als wäre nichts vorgefallen. Dennoch versicherte er mir, dass er Cyrus nichts antun würde, während ich fort war. Allein diese Worte trösteten mich ein wenig, während ich mich auf den Weg zu Cyrus’ ehemaligem Anwesen machte.
Ich weigerte mich, mir vorzustellen, dass es jetzt Dahlias Haus war. Als ich zum ersten Mal das Herrenhaus betrat, war es Cyrus’ Domizil gewesen, und er war mein Schöpfer. Damals wollte er, dass ich es auch als mein Zuhause akzeptierte, obwohl ich mich nie sonderlich wohl in den herrschaftlichen Sälen gefühlt hatte, die von zahllosen Bodyguards bewacht wurden. Also musste ich zugeben, dass es ein Schock war, als ich Clarence am hinteren Tor traf und keinen einzigen schwarz gekleideten Mann mit Funksprechgerät und kritischem Blick antraf. Clarence drehte sich um und sah hinter sich, als er bemerkte, dass ich nach Hinweisen auf eine Falle Ausschau hielt. Er schüttelte den Kopf. „Sie hat das Wachpersonal ausgesaugt. Oder rausgeschmissen. Aber die meisten hat sie ausgesaugt. Allerdings darf ich im ehemaligen Quartier der Bodyguards wohnen. Da habe ich mehr Platz als im Haus, und ich kann ihr für einige Minuten aus dem Weg gehen, wenn ich will.“
„Sie behandelt Sie gut?“, fragte ich, als ich mit ihm den Weg zum Haus hinaufging.
Clarence hielt an und sah mich an, als wolle er sagen „Diese blöden Vampire“. „Natürlich behandelt sie mich gut. Sie gibt mir einen Platz zum Wohnen. Und sie hat mir einige Tage frei gegeben. Nicht nur einen freien Tag im Jahr, wie es Ihr alter Herr getan hat.“
Mein alter Herr. Ich kicherte, als ich daran dachte, wie sich Cyrus mir gegenüber wie ein Vater hätte verhalten sollen. Aber ich erinnerte mich daran, dass mich keine schöne Aufgabe hierhergeführt hatte, und wurde wieder ernst. „Wenn sie so toll ist, warum helfen Sie mir dann, ins Haus einzubrechen?“
Clarence schnaubte verächtlich und hüllte sich in nobles Schweigen, was seine Würde unterstrich, als trüge er eine Rüstung, die ihn vor meinen skurrilen Anschuldigungen schützte.
„Was Sie hier heute Abend vorhaben, schadet ihr nicht. Es schadet nur dem großen Alten. Und ihn schätze ich nicht sehr.“
„Also, was passiert hier? Haben Sie Dahlia weggeschickt, damit ich ein wenig herumschnüffeln kann, oder was?“
Inständig bat er mich, leise zu reden. „Ich habe ihr Drogen gegeben, aber ich weiß nicht, ob sie schon wirken. Sie ist gegen die meisten Sachen immun.“
„Versuchen Sie häufiger, sie zu vergiften?“ Clarence mochte Cyrus definitiv nicht, aber soweit ich wusste, hatte er nie versucht, ihn umzubringen. Und wenn er Dahlia so sehr mochte, dann würde er nicht versuchen, sie zu töten.
Er schüttelte den Kopf und sah plötzlich traurig aus. „Nein. Aber sie hat versucht, sich umzubringen. Es ist eine Schande, sie ist kein schlechtes Mädchen. Gut, sie war nie ein Unschuldslamm, aber niemand sollte den Wunsch haben, sich selbst das Leben zu nehmen.“
Dahlia hatte einen Selbstmordversuch hinter sich? Ich war überrascht. „Nun, wie finden wir heraus, ob das Mittel wirkt oder nicht?“
„Das werden Sie feststellen, sobald Sie in ihrem Zimmer sind und Dahlia nicht auf Sie losgeht.“
Wir waren an der Terrasse angelangt, und ich ertappte mich dabei, wie ich schuldbewusst auf die Steine sah und nach Blutspuren suchte, die Ziggy in der Nacht, in der er getötet wurde, hinterlassen hatte. Zwar war ich schon vorher wieder in diesem Haus gewesen, aber da hatte ich mich als großzügiges Menschenopfer gesehen, das bereit war, für einen guten Zweck zu sterben, sodass ich nicht auf die Steine geachtet hatte. Zu meiner Erleichterung – und seltsamerweise auch zu meiner Enttäuschung – waren sie sauber, und ich wartete geduldig, bis Clarence die französischen Türen zum Foyer öffnete.
Ich fragte mich, ob Dahlia das Haus anders eingerichtet hatte, seitdem Cyrus fort war. Doch vieles war unverändert, außer dass nun Topfpflanzen, Bistro-Tische und Stühle in der Eingangshalle standen. Die Tür zur Bibliothek war geschlossen, aber für eine Sekunde hatte ich den seltsamen Wunsch, dorthinzueilen, sie aufzustoßen, um dahinter Cyrus zu finden … den alten Cyrus, der dort auf mich wartete.
„Sie ist oben“, sagte Clarence. Er hatte wohl meinen Blick zur Bibliothek gesehen und korrigierte so meine vermeintliche Vermutung, dass sich Dahlia dort befinde. Er deutete auf die geschwungene Treppe. Vom Foyer konnte ich sehen, dass es im ersten Stock dunkel war. „Sie kennen ja den Weg.“
Ich ging die Treppe hinauf. Clarence machte keine Anstalten, mir zu folgen. Je weiter ich kam, desto höher schlug mir das Herz bis hinauf in die Kehle. Nie wieder war ich in den Zimmern gewesen, in denen ich zusammen mit Cyrus gelebt hatte. Wo wir zusammen schliefen – nein, miteinander Sex gehabt hatten. Wenigstens das musste ich auseinanderhalten. Wo ich um Ziggys Leben gefeilscht hatte. Irgendwie sehnte ich mich nach dieser Zeit zurück. Ich weiß nicht, warum. Als ich dort gelebt hatte, war es für mich die Hölle gewesen. Aber mein Leben war seitdem nicht unbedingt besser geworden, und ich stellte mit Erschrecken fest, dass ich vielleicht damals Cyrus mehr geliebt hatte, als ich nun Nathan liebte.
Allerdings blieb mir nicht viel Zeit, mir Gedanken über meine Beziehungsprobleme zu machen. Die riesige Flügeltür, die zu Cyrus’ Zimmern führte, lauerte vor mir. Als ich an meinen ehemaligen Gemächern vorbeiging, kribbelte es mich in den Fingern, eine Klinke hinunterzudrücken. Schließlich gönnte ich mir dieses Vergnügen. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass wahrscheinlich alle meine Sachen weggeschafft worden waren, aber ich musste es mir ansehen. Nur für einen Moment.
Ich hatte nichts in den Zimmern verändert, die ich damals von Dahlia übernommen hatte. Daher war ich nicht überrascht, sie genauso vorzufinden, wie ich sie hinterlassen hatte. Darüber hinaus vermittelte ein dünner Staubfilm auf allen Oberflächen den Eindruck, dass sie eine Weile nicht mehr bewohnt gewesen waren.
Still schlich ich um die Möbel im Salon. Dort stand das Sofa, auf dem Ziggy geschlafen hatte. Der Stuhl, den Cyrus in einem Wutanfall auf mich geworfen hatte, stand ebenso da.
Und dort war auch noch die Tapetentür, durch die er mich beobachtete und in mein Reich eingedrungen war. Die Mulde in der Ecke existierte noch, aber jetzt war ein kleiner Riegel angebracht worden. Ich fragte mich, ob das geschehen war, nachdem ich fort und Dahlia wieder an die Macht gekommen war, so kurz sie auch nur angedauert haben mochte.
Aus dem Fenster spähte ich auf das rostige unbenutzte Tor, wo ich Nathan getroffen hatte, um Ziggys Befreiung zu planen. Ich hatte einen Kloß im Hals. Ich hätte alles darum gegeben, um wieder mit ihm zusammen zu sein, weg von Cyrus. Warum war ich jetzt innerlich so zerrissen?
Die Erinnerungen an meine Gefangenschaft – meine freiwillige Gefangenschaft – holten mich ein. Die Erniedrigung, die ich durch Cyrus’ Hände erfahren hatte, die Macht, die er über mich ausübte, sodass ich mich entgegen meiner Vernunft verhielt. Das alles hatte ich ihm vergeben und es aktiv aus meinem Gedächtnis verbannt. Aber die Erinnerungen würden nie aus meinem Herzen gelöscht. Gott, für wie selbstverständlich ich Nathan ansah, seitdem er mich befreit hatte.
Die Tür zu meinem alten Schlafzimmer war verschlossen. Ich stieß sie auf, schlich mich hinein und ging hinüber zu dem Mammut-Bett. Mit einem Stoß gelang es mir, den Rahmen zu verschieben, und dann hörte ich das unmissverständliche Geräusch von Papier, das hin und her rutschte. Ich fingerte blind in dem Spalt herum, bis ich gefunden hatte, wonach ich suchte. Die Zeichnung, die Nathan von mir gemacht hatte, die, die ich bei mir trug, als ich ihn für Cyrus verließ.
Das Blatt war so unversehrt wie an dem Tag, als ich es versteckt hatte. Ich faltete es auseinander und sah mir die Frau an, die Nathan gesehen hatte, als sie in seinem Laden stand. Es war keineswegs naturgetreu. Zum einen trug ich meine Haare so gut wie nie offen. Und meine Augen waren auch nicht so groß und unschuldig, wie er sie gezeichnet hatte. Und ich war jetzt älter. Sicher, nicht körperlich, aber manchmal, wie in diesem Moment, wäre ich gern in eine Zeitmaschine gestiegen und zurückgegangen, um meinem jüngeren Ebenbild eine ordentliche Ohrfeige zu verpassen.
Natürlich basierte dieser Wunsch auf der Annahme, dass ich etwas gelernt hatte. In sechs weiteren Monaten, würde ich da auch zu diesem Moment zurückkehren wollen, um mich zu ohrfeigen?
Die Uhr im Salon schlug, und ich erinnerte mich daran, dass ich nicht hergekommen war, um meine alten Zimmer zu besichtigen. Es waren auch nicht mehr meine Zimmer, und es war nicht mehr Cyrus’ Haus. Aber ich hatte etwas zu erledigen.
Ich schritt zur Wand, öffnete den Riegel – wie sie auf die Idee gekommen war, dass so eine winzige Konstruktion Cyrus fernhalten sollte, war mir schleierhaft – und schlüpfte durch die Geheimtür.
Der Vorraum war der einzige Teil von Cyrus’ Räumen, in dem ich je gewesen war, außer seinem Schlafzimmer. Ich war mir sicher, dass es noch mehr verborgene Tü ren ge ben muss te. Allerdings hatte ich sie nie gesehen oder wusste nicht, wohin sie führten. Mein Verdacht wurde nur dadurch geweckt, dass sowohl die Wachen als auch Clarence offensichtlich so mühelos und schnell herbeieilen konnten. Die Tür zum Schlafzimmer stand offen, also ging ich leise hinein.
Ich hatte erwartet, dass ich stärker auf den Anblick des Bettes reagieren würde, in dem Cyrus und ich unsere intimen Stunden miteinander verbracht hatten. Damals wusste ich es nicht, aber in diesen Momenten ließ er alle Vorsichtsmaßnahmen beiseite. Als er mich fragte, ob ich ihn liebte, öffnete er sich, obwohl er in der Vergangenheit oft verletzt worden war. Kein Wunder, dass meine Ablehnung ihn so verzweifeln ließ.
Dennoch hielt ich nicht geschockt inne oder brach zusammen, als ich wieder in diesem Zimmer stand, das mich zuvor so oft eingeschüchtert und erregt hatte. Zuerst einmal sah es anders aus. Die Wände waren immer noch weiß, der Teppich derselbe elfenbeinfarbene, aber Dahlia hatte Poster aufgehängt. Und es schien, als habe sie ein Importwarenlager mit gruftig aussehenden Wandleuchtern ausgeräumt. Für meinen bescheidenen ängstlichen Geschmack wirkte der Raum so extrem wie eine Feuersbrunst. Aber wenn Dahlia Lust hatte, in einer Todesfalle zu schlafen, dann durfte ich mich darüber nicht beschweren.
Dahlia lag auf dem Bett. Sie sah aus, als hätte sie sich fertig gemacht, um auszugehen. Auf dem Nachttisch stand ein Glas mit einem blutigen Bodensatz, dahinter befand sich eine Baumskulptur aus Eisen, an deren gewundenen Ästen über ein Dutzend Ketten, Nietenhalsbänder und Samtbänder hingen. Ich hob das Glas und schnupperte daran. Welche Droge Clarence auch immer verwendet hatte, um sie bewusstlos zu machen, schlauerweise wählte er eine, die keinen Geruch verströmte.
Aufgrund ihres leichten Atmens wusste ich, dass Dahlia tatsächlich schlief. Ich nahm an, dass sie in dem Zustand war, in dem ich sie haben wollte. Aber was zur Hölle sollte ich jetzt mit ihr anstellen?
Ich lief im Zimmer auf und ab, vom Kamin zum Schreibtisch. Ich dachte daran, wie Cyrus in der Nacht dort gesessen hatte, als ich zu ihm gekommen war. Auf dem Tisch stand nun Dahlias Laptop, die vergoldete Schreibtischunterlage darunter war ebenfalls verstaubt. Ich zog einen Brieföffner heraus und wischte ihn an meinem Hemd ab, obwohl ich mir nicht so ganz sicher war, was ich damit wollte, bis mein Blick auf das leere Glas auf dem Nachttisch fiel.
Wenn ich Cyrus’ und Nathans Vergangenheit in ihrem Blut sehen konnte, galt das auch für Dahlia? Oder funktionierte es nur, wenn Blutsbande bestanden? Ich nahm an, dass jetzt die ideale Gelegenheit war, es herauszufinden.
Ich wollte nicht direkt von ihr trinken. Das wäre zu seltsam gewesen, wenn ich bedachte, dass sie der erste Mensch war, von dem ich sowieso je getrunken hatte, und überhaupt – schließlich waren wir ja Feinde. Außerdem war es damals, als ich es das erste Mal bei ihr versucht hatte, für mich nicht so gut gelaufen. Einen derartigen Reinfall wollte ich vermeiden und entschied mich für einige Stichwunden.
Ich wischte das Glas mit meinem Hemdzipfel aus und hoffte, dass der Rest im Glas zu wenig Gift enthielt, um auch mich zu betäuben. Dann rollte ich die Gummiarmreifen an Dahlias Handgelenk zurück. Ich holte tief Luft, schloss die Augen und stieß die Spitze des Brieföffners in ihren Arm.
Blut quoll in einem Strahl hervor, und während ich würgte, musste ich mir einige Spritzer aus meinem Gesicht wischen. Ich schaffte es, den Strahl auf das Glas zu lenken. Als sich einige Schlucke darin gesammelt hatten, stellte ich es wieder hin. Ich riss einen Stoffstreifen vom Laken und band es um ihre Wunde.
Als ich das Glas an meine Lippen hob, nahm ich den Duft ihres Blutes wahr. Er hatte sich verändert. So wie sie sich von einem Menschen zu einem Vampir verändert hatte, so roch auch das Blut. Aber unter dem schalen, toten Duft von Vampirblut roch ich noch etwas, das ich von der ersten Nacht her kannte. Die Nacht, in der ich von ihr getrunken hatte. Das erste Mal vergisst man nie.
Schnell schluckte ich das Blut hinunter und konzentrierte mich auf seinen Geschmack, weil ich die Erinnerungen, die vielleicht in seinen Zellen schlummerten, aufnehmen wollte. Der Raum drehte sich um mich, als wäre ich betrunken, und ich fiel zu Boden. Nur mein Kopf ruhte auf der Matratze und rollte hin und her. Langsam verschwamm mir alles vor den Augen, und ein ansteigender Lärm dröhnte in meinen Ohren. Dahlias Erinnerungen flossen in mein Bewusstsein, ohne dass ich etwas dazu beitragen musste.
War das etwas, das allen Vampiren passierte? Menschliches Blut hatte nicht diese Wirkung auf mich, jedenfalls eher selten. Dasselbe war geschehen, als ich von Ziggy getrunken hatte, aber damals hatte er versucht, mit mir zu kommunizieren. War Dahlia ausreichend bei Bewusstsein, um jetzt mein Gehirn zu beeinflussen?
Ich war zu involviert in die Bilder, die durch meinen Kopf rauschten, um noch weiter darüber nachzudenken. Dahlias Gedanken drehten sich zumeist um Cyrus. Das überraschte mich nicht. Ein lauter voller Klub mit zuckenden Körpern – der Klub, in dem ich Dahlia kennengelernt hatte? – wogte um mich herum. Ich hörte das monotone Pumpen elektronischer Musik. Die Menge teilte sich wie in einer Filmszene – vielleicht beeinflusste Dahlia diese Vision –, und dann sah sie Cyrus am anderen Ende des Raumes.
Es war das erste Mal, dass sie ihn sah. Und sie begehrte ihn auf den ersten Blick. Gezielt ging sie auf ihn zu, und als er sie bemerkte, zeigte sein Gesicht einen Ausdruck, den ich von ihm kannte. Hunger und perverse Lust. Er begehrte sie ebenfalls.
Seltsamerweise machte es mich eifersüchtig, zu wissen, dass er solche Gefühle für sie gehegt hatte. Ich wollte glauben, dass sie mehr für ihn empfand als er für sie. Aber es gab keinen Zweifel darüber, was er vorhatte, als er ihre Hand an seine Lippen führte.
„Ich heiße Cyrus. Und du …?“, fragte er, und sie musste sich anstrengen, ihn in dem lauten Raum zu verstehen, denn er sprach nicht lauter als normal.
„Ich gehe heute mit dir nach Hause“, gab sie frech zurück. Dann spulten meine Gedanken vor, ins Auto, wo Dahlia auf Cyrus’ Schoß saß, während er ihren Kopf nach hinten zog, um ihr in den Hals zu beißen, aber nicht um von ihr zu trinken, sondern um sie zu erregen. Dann ging es weiter in seinen Gemächern, wo er sie auf das Bett warf und ihr sein wahres Gesicht zeigte. Sie hatte Angst vor ihm, aber sie ließ es sich nicht anmerken, und das gefiel ihm. Darum hatte er sie nicht getötet, wie er es mit all den anderen Mädchen getan hatte. Darum, und durch die Art, wie er sie biss, während er mit ihr schlief, gelang es ihr, seine Gedanken zu beeinflussen und ihm klarzumachen, über welche Kräfte sie verfügte. Wenn es eine Sache gab, der Cyrus in seinem alten Leben nicht widerstehen konnte, dann war es Macht.
Ich verlor das Zeitgefühl, als ich zusah, wie sich ihr Leben von diesem Punkt an entwickelte. Es war, als sähe man einen Film mit einem defekten Projektor an. Manchmal bewegten sich die Bilder zu schnell, um sie verstehen zu können, manchmal so langsam, als würden sie Gefahr laufen zu verbrennen.
Dennoch hatte ich keine Angst. Ich hatte das Gefühl, ich könnte mich jederzeit zurückziehen, obwohl ich keine Kontrolle darüber besaß, was ich sah oder hörte.
Dann erkannte ich Max, der in dem Salon stand, in dem ich früher gewohnt hatte. Ich erschrak. Das musste in der Nacht gewesen sein, als wir herkamen, um Cyrus zu töten. Ich wusste, dass er in Dahlias Zimmer geführt worden war. Aber warum sollte sie sich an ihn erinnern können? Das war schon vor Monaten gewesen, und wie ich mitbekam, war Dahlia damals auf Cyrus fixiert.
Die Wachen, die ihn die Treppe hinaufbugsiert hatten, schoben ihn durch die Tür und warfen sie hinter Max zu. Typisch Max strahlte er sie an, obwohl seine Arme hinter seinem Rücken zusammengebunden waren und er seinem Feind hilflos ausgeliefert war.
Dahlia würdigte ihn nur eines kurzen Blickes. Dann drehte sie sich wieder zu dem um, was sie gerade tat: Auf ihrem Tisch standen ein Mörser und ein Stößel, ein Bunsenbrenner sowie ein Reagenzglas und ein riesiges ledergebundenes Buch, das handgeschrieben war. Sie nahm eine Karaffe mit Blut zu ihrer Rechten und schenkte ein Glas ein. Dann nahm sie das Reagenzglas von der Glasflamme und mischte dessen Inhalt mit dem Blut. Der Geruch von verbrannten Nelken stach mir in die Nase, und mir drehte sich der Magen um. Ich hatte Angst.
Ohne viel Aufhebens nahm Dahlia ein Messer zur Hand – ein Opferdolch, wie sie gern sagte – und ging auf Max zu. Sie zerschnitt den Kabelbinder, mit dem seine Hände gefesselt waren, und gab ihm das Glas. „Trink.“
„Genau, Süße. Ich habe mich nicht wirklich darauf gefreut, heute Nacht in eine Kröte verwandelt zu werden.“ Er versuchte, ihr das Glas zurückzugeben. „Ich meine … Ich bin sicher, dass du toll kochen kannst und so weiter, aber …“
„Trink jetzt, oder ich töte dich.“ Sie ging zu ihrem Buch zurück, aber ich konnte nicht lesen, was darin stand, bevor sie es zuschlug. „Ich wollte es für Cyrus aufsparen, aber anscheinend hat er kein Interesse daran, diese Sache voranzubringen.“
„Die Sache …?“, begann Max, wurde aber von Dahlia unterbrochen.
„Trink das, oder ich bringe dich um.“ Sie wandte sich zu ihm um und beobachtete ihn dabei, wie er das Glas austrank. Dann ging sie auf ihn zu und legte ihre Arme um seinen Hals. Er wich ein wenig zurück, aber sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. „Jetzt fick mich.“
Max gehorchte ihr nur zu gern, und auch Dahlia schien sich nicht zu langweilen. Ich musste unbedingt ein ernstes Wörtchen mit ihm reden, wenn ich ihn das nächste Mal sah. Davon hatte er weder Nathan noch mir irgendetwas erzählt. Normalerweise waren mir Details aus Max’ Liebesleben egal, aber Dahlia war unsere Feindin. Er hätte es uns wenigstens erzählen müssen, dass er mit ihr ins Bett gegangen war.
Als sie fertig waren – Gott sei Dank übersprang ihr Gedächtnis diesen Teil – befahl sie ihm, sich wieder anzuziehen, und schob ihn aus der Tür. In meinen Ohren machte sich wieder dieses Rauschen breit, und ich sah nichts mehr von dem, was vor sich ging. Dann befand ich mich wieder in Dahlias Schlafzimmer. Ich lag immer noch auf dem Boden und hatte einen schlimmen Kater.
„Hast du alles gesehen, was du wolltest?“
Die Stimme erschreckte mich so sehr, dass ich mich aufsetzte, obwohl mein Kopf höllisch wehtat. Dahlia starrte mich böse an. Drohend kniff sie die Augen zusammen, aber sie bewegte sich nicht. „Raus hier.“
„Erzähl mir, was ‚die Sache‘ ist, dann überlege ich es mir.“ Ich holte den Pflock, den ich zur Sicherheit mitgenommen hatte, aus meiner Tasche.
„Ich werde dir gar nichts erzählen.“ Sogar ihre Stimme klang sehr müde. „Ich will, dass du jetzt gehst.“
„Versuchst du, mich hinauszuwerfen? Du scheinst nicht in der Verfassung zu sein, mich loszuwerden.“ Ich krabbelte auf ihr Bett und platzierte die Spitze des Pflocks auf ihrem Herzen. Ich legte Wert darauf, dass sie sie durch ihre Kleidung hindurch spüren konnte. „Was ist ‚die Sache‘?“
Sie kniff die Augen weiter zusammen. „Verpiss dich.“
„Du lässt mir wirklich keine andere Wahl.“ Ich hob den Pflock, als wollte ich ihn durch ihr Herz rammen, während ich hoffte, sie würde ihre Meinung ändern und mir sagen, was ich wissen wollte.
Ich hätte sie besser kennen sollen. Sie starrte mich nur an, während ich den Holzstab über meinen Kopf hielt. Dann spürte ich etwas in meinem Rücken. Als ich mich umdrehte, stand Clarence hinter mir und richtete eine Armbrust auf mich.
Ich ließ den Pflock sinken. „Clarence, was tun Sie hier?“
„Es tut mir leid, Miss. Aber ich darf nicht zulassen, dass Sie Dahlia töten.“ Er hielt die Pfeilspitze auf meine Brust gerichtet, um mir zu signalisieren, dass er es ernst meinte. „Ich glaube, Sie sollten jetzt besser gehen.“
„Moment, Moment.“ Ich schüttelte den Kopf. „Dahlia weiß, dass Sie ihr Medikamente gegeben haben und dass Sie mit mir zusammenarbeiten. Sie wird Sie umbringen, sobald sie wieder bei Sinnen ist.“
Hinter mir fing Dahlia an zu lachen. „Das werde ich wohl tun.“
„Sie kann mich nicht töten“, stellte Clarence fest, und es klang, als glaubte er wirklich daran.
„Denken Sie darüber nach, was Sie tun. Sie ist ein Vampir.“ Ich hob meine Hände und sah zwischen dem Pfeil und seinem Gesicht hin und her. „Und außerdem können Sie mich nicht töten, denn ich habe kein Herz in meiner Brust.“
Clarence schüttelte den Kopf. „Oh, ich kann Sie zwar nicht sofort töten, aber ich kann Sie so lange ausschalten, bis ich den Kamin so weit habe, dass ich Sie hineinwerfen kann.“
„Überzeugt.“ Ich sah Dahlia an, dann Clarence. „Gut. Ich gehe.“
„Sie kennen ja den Weg“, sagte er. „Ich will Sie hier nicht mehr sehen.“
„Nein.“ Im Türrahmen hielt ich inne. „Warum schützen Sie Dahlia?“
„Weil ich zum Haus gehöre. Und sie besser ist als einige, denen ich bisher gedient habe.“ Er nickte zur Tür. „Wie zum Beispiel der ehemalige Herr und sein Vater.“
Der Souleater? Ich wollte noch mehr Fragen stellen, aber er ließ die Armbrust sinken und wandte sich an seine Herrin, um sich um sie zu kümmern. Ich wollte ihn nicht noch mehr verärgern, als ich es schon getan hatte, also ging ich.
Wie alt genau war Clarence? Und wie lange hatte er schon in diesem Haus gedient? Ich weiß, dass er seltsamerweise sehr daran hing. Jedenfalls mochte er es so sehr, dass er seinen Vampir-Arbeitgebern nicht davonlief, auch wenn es sich anbot. Er gab mir ein Rätsel auf, das ich wahrscheinlich nie würde lösen können.
Auf dem Weg durch die Eingangshalle hielt ich einen Moment inne. Die Türen zur Bibliothek waren geschlossen, aber ich wusste, dass sie nicht verriegelt sein würden. Ich weiß nicht, warum ich mir so sicher war, aber ich ging automatisch auf die Flügeltür zu und stieß sie auf.
Vielleicht hatte ich noch ein wenig von Dahlias Blut in meinem Körper, vielleicht waren es auch meine Erinnerungen, vielleicht war es aber auch nur mein Instinkt, denn als ich die Tür öffnete, fiel mein erster Blick auf die Stelle, an der ich Cyrus getötet hatte. Mich überholte der Schmerz und die Traurigkeit von jener Nacht wie eine Welle, so, als sei seitdem keine Zeit vergangen. Ich hatte ihn geküsst und ihm einen Dolch ins Herz gerammt. Wie hatte ich so etwas tun können? Es waren die Blutsbande, die jetzt diesen Schmerz verursachten. Damals wusste ich, warum ich es tun musste. Heute war ich darüber erschüttert.
Ich zwang mich, woandershin zu schauen, und da lag es. Auf dem Ledersofa neben einer Cosmopolitan-Zeitschrift. Es war ausgerechnet das ledergebundene Buch, das Dahlia in der Nacht gelesen hatte, in der sie Max das geheimnisvolle Elixier zu trinken gab.
Ich sah über meine Schulter. Clarence musste immer noch oben sein. Ich presste das Buch an mich, schaute mich noch ein letztes Mal im Raum um und rannte durch die Eingangshalle hinaus.
Ich hörte nicht auf zu laufen, bis ich auf der Straße angekommen war, dann klappte ich keuchend zusammen. Ich schob das Buch unter mein Hemd und hielt es den ganzen Weg bis zur Wohnung gut fest, denn ich war mir sicher, sobald ich mich umdrehte, würde Clarence vor mir stehen und mich umbringen, schließlich hatte ich seine Herrin bestohlen.
Aber genauso sicher war ich mir, dass ich in diesem Buch das fehlende Puzzleteilchen finden würde, das ich brauchte, damit alle anderen zusammenpassten.