21. KAPITEL

Vom Regen …

Endlich kamen sie und holten sie. Max hatte keine Ahnung, wie spät es war. Seit dem Unfall schien die Zeit schneller zu vergehen als sonst.

Als die Tür aufging, schreckte Bella aus dem Schlaf auf. Verwirrt verzog sie das Gesicht. Dann schien sie ihre Umgebung wiederzuerkennen und erschrak. „Nein!“

„He, hör damit auf!“, warnte er. „Bin ich jemals zuvor gestorben?“

Wirklich, es würde schlimm genug sein, gefoltert zu werden, ohne sich daran zu erinnern, wie sie schluchzte und heulte, als sie ihn aus dem Zimmer schleppten. Er hätte sich lieber an das Bild der eiskalten Schlampe Bella erinnert, die sich über ihn lustig machte, weil er Angst hatte, während sie ihm weiß der Himmel was antaten.

„Guten Morgen, guten Morgen“, witzelte eine Stimme vor der Tür. Ein Vampir kam herein und trug ein freches Grinsen zur Schau.

Dieses Lächeln ging normalerweise einem blutigen schrecklichen Tod für den, der lächelte, voraus. Das sah ja immer besser aus.

Hinter ihm traten zwei weitere Vampire ein, beide trugen Armbrüste. Sie hatten Pflöcke in den Holstern an ihren Hüften, als wollten sie ihre Waffenkünste üben. Beide schienen von ihrer Arbeit gelangweilt zu sein – ein sicheres Zeichen, dass sie zu viel Selbstvertrauen hatten.

Bella bemerkte das auch und reagierte blitzschnell. Ihre Verzweiflung verwandelte sich sofort in hartherzige Entschiedenheit. Sie bewegte die Lippen: „Der Rechte zuerst“, dann küsste sie Max und rollte beiseite.

Der Rechte. Er war ein nervöser Typ, der ungefähr zwei Zentimeter kleiner war als Max. Es juckte ihm schon in den Fingern, den Abzug zu drücken und Max einen Pfeil ins Herz zu bohren. Er würde ein Problem darstellen. Die Neuen.

Der Erste, der hereingekommen war, löste Max’ Fesseln. „Steh auf.“

Dann begleitete er ihn zur Tür, ein wenig ruppiger als nötig. Oh ja, er bettelte darum, sterben zu dürfen.

„Ich liebe dich, Baby“, rief Max und drehte sich um. Er schaute Bella ein letztes Mal an, als sie ihn aus dem Raum stießen.

Einer von ihnen blieb zurück. Das verwirrte Max ein wenig. Er wollte Bella nicht mit einem Vampir alleine lassen, wenn er sie nicht beschützen konnte.

„Was machst du?“, hörte er sie fragen.

Max gefiel die Antwort nicht. „Du musst dich fertig machen. Das Orakel möchte, dass du für die Veranstaltung vernünftig aussiehst.“

Toll. Max hatte geplant, sich gleich hier im Flur freizukämpfen, zurückzugehen, Bella zu holen und dann zu verschwinden. Aber jetzt würde es schwieriger werden. Er verwarf den Plan. Er würde nicht ohne Bella gehen, und sicherlich würde er keine Kettenreaktion der Sicherheitskräfte hervorrufen, wenn er keine Ahnung hatte, wo sie sich aufhielt oder wie er an sie herankommen konnte.

Die Vampire führten ihn durch eine Reihe von Fluren und einige Treppenabsätze hinauf. Bella und Max hatten sich in einem Keller befunden – einem riesigen alten Gewölbe mit Bogendecken und Stützpfeilern, die es in einem Durchschnittshaus in der Vorstadt nicht gab. Als sie ins Erdgeschoss kamen, war die Luft von Tageslicht durchflutet. Max konnte das Licht nicht direkt sehen, aber er roch den Morgenduft in der Luft, und er hatte das Gefühl, seine Haut säße ihm zu knapp am Körper.

Sie brachten ihn in einen großen Raum im dritten Stock, der sich in der Mitte des Gebäudes befand, wenn er seinen Aufenthaltsort richtig einschätzte. Unter seinen bloßen Füßen spürte er den kalten Marmorfußboden. Als sie ihn festbanden, hatten sie ihm wohl die Schuhe weggenommen. Die dunkle Täfelung der Wände erstreckte sich bis hoch zur Decke, die ebenfalls gewölbt und mit fetten hässlichen Engeln dekoriert war. Max hatte das Gefühl, dass die lächelnden Cherubim und Seraphime nicht nur den Gestaltungswillen des Besitzers demonstrierten, sondern in ihrem Harfenspiel innehielten, um auf ihn herabzuschauen.

Wenn es so war, dann würde er sie mit noch größerem Vergnügen töten.

Die Fenster waren hinter zur Täfelung passenden Holzläden verborgen. Sie waren riesig, also war die Wahrscheinlichkeit, dass die Vampire sie öffnen würden, gering, es sei denn, sie planten demnächst ein großes Grillfest. Das abgedeckte runde Oberlicht in der Mitte der Decke beunruhigte ihn allerdings. Insbesondere, da von dem Schließmechanismus ein Seil herabhing.

Von der Decke hing ein weiteres Seil herunter, das über eine Seilwinde geschlungen war und an dessen Ende lederne Manschetten wie von Stulpenhandschuhen hingen. Mr. Rotzfrech und das nervöse Hemd banden Max mit den Ledermanschetten fest und zogen das Seil hoch, bis er auf den Zehenspitzen stand.

„Ich hätte nicht gedacht, Jungs, dass ihr auf so etwas steht“, witzelte er durch die zusammengepressten Zähne, während seine Schultern ausgerenkt wurden. Sie hatten ihn jetzt in eine ziemlich unschöne Situation gebracht.

„Was hast du gerade zu mir gesagt?“, fragte der eine und zog Max vorne am T-Shirt. Seine Füße verloren den Halt, und er pendelte am Seil. Max schloss die Augen, um den sich drehenden Raum nicht sehen zu müssen. Mr. Rotzfrech lachte. „Doch nicht so ein harter Kerl, was?“

Das nervöse Hemd lachte mit ihm, aber hysterisch. Dazu hatte er allen Grund. Bevor Max dieses Haus verließ, würde er beide fertigmachen.

„Verschwindet.“

Dieser leise Befehl zog die Aufmerksamkeit der drei Vampire auf sich, und bei seiner nächsten Umdrehung reckte Max den Hals, um zu sehen, wer gesprochen hatte.

Anne ging langsam durch die Flügeltüren, die einem gebogenen Tor glichen. Sie hatte den Federmantel ausgezogen, aber ihre Haare sahen noch genauso aus. Sie hatte die dicken Korkenzieherlocken so straff nach hinten frisiert, dass ihr Gesicht so wirkte, als würde es jeden Moment abfallen. Max streckte seine Beine und versuchte, mit den Zehen auf dem glatten Marmor Halt zu finden. Es gelang ihm, anzuhalten, aber es strengte seine Unterschenkel ungemein an.

„Sieht das nicht gemütlich aus?“ Anne beobachtete ihn, während sie um ihn herumging. Die Schnallen an ihren hohen Springerstiefeln klapperten bei jedem Schritt. Einen Augenblick lang musterte sie ihn mit undurchschaubarem Blick, dann lächelte sie ihn mit demselben mädchenhaften Ausdruck an, mit dem sie ihn in der Zentrale der Bewegung immer begrüßt hatte. „Max.“

„Schutzengel.“ Er versuchte zu nicken, aber es funktionierte nicht, da seine Arme zu weit über seinem Kopf ausgestreckt waren. „Also, was liegt hier an? Zieht ihr mich hoch, und befiehlst du dann den Idioten, mich so lange herumzudrehen, bis ich mich zu Tode kotze?“

Sie lachte hemmungslos und dumm wie ein ewiger Teenager. „Du bist schon immer lustig gewesen.“

„Offensichtlich hat mein Humor nicht ausgereicht, um mir den Arsch zu retten.“ Er richtete sich auf, jeder Muskel in seinen Armen schmerzte, sodass er schreien wollte. „Vielleicht wollt ihr mich ein wenig herunterlassen? Ich bin schon groß genug.“

„Wenn ich mit dir hier fertig bin, dann wirst du so groß wie ein Haufen Asche sein. Das Orakel wird mir erlauben, dich zu töten.“ Ihr Ton legte nahe, dass er davon sehr beeindruckt sein oder sich zumindest mit ihr freuen sollte.

„Na, warum ziehst du dann nicht an der Leine und bringst es einfach hinter dich?“ Es war ein Risiko, aber Max war sich zu neunundneunzig Prozent sicher, dass sie es nicht tun würde. Noch nicht. „Ich interessiere mich nicht für überflüssigen Small Talk.“

„Ach ja, richtig. Als würde ich mich davon beeindrucken lassen.“ Sie gab einen herzhaften Seufzer von sich. „Nicht, dass ich es nicht gewohnt wäre, dass die Leute mich unterschätzen.“

Heul doch, Schlampe. „Na, deshalb warst du eine so gute Vampirjägerin. Niemand hätte dir das zugetraut. Scheiße, ich hätte auch nicht gedacht, dass du mir ins Gesicht lügst, um mir anschließend in den Rücken zu fallen.“

„Ich bin gut, oder?“ Ihr Gesicht hellte sich auf, weil sie sich über seine Anerkennung freute. „Die Leute haben es nie verstanden! Sie denken, bloß weil ich jung aussehe, hätte ich nicht die Erfahrung oder den Grips, so eine Sache durchzuziehen. Nicht, dass ich dich herunterlassen würde, bloß weil du mir jetzt Honig um den Bart schmierst. Aber danke dafür, dass du es irgendwie begriffen hast.“

„Wie es scheint, lerne ich mit meinem Alter. Wie zum Beispiel, dass ich von meinen vermeintlichen Freunden aufs Kreuz gelegt werde.“ Er zerrte am Seil. Kunststoff. Es dehnte sich ein wenig. Jetzt konnte er die Fußballen auf den Boden stellen. Und sie war so von ihrem eigenen Drama gefesselt, dass sie es nicht bemerkte.

„Und das Orakel hat es auch begriffen.“ Anne drehte sich um und ging zu einem langen Tisch, der an einer Seite des Raumes stand. „Sie sagt, das sei eine meiner Stärken.“

Mit einem Ruck deckte Anne das Leinentuch ab, das über dem Tisch ausgebreitet lag. Darunter befanden sich eine Auswahl an Waffen, Brenneisen, elektrische Werkzeuge und OP-Bestecke.

Lass sie weiterreden, Harrison. Sorge dafür, dass sie weiterplappert, oder dein schlimmster Besuch beim Zahnarzt wird von dem, was hier noch kommen wird, grauenhaft übertroffen. Er drehte die Handgelenke in den Manschetten, aber sie blieben stramm. Diese verdammten Verrückten, die auf Fesselspielchen standen, und ihre ausbruchssichere Fetisch-Ausrüstung. „Also, was hat sie eigentlich vor? Ich meine, arbeitet sie mit dem Souleater zusammen oder was?“

„Ach, bitte!“ Anne schnaufte, als sie lachte. „Glaubst du, ich hätte noch nie einen James-Bond-Film gesehen? Ja, genau. Ich erzähle dir jetzt alle meine Geheimnisse.“

„Der einzige Grund, dass die Bösen von James Bond so dumm waren, ihre Geheimnisse auszuplaudern, lag darin, dass Bond immer entkommen konnte.“ Max zog zur Illustration an den Seilen. „Nicht, dass ich irgendwohin gehen werde.“

Sie neigte den Kopf und dachte nach. „Ja, okay.“

Während sie einen kabellosen Bohrer wieder hinlegte, unterdrückte Max ein Seufzen und zupfte noch einmal unauffällig an den Leinen. Er brauchte nur noch ein wenig mehr Spiel …

Aber außerdem musste er aus ihr herausbringen, was sie wusste.

„Was weißt du denn bisher?“ Müde sah sie ihn an.

An dieser Stelle wäre es nützlich, so zu tun, als sei er desinteressiert. Er musste so tun, als sei er kaum daran interessiert, was für ihn von größter Wichtigkeit war. Aber er durfte auch nicht so cool wirken, dass sie glaubte, ihre Zeit mit ihm zu verschwenden, und dann mit der Folter begann. „Nicht viel. Warum erzählst du mir nicht das Wichtigste? Dann vergeht die Zeit schneller.“

„Genau. Du willst mich doch nur davon abhalten, dass ich dir etwas einritze.“ Sie verdrehte die Augen. „Gut. Wusstest du, dass der Souleater so etwas wie ein Gott werden will?“

„Ja, das war das, was uns deine Chefin gesagt hat. Genau in dem Moment, bevor sie dir das Rückgrat brach? Weißt du noch?“ Höhnisch sah er sie an.

Anne gefiel diese Erinnerung offensichtlich gar nicht. „Ja, ich erinnere mich. Also, willst du jetzt den Rest der Geschichte hören oder nicht?“

Max neigte den Kopf. „Erzähl weiter.“

„Okay.“ Nach einer dramatischen Pause fuhr sie fort. „Na, du weißt, dass sie, na irgendwie die Bewegung gesprengt hat? Sie hat mir das alles erzählt, während ich mich einen Monat lang von meinem gebrochenen Rückgrat erholte. Ich konnte ihre Stimme in meinem Kopf hören. Also, sie befreite mich, und ich half ihr, ein paar Leute aus der Bewegung abzuwerben. Und nun bin ich, irgendwie, ihre rechte Hand.“

„Das ist toll, aber deine Lebensgeschichte interessiert mich hier nicht so richtig. Das meiste habe ich mir schon selbst zusammengereimt.“

Schon wieder verdrehte sie die Augen. „Ich mach ja schon. Egal, während der ganzen Zeit, in der ich im Koma liege, höre ich also, wie der Souleater versucht, ein Gott zu werden. Sie versucht, ihn mitzuziehen, und lässt ihn in dem Glauben, dass sie ihm hilft, während sie, also, ihre eigenen Ziele verfolgt.“

Überraschung, Überraschung. „Und diese Ziele beinhalten was?“

„Chaos.“ Anne lachte. „Oh mein Gott, habe ich dir schon erzählt, was ich über die Bewegung gedacht habe?“

„Offensichtlich hast du nicht zu große Stücke von ihr gehalten.“ Max bewegte noch einmal seine Hände. Als ihr scharfer Blick auf seine Handgelenke fiel, schüttelte er den Kopf. „Ich versuche nur, mir es ein bisschen bequemer zu machen. Also, die Bewegung hat dich so genervt, dass es dir lieber ist, das Orakel übernimmt die Herrschaft über den Planeten Erde?“

„Okay. Zuerst war ich die bestbezahlte Vampirjägerin auf ihrer Gehaltsliste, und am Ende war ich ihre Empfangsdame. Ein Job in irgendeinem Vorzimmer? Um so etwas Dummes zu machen, da hätte ich auch gleich ein Mensch bleiben können.“

Sie machte eine Pause. „Weißt du, wenn ich, also, zehn Jahrhunderte später geboren worden wäre. Aber der Punkt ist, dass sie mir gesagt haben, die Haftung zu übernehmen, wenn Vampirjäger nicht mehr arbeiten könnten. Ich ahnte ja nicht, dass das hieß, zur Sekretärin heruntergestuft zu werden.“

„Also, du wirst ihr helfen, die Welt zu zerstören, weil du mit deiner Rentenregelung unglücklich bist?“ Max lachte. „Genau. Nein. Du bist viel erwachsener, als du aussiehst.“

„Ach, halt die Klappe. Du bist so selbstgerecht und alles, nur weil du nicht den ganzen Tag Formulare für die Raumverteilung und Blutabgaben ausfüllen musst.“ Sie verschränkte die Arme und schmollte. „Als ob es irgendeine Rolle spielt, egal. Ich bin nicht blöd. Ich weiß, einige von uns werden, sobald sie etwas Macht bekommt, dumm genug sein, bei ihr zu bleiben. Die Schlauen, so wie ich, werden sich verziehen.“

„Und du glaubst nicht, dass sie dich finden wird?“ Da hätten wir es. Die verzweifelte Suche nach Freiheit. Er hoffte, dass sie nicht zu sehr daran hing. „Hör mal zu. Du kannst jetzt damit aufhören. Es gibt Leute aus der Bewegung, die gegen euch arbeiten, und ihr werdet verlieren. Aber wenn du dafür sorgst, dass ich hier rauskomme, wenn du Bella hier herausschaffst, dann …“

„Ach, das ist ja niedlich“, schnaufte Anne verächtlich. „Du willst deine fragwürdige Freundin vor dem sicheren Tod retten, und du glaubst, du kannst mich einschüchtern, damit ich davor zurückschrecke, sie umzubringen. Genau. Aber das wird nicht funktionieren. Ich habe einen Safe voller Geld, der auf mich wartet, und einen Teil dieses Geldes bekomme ich nur, wenn meine neue Chefin dein uneheliches Kind in den Händen hält.“

Max schluckte seine Wut hinunter. Es würde ihm nichts nützen, wenn er sich aus diesen Fesseln befreien könnte. Dann würde sie diesen kleinen Dialog beenden und ihn aufschlitzen wie einen Kürbis zu Halloween. „Genau das ist der Teil dieser Geschichte, den ich nicht begreife. Hatte sie nur darauf gewartet, dass jemand das möglich gemacht hat? Ich meine, ich will ja nicht prahlen, aber Vampire schwängern nicht jeden Tag eine Mieze.“

„Bilde dir nicht ein, dass du viel dazu beigetragen hast.“ Anne verzog angewidert das Gesicht. „Zum einen hätte es deine kleine blonde Freundin sein sollen, die Dame mit den hässlichen Schuhen, die du vor einigen Monaten hergeschleppt hast, um das Orakel zu treffen. Und als das nichts wurde, dachte die Hexe, sie probiert es mal mit dir. Und dann war alles wieder zurück im Planungsstadium, weil wir nicht mehr glaubten, dass es jemals passieren würde. Mit ‚wir‘ meine ich das Orakel und den Souleater. Schon eine ganze Weile haben die beiden jetzt zusammengearbeitet, und die Bewegung ahnte nichts davon! Egal, sie brauchte nur einen geborenen Vampir, um ihre Prophezeiung zu erfüllen. Aber ein natürlich gezeugter Lupin? Ich meine, wow! Kann man sich einen glücklicheren Zufall wünschen?“

Max schloss die Augen. Natürlich. Die Nacht mit Dahlia. Er konnte den Trank fast wieder schmecken – ganz süß und heiß war er in seinem Mund gewesen. „Genau. Ihr Glückspilze.“

„Und sobald das Orakel das Baby bekommt, wird es versuchen, den Souleater hierher zu locken, um es trockenzulegen und seine Seele zu fressen. Und wenn er hier ankommt – zack. Dann gibt es keinen Souleater mehr.“ Anne rieb die Handflächen aneinander, als wären sie bereits von der Asche des alten Vampirs schmutzig geworden.

„Und das Baby?“ Max gab sich keine Mühe, seinen Plan zu verbergen, als er an dem Seil zog. Mit einer starken Bewegung rutschten die Fesseln auf geheimnisvolle Weise einige Millimeter herunter. „Was wollt ihr mit dem Baby machen?“

Anne bemerkte seine Bemühungen und lächelte gelangweilt. „Ach, keine Sorge. Sie wird ihr nichts antun. Sie wird sie wie eine Tochter großziehen. Und hör auf, herumzuzappeln, da kommst du niemals raus.“

Sie drehte sich um, augenscheinlich war sie das Spielchen leid. „Eigentlich wollte ich warten, bis sie deine Freundin hergebracht haben, damit sie zusehen kann, aber so gemein bin ich doch nicht. Du bist früher immerhin auf meiner Seite gewesen. Ich verletze dich nur ein bisschen, sodass nur ein paar kleine Spuren bleiben.“

„Toll, danke.“ Wieder zerrte er an seinen Fesseln, umso motivierter, als er sah, dass sie einen Seitenschneider vom Tisch nahm.

Anne kehrte zu ihm zurück und beobachtete seine zuckenden Hände. Sie hielt das Werkzeug hoch. „Sollen wir?“

Das Herrenhaus des Souleaters – ich hörte auf, es als Cyrus’ Haus zu betrachten – war so angsteinflößend, wie ich es in Erinnerung hatte. Natürlich fürchtete ich mich aus naheliegenden Gründen jetzt noch mehr. Vorher, als ich hergekommen war, um Dahlias Blut zu stehlen, hatte ich Angst vor meiner Vergangenheit gehabt. Meine aktuellen Befürchtungen bezogen sich auf die Gegenwart und die nahe Zukunft.

Wir hockten neben der rückwärtigen Mauer. Ich hatte das Grundstück und das Haus nie aus diesem Winkel betrachtet, und ich bezweifelte, dass Menschen es jemals getan hatten. Auch nicht diejenigen, die das riesige Grundstück besaßen, in das wir eingedrungen waren, um an unseren Zielort zu gelangen. Wir schlichen uns an einem Nachtwächter vorbei, über einen dunklen Rasen, an Tennisplätzen und einem Swimmingpool vorbei, bis wir die zerfallene Backsteinmauer gefunden hatten, die einen normal aussehenden Gartenschuppen von dem Wachhaus trennte, das zum Haus des Souleaters gehörte.

Jetzt verstand ich, warum das Anwesen so isoliert gewesen war. Obwohl das Haus sichtbar war, konnte man keine Menschen ausmachen. Wir sahen Schatten, die an den Fenstern vorbeigingen, aber wir konnten nicht sagen, was sie dort taten. Weder Stimmen noch Geräusche drangen zu uns vor. Dichte Hecken, die das Haus umgaben, dämpften jeden Laut, bevor wir ihn wahrnehmen konnten – Hecken, die zu einem Labyrinth geformt waren.

„Wir gehen alle durch das Labyrinth“, ordnete Cyrus neben mir an. „Ich weiß, wie man auf die andere Seite kommt, Nolen und ich können uns dort leicht verstecken, bis du zurückkommst.“

„Aber wie wird sie uns finden?“, zischte Nathan durch die Dunkelheit. „Wir brauchen einen Treffpunkt.“

Ich hob meine Hand. Das war nicht der richtige Moment, um zu streiten. „Ich werde mir den Weg merken. Wir treffen uns dort, wo er aufhört. Falls es Ärger gibt oder uns jemand entdeckt, dann kümmert sich jeder um sich selbst, okay?“

„Nein!“, flüsterten die beiden zugleich.

Ich bat sie, leiser zu sein. „Wollt ihr, dass euch jemand hört? Hört mal zu, ich kann auf mich selbst aufpassen. Ich werde unsichtbar sein. Über euch mache ich mir Sorgen.“

„Ich gehe nicht weg, wenn du Schwierigkeiten hast. Das ist zu viel verlangt!“ Nathan schüttelte vehement den Kopf. „Das mache ich nicht.“

„Hört mir zu!“ Ich nahm seine Hand und drückte sie. „Ich habe Blutsbande zu euch beiden. So könnt ihr meinen Weg verfolgen. Wenn etwas passiert und ihr mich verliert oder ich nicht mit euch kommunizieren kann, dann wisst ihr, dass es zu spät ist. Versprecht mir, falls ihr mich nicht mehr hören könnt, lauft ihr weg!“

Trotz der Dunkelheit, die uns umgab, konnte man den Schmerz in Nathans Augen sehen. Er nickte kurz zustimmend.

„Dann lass uns los!“, sagte Cyrus leise und bewegte sich auf die Mauer zu. „Carrie, ich hebe dich hoch.“

Wir fanden eine Stelle, an der die Mauer oben ein wenig eingestürzt war und wo es nicht so schwierig war, hinüberzuklettern. Auf der anderen Seite hinunterzukommen war vielleicht eine ganz andere Sache, also bereitete ich mich seelisch darauf vor, während mir Cyrus seine verschränkten Hände hinhielt.

Carrie!

Ich sah in sein Gesicht, das er mir zugewandt hatte. Seine Gesichtszüge stachen scharf im Mondlicht hervor. Er sah verzweifelt aus. Ich berührte seine Wange. „He, wir sind nicht bei der Feuerwehr. Hilf mir hoch.“

Es war kein Todessprung, der mich auf der anderen Seite erwartete. Im Gegenteil, die Mauer schien sogar auf unserer Seite höher gewesen zu sein. Nach der Landung blieb ich am Boden und krabbelte zu einem nahen Baum, um mich darunter zu verstecken. Er würde keinen großen Schutz für mich darstellen, aber es war schön, etwas zwischen mir und dem Wachhäuschen zu haben.

Cyrus kam mir nach, dann Nathan. Ich winkte beide zu mir, aber Cyrus schüttelte den Kopf und deutete auf das Labyrinth. Offensichtlich hatten wir seiner Meinung nach alles ausreichend geplant.

Als ich mit Cyrus zusammen in diesem Haus gelebt hatte, war ich nie ins Labyrinth gegangen. Ich hatte gesehen, wie die Fangs in den Hecken verschwunden waren. Ich hatte Dahlia gesehen, wie sie hineinrannte und versuchte, den Vampiren zu entkommen, die sie auf der Neujahrsparty verfolgten. Aber ich traute mich nie. Vor Labyrinthen hatte ich schon immer Angst gehabt. Mir ist es unangenehm, nicht zu wissen, wie man wieder zurückkommt. Auch heute Nacht war es nicht anders, nur drohte uns noch der Tod dazu.

Ich folgte Cyrus, Nathan war nahe hinter mir. Als Kind hatte ich die Regel gelernt, dass man in Labyrinthen immer links gehen sollte. Nun sah ich, dass diese Regel nicht unfehlbar war. Wir wandten uns nach links und rechts, gingen um Ecken, folgten Kurven, engen Pfaden und weiten runden Plätzen.

„Wie kannst du dir das merken?“, fragte ich, da ich mich in der abgeschlossenen Dunkelheit sicher genug fühlte, um lauter zu sprechen.

„Schh!“, flüsterte Cyrus mit Nachdruck. „Es können Wachen hier sein. Dieser Weg wird von ihnen häufiger gekreuzt.“

„Es gibt keine Wachen mehr. Dahlia hat sie alle aufgefressen.“ Ich wünschte, ich hätte das nicht gesagt. An Leute zu denken, die verspeist werden, machte meine Zuversicht zunichte, die ich mir aufgebaut hatte, nachdem ich die Mauer hinabgesprungen war. „Aber wie kannst du dir den Weg merken?“

„Übung. Außerdem Konzentration und Geduld. All das, worin ich nicht mehr besonders gut bin“, sagte er abgelenkt. „Sie hat sie getötet? Alle? Ich mochte einige von ihnen.“

Der Weg schien mir kurz, bis ich den Schutz des Labyrinths verlassen musste. Ich hatte den engen verwirrenden Raum gefürchtet, aber nun hatte ich noch mehr Angst vor dem Haus auf dem Hügel.

„Okay, hast du den Stein?“

Ich hielt meine Hand auf. Nathan zog ein Ledersäckchen aus seiner Tasche. Seltsamerweise blieb Leder von dem Zauber unberührt. Das hatten wir entdeckt, als Nathan, aber nicht seine Uhr verschwunden war, während wir mit dem Stein arbeiteten. Er öffnete die kleine Tasche und ließ das Amulett in meine Hand fallen.

„Du bist bereit“, sagte er leise. „Sei vorsichtig, Carrie.“

„Bin ich.“ Ich konnte schon spüren, wie ich verschwand. „Ich gehe jetzt.“

Sie sahen mir zu, wie ich den Hügel hinaufging, auch wenn sie mich nicht richtig erkennen konnten. Das wusste ich, weil ich auf halbem Weg stehen blieb und mich nach ihnen umdrehte. Es hatte etwas Voyeuristisches an sich, sie dabei zu beobachten, wie sie mich beobachteten, und sie wussten nicht, dass ich es tat. Sie standen nebeneinander vor dem Labyrinth. Man konnte sie dort viel zu deutlich sehen. Eigentlich hätten sie es besser wissen sollen, aber ich wollte meine Deckung nicht aufgeben und zu ihnen herüberrufen. In Nathans Gesicht waren durch den Stress und die scharfen Schatten, die das Labyrinth warf, sein Schmerz und seine Angst deutlicher zu sehen, als ich sie je zuvor wahrgenommen hatte. Denn er hatte sich mir und sich selbst eingestanden, dass er mich liebte. Deshalb dachte er, ich sei zum Untergang verurteilt.

Dasselbe galt für Cyrus. Wie ähnlich sie sich waren! Sie dachten beide, dass ihre Liebe mich töten würde. Wie ähnlich sie waren und wie egoistisch.

Geh weiter, Liebes, ließ mich Nathan durch die Blutsbande wissen.

Ich drehte mich um, dass er mich gehört hatte, machte mir ein leicht schlechtes Gewissen. Außerdem wunderte ich mich über sein Wissen darüber, dass ich stehen geblieben war. Ich begab mich weiter auf den langen Weg zum Herrenhaus und kam dem Souleater immer näher.