17. KAPITEL

Mutter

„Das ist unmöglich“, beharrte Nathan und schüttelte den Kopf. „Falls Bella schwanger sein sollte, dann würde das Kind doch …“

„Ein Lupin sein.“ Cyrus schüttelte ebenfalls den Kopf. „Aber das hatte sie gar nicht vor. Dahlia wollte selbst schwanger werden, sonst hätte sie das Mittel nicht an mir ausprobiert.“

„Ein Lupin ist nur ein Werwolf, der sich an Technologie und nicht an Zauberei orientiert.“ Nathans Definition klang nicht so überzeugend, wie es früher einmal der Fall gewesen wäre.

„Das ist das, was ich eurer geschätzten Bewegung weismachen will. Die Wölfe wissen es besser. Unter Wölfen ist Lupin nur ein beschönigender Begriff für einen Vampir, der von einem Werwolf gebissen wurde, oder für einen Werwolf, der mit einem Vampir Blut ausgetauscht hat. Sie behalten entweder alle Merkmale beider Spezies oder nur einige wichtige Charakteristika.“ Cyrus gab sich keine Mühe, sein Grinsen zu verbergen. „Unsere Seite weiß das schon seit Jahren.“

Immer noch wütend griff ich nach dem Buch. „Wie lange hat Dahlia daran gearbeitet?“

„Das weißt du so gut wie ich. Ich erinnere mich daran, dass ich verschiedene Zaubertränke zu mir genommen habe, aber eigentlich hat sie mir ständig irgendetwas gegeben.“ Er wollte mir nicht ins Gesicht sehen. „Aus verschiedenen Gründen, die … mit Sex zu tun haben.“

„Und du hast dich nie gefragt, was da drin ist?“, fragte Nathan mit verschränkten Armen und ungläubigem Blick.

Cyrus sah uns verschämt an. „Nein. Die ersten Male habe ich mich das natürlich schon gefragt. Aber es waren immer Kräutermischungen. Um den Akt zu unterstützen. Sie hat sie auch genommen, also nahm ich an, dass nichts dabei wäre.“

Nathan schnaubte. „Du weißt, was beim Annehmen herauskommt. Es sorgt dafür, dass …“

„Das hilft uns jetzt nicht weiter“, fuhr ich dazwischen. Ich spürte, wie mir schlecht wurde. Ich versuchte zu schlucken. Erinnerungen daran, wie ich zum ersten Mal mit Cyrus geschlafen hatte, fielen mir ein. Es war intensiv gewesen, gewalttätig, abwegig … Und ich hatte keinen Zweifel, dass er Dahlia genauso behandelt hatte. Sie hatte diese ekelhaften Dinge getan, um ein Kind zu bekommen?

„Warum sollte sie sich ein Baby wünschen? Dachte sie, du würdest sie dann verwandeln? Und dass du wegen eines Kindes mit ihr zusammen bleiben würdest?“ Nathan fragte das nicht, sondern warf die Ideen eher in den Raum.

„Na, es ist ja offensichtlich, dass sie dachte, dass ein Wesen, das von Natur aus ein Vampir ist, etwas mit der Waffen-Prophezeiung des Orakels zu tun hat.“ Ich versuchte mir vorzustellen, wozu das Baby zu gebrauchen wäre.

„Oder es ist die Waffe.“ Nathans Worte machten meine Visionen deutlicher. Er hob das Buch hoch und schaute sich kurz die aufgeschlagene Seite an. „Obwohl ich es für unwahrscheinlich halte, dass sie all das in der Zeit zwischen dem Vampir-Neujahr und dem Zeitpunkt, an dem wir dich getötet haben, erreichen konnte. Ich wünschte, sie hätte ihre Notizen mit einem Datum versehen.“

„Nein, sie hat nicht erst nach dem Vampir-Neujahr angefangen. Deshalb verstehe ich ja nicht, was sie eigentlich vorhatte. Aber den Trank gab sie mir ja schon am ersten Abend, den wir zusammen verbracht haben.“ Cyrus bemerkte zu spät, was seine Worte bei mir auslösten.

Ich ging hinüber ins Wohnzimmer und rang nach Luft. Ich hörte, wie Nathan etwas murmelte, und dann, wie ein Stuhl über den Boden geschoben wurde. Aber es war Cyrus, der mir nachkam und dann unsicher hinter mir stand. „Carrie?“

„Lass!“ Wütend ging ich den Flur hinunter und überlegte mir, was ich ihm am liebsten an den Kopf geworfen hätte. Die Tatsache, dass sein kleiner „Liebling“ versucht hatte, mir eine Entscheidung über meinen Nachwuchs abzunehmen, meine Freiheit, mich fortzupflanzen – obgleich ich gar nicht wusste, dass ich diese Freiheit hatte –, stand ganz oben auf meiner Liste. Wie konnte er sich das nicht gedacht haben? Sie hatte ihm gegenüber nie ihre Pläne verheimlicht. Weder ihm noch anderen gegenüber. Wie konnte er es also nicht gewusst haben? Und was wäre mit dem Kind gewesen, das wir vielleicht gezeugt hätten?

Eine noch schrecklichere Möglichkeit – außer dass wir ein Kind zusammen hätten und ich Mutter geworden wäre – zerriss mir das Herz. Was für ein Kind wäre es geworden? Ein unheiliges Monster? Wie sein Vater? Hätte ich meine ganze Menschlichkeit verloren, wenn ich es beschützt und versorgt hätte?

Immerhin versuchte Cyrus nicht, mich alleine zu lassen. Er folgte mir in mein Zimmer und setzte sich ans Fußende meines Bettes, nachdem ich mich daraufgeworfen hatte. Als er mich ansah, hatte er zwei Blutspuren im Gesicht, die von seinen Tränen herrührten. „Ich wusste das nicht, Carrie. Ich schwöre es dir, ich habe es nicht gewusst.“

Er zog seine Beine an und schloss die Tür. Wir saßen im Dunkeln. Er ließ das Licht aus.

„Wie konntest du das nicht wissen?“ Aber das war es nicht, was ich von ihm wissen wollte, und er wusste es auch.

„Du meinst: ‚Wie konntest du ihre Zaubertränke nehmen?‘“ Seine Stimme war belegt, so erregt war er. „‚Wie konnte Dahlia etwas tun, von dem du nichts wusstest, obwohl du doch die Person warst, die ihr am nächsten stand? War sie dir egal? Hast du dich nicht für sie interessiert, außer, was sie für dich tun konnte?‘ Ich wünschte, ich könnte dir sagen, dass ich gezwungen worden bin. Aber das stimmt nicht. Ich habe das getrunken, was sie mir gegeben hat. Wie ein gewöhnlicher Drogenabhängiger. Ich kann auch nicht lügen und dir erzählen, dass ich es nicht gewusst habe oder dass ich sie mochte oder dass ich ihr nur eine einzige Frage gestellt habe, die mehr war als nur ein Vorschlag. Ich weiß noch nicht einmal, wie sie mit Nachnamen heißt.“

„Aber wie konntest du das tun?“ Ich hasste es, wie meine Stimme zitterte, als ich die Worte herausschrie. Ich hörte mich an wie eine Siebzehnjährige, die sich von ihrem Freund trennt. „Wie konntest du sie so behandeln?“

„Ich weiß es nicht. Ich schäme mich. Nicht, weil du es hören willst, sondern weil ich mich wirklich schäme. Und du weißt, dass ich mich seitdem verändert habe. Aber ich kann die Vergangenheit nicht ändern, auch wenn ich es noch so gerne täte.“

Wir saßen lange schweigend da. Ich maß die Sekunden, indem ich seine Herzschläge zählte, die sich in dem stillen Raum so laut anhörten wie meine eigenen.

„Es wäre ein hübsches Kind geworden“, sagte er schließlich. „Wir zwei sind nicht unattraktiv.“

Ich lächelte, obwohl mir der Schmerz das Herz zerriss. „Ein Vampirbaby zu stillen wäre vielleicht etwas problematisch geworden.“

Er lachte in sich hinein, dann schwieg er wieder.

„Warum hat sie das getan?“, fragte ich, obwohl ich schon wusste, wie die Antwort lauten würde.

„Weil mein Vater sie darum gebeten hat.“ Cyrus klang kläglich, trostlos. „Daran habe ich keinen Zweifel.“

„Aber sie hat es noch vor dem Vampir-Neujahr getan“, erinnerte ich ihn.

Traurig schüttelte er den Kopf. „Es würde mich nicht wundern, wenn mein Vater es arrangiert hat, dass wir uns überhaupt über den Weg laufen. Er verfügt über diese Macht. Er kann jeden zu allem zwingen.“

Das stimmte. Cyrus hatte sich so verzweifelt um die Liebe und die Zuneigung des Souleaters bemüht, dass er sogar seinen eigenen Bruder tötete, um zum Zögling seines Vaters zu werden. Er hatte seine eigene Zufriedenheit und seine Menschlichkeit dafür geopfert. Cyrus hatte sogar zugegeben, dass er Jacob Seymour seine Seele überlassen würde, wenn er es von ihm verlangt hätte. Ich hatte den Souleater gesehen. Es lag sicherlich nicht an seinem Aussehen und seinem charmanten Auftreten, dass ihm so eine selbstmörderische Loyalität entgegengebracht wurde.

Da er meine Gedanken spürte, wurde Cyrus neben mir nervös. „Er ist nicht immer so gewesen, Carrie. Du hast ihn am Ende einer Fastenzeit, die ein Jahr dauerte, gesehen. Damals war er nur ein Leichnam, den ich verherrlicht habe. Mein Vater … mein Vater ist egoistisch, aber er schafft es, dass man glaubt, er habe all das verdient, was man für ihn tut. Und er ist auch dankbar. Diese Dankbarkeit ist eine Droge für Menschen wie Dahlia und mich. Für jeden, der ein Leben wie meines geführt hat.“

Cyrus schien mit etwas zu ringen. Ich spürte seine Verwirrung und seinen Schmerz durch die Blutsbande. Ihm kamen Bilder von Mouse, verquickt mit Bildern von vor langer Zeit, in den Sinn.

Ich nahm seine Hand. „Erzähl mir davon.“

Mit einem traurigen schiefen Lächeln, hob er meine Hand an seine Lippen.

„Ich werde es dir zeigen.“

Wenn wir Erinnerungen miteinander austauschten, war das eine sehr persönliche Sache zwischen uns. Wir hatten es schon früher getan, als er noch mein Schöpfer und ich sein Zögling gewesen war. Obwohl unsere Rollen jetzt vertauscht waren, fühlte es sich so normal an, tröstlich und vertraut. Es war etwas, das ich nie mit Nathan gewagt hatte. Er hatte das Aufblitzen von Erinnerungen durch die Blutsbande, die wenigen Male, die er von meinem Blut trank, gesehen, aber nie lud ich ihn ein, an meinen Gedanken teilzuhaben, wie ich es bei Cyrus getan hatte. Vielleicht vertraute ich ihm nicht. Vielleicht dachte ich, er würde mich für das, was er sah, verurteilen. Möglicherweise versuchte ich ihn vor etwas zu schützen, von dem ich glaubte, dass es ihn verletzen könnte.

Aber bei Cyrus war es mir egal. Nichts, was mir jemals widerfahren war, konnte peinlicher sein als das, was ich von seiner Vergangenheit wusste. Und nichts, was er sah, konnte ihn verletzen. Er wusste, wie sehr ich ihn hintergangen hatte. Cyrus kannte mich besser als Nathan. Vielleicht sogar besser, als ich mich selbst kannte, denn er blickte der dunklen Seite in mir ins Auge, was ich selbst vermied.

Wir lagen gemeinsam auf meinem schmalen Bett, meine Hand immer noch in seiner. „Bist du sicher?“

„Was habe ich schon zu verlieren?“, fragte er und holte zitternd Luft. Und dann flog ich vorwärts durch absolute Dunkelheit, durch so viele Emotionen, die ich nicht zählen konnte, geschweige denn benennen.

Auf der anderen Seite der Dunkelheit sah ich eine Frau. Einen Augenblick lang dachte ich, dass sie sehr groß sein müsse. Sie schwebte über mir, ihre Hüftknochen waren auf meiner Augenhöhe, während wir uns ansahen. Dann erinnerte ich mich daran, dass ich nicht ich war, sondern die Welt durch Cyrus’ Augen sah. Cyrus war ein Kind.

Allein der Gedanke, dass er irgendwo, irgendwann einmal ein unschuldiges kleines Kind gewesen war, bevor er anfing, zu hintergehen und zu töten, hätte mich zum Heulen gebracht, wenn ich noch in meinem Körper gesteckt hätte.

Ich nutzte die Chance und sah mir die Frau genau an. Sie war weder Frau noch Mädchen. Sie war gertenschlank, hatte dünnes schmutzig blondes Haar und dunkle Ringe unter den Augen. Sie sah aus, als würde sie gleich vor Erschöpfung umfallen, während sie in einem riesigen Kessel rührte, der über dem Herd hing. Eine dralle Hand zog an ihren Röcken, und sie sah hinab. Ein erfreutes Lächeln hellte ihre müden Gesichtszüge auf, dann schaute sie besorgt. „Simon, nein. Sehr heiß. Du wirst dich verbrennen, merk dir das!“

Das hatte der kleine Cyrus schon oft gehört. Sie hatte eine panische Angst davor, dass die Kinder sich verbrennen könnten. Sie hob ihn auf, küsste ihn auf die Stirn und putzte ihm dann mit ihrer Schürze die Nase. Nachdem sie ihn wieder auf den Boden gestellt hatte, gab sie ihm einen hölzernen Trog. Er war schwer, und das Seil, das als Griff diente, juckte ihn, aber er war ein guter Junge. Er wusste, wie man Wasser holte und es seiner Stiefmutter brachte.

„Hinaus mit dir“, sagte sie und gab ihm einen Klaps auf den Hintern. Aufgrund seines unsicheren Ganges nahm ich an, dass er drei oder vier Jahre alt war. Er stolperte durch den Segeltuchvorhang, der vor der Tür hing, trippelte ein wenig auf dem festgetretenen Lehm. Ich flog wieder weiter zu dem Zeitpunkt, an Cyrus sich die Stirn auf dem Boden aufschlug, ohne eine Möglichkeit, dem sich abzustützen.

Der junge Simon Seymour war ein zäher Bursche, trotz seiner Umgebung. Er stand auf, wischte sich die aufgeschlagenen Knie ab und ging wieder ein paar Schritte, bevor er die Stimme seiner Stiefmutter hörte.

„Simon? Alles in Ordnung?“

Während er den Eimer fallen ließ, sank er in den Dreck nieder und produzierte die schönsten Tränen, die ein Dreijähriger willentlich produzieren konnte. Als die junge Frau aus der Hütte gerannt kam, machte sie nur ein besorgtes Gesicht. Sie zeigte keine Anzeichen davon, dass er sie bei der Arbeit gestört hatte oder dass sie auf ein Kind aufpassen musste, das nicht ihr eigenes war. Sie half ihm auf, tätschelte sein wahrscheinlich schmutziges Gesicht nahe vor ihrem, küsste ihn und versicherte ihm, dass alles gut war.

Ich war im tiefsten Herzen berührt, das zu sehen, gleichgültig, wie der Rest seines Lebens verlaufen war, hatte er doch einen Menschen gehabt, der ihn bedingungslos liebte.

Die Szene veränderte sich. Cyrus war immer noch ein Kind, vielleicht war er einige Jahre älter. Er ging sicherer, seine Gedanken waren komplexer. Er trug einen hölzernen Eimer, vielleicht denselben aus der vorherigen Erinnerung, zum Fluss. Es war heiß, und der Fluss trug nur wenig Wasser. Er musste die Böschung hinuntersteigen, um überhaupt Wasser schöpfen zu können.

Vorsichtig setzte er den Eimer ab und war gerade dabei, das Ufer hinabzusteigen, als er Schreie hörte. Es war nicht ungewöhnlich, dass man im Dorf Frauen schreien hörte. Sie schrien ihre Kinder an, schrien, wenn sie entbunden wurden oder wenn man sie schlug. Frauen schrien die ganze Zeit über Kleinigkeiten, wenn es nach ihm ginge. Außer seiner Mutter.

Daher erkannte er ihre Stimme nicht sofort.

Es wusste, dass sie es war, die schrie, als er in die Straße einbog. Sie heulte aus Schmerz und vor Schreck. Flammen verbrannten ihre Kleidung und ihre Haare. Sie schlug auf ihre brennenden Röcke mit blutigen Händen ein. Ihre Haut fiel in riesigen Stücken ab.

Sie versucht, zum Fluss zu gelangen, stellte er fest, während sein Herz in seiner kleinen Brust raste. Sie brauchte Wasser, sie brauchte Hilfe. Ohne einen Gedanken daran, dass auf der Böschung scharfe Steine und Wurzeln lagen, griff er nach dem Eimer und schlitterte zum Flussbett hinunter.

Es schien ewig zu dauern, während sie immer weiter schrie. Der Eimer füllte sich nur langsam, als fließe Teer hinein und nicht Wasser. Aber er wog nicht viel, daher lief er die Böschung schneller hinauf, als es ihm jemals zuvor gelungen war. Seine Beine und Arme hätten ihm wegen der Anstrengung schmerzen sollen, aber er kam oben an der Böschung an und rannte dorthin, wo seine Mutter gestürzt war. Ihr Körper schwelte noch, und ihre Haut war so schwarz, dass man sie kaum von ihrer verbrannten Kleidung unterscheiden konnte. Als er das Wasser über sie kippte, stieg Rauch auf.

Sie bewegte sich nicht. Sie gab keinen Ton von sich. Sie war still, dennoch hallte ihr Schrei immer noch in seinem Kopf wider.

Männer und Frauen aus dem Dorf waren herbeigekommen. Weitere liefen auf sie zu. Und da war sein Vater, der seine Hände zu Fäusten ballte, sodass dort, wo sich seine Fingernägel in die Handflächen gruben, Blut hervortrat, obwohl sein Gesicht eine ausdruckslose Maske blieb. „Geh nach Hause, Simon. Mach das Abendessen fertig.“

In einer schlimmen Sekunde, als würde man langsam ein Pflaster abziehen, kam ich wieder in die Gegenwart zurück. Cyrus sah mich mitleidig an. Nachdem ich gesehen hatte, was er hatte durchmachen müssen, bedauerte er mich?

„Dafür, dass du es angesehen hast.“ Er strich mir über die Wange. Erst dann bemerkte ich, dass ich geweint hatte.

Ich schniefte, um weitere Tränen zu vermeiden, und fragte ihn: „Wie alt bist du gewesen?“

„Sieben, soweit ich mich erinnern kann. Ich bin nicht sicher, in welchem Jahr ich geboren bin.“ Seine Hand hielt inne, dann berührte er meine Haare. „Sie war die dritte Frau meines Vaters. Er hatte sie nicht geliebt, aber … Ich glaube, es lag an dem Schrecken. Das hat ihn verändert. Bald darauf traf er den Mann, der ihn verwandelte. Der Mann kaufte unseren Schuldschein, und wir zogen aus dem Dorf fort, um bei ihm in Lehnstreue zu leben. Vater sagte, wir sollten alles vergessen, was wir zuvor erlebt hatten. Es sei ein Neubeginn.“

„Wie ist es passiert?“ Wenn mir jemand eine Stunde zuvor erzählt hätte, dass ich für den Souleater jemals etwas anderes als Hass empfinden würde, ich hätte es nicht geglaubt. Aber ich hatte den Blick in seinen Augen gesehen, wie er seine wahren Gefühle unterdrückte, damit sein Sohn seinen Schmerz nicht sah …

„Sie hatte den Topf über das Feuer gehängt, und ihr Rock kam gegen die glühende Kohle. Das reichte schon.“ Cyrus räusperte sich. „Damals war das nichts Ungewöhnliches.“

„Auch wenn es nichts Besonderes war, es war schrecklich.“ Ich hielt es nicht länger aus. Ich schlang meine Arme um ihn. „Für dich und deinen Vater.“

Ich vergab Jacob Seymour keine seiner Sünden, derer er schuldig war, aber dieser Vorfall erklärte einiges. Es erklärte auch, warum Cyrus so furchtbar auf jegliche Zuneigung von Frauen angewiesen war, ungeachtet der Frage, ob sie ihn liebten oder ob sie zu solchen Gefühlen überhaupt in der Lage waren.

Wir sahen einander an. Seine Augen waren rot, als habe er seine Tränen unterdrückt. „Die einzigen Frauen, die mich jemals geliebt haben, wurden mir genommen. Einmal durch einen Schicksalsschlag, alle weiteren Male durch meinen Vater. Das werde ich ihm nie verzeihen.“

„Das brauchst du auch nicht.“ Ich hatte das starke Bedürfnis, ihm zu sagen, wie sehr ich ihn liebte, aber es wäre eine Lüge gewesen.

„Du hast mich nicht geliebt.“ Auch wenn er jetzt auf der anderen Seite der Blutsbande war, konnte Cyrus meine Gedanken und Gefühle spüren. „Aber ich glaube dir, dass du mich lieben wolltest.“

„Das stimmt.“ Ich konnte meine Tränen nicht unterdrücken. Dieses Mal nicht. „Das stimmt.“

„Wenn dich das trösten sollte, dann ist es eine Charakterstärke, dass du mich nicht lieben konntest.“ Er lächelte ein wenig, wurde dann aber schnell wieder ernst. „Das weiß ich mittlerweile.“

„Du hast mich dafür gehasst.“ Ich beugte mich vor und lehnte meine Stirn gegen seine. Unsere Lippen hätten sich fast berührt. Mein Mund war trocken. Ich leckte mit der Zunge über meine Lippen, und dann lag er auf mir, bedeckte meinen Mund mit seinem und presste meinen Körper mit seinem Gewicht auf die Matratze.

Das tue ich immer noch. Aber sein Gedanke wurde begraben von einer Flutwelle von Verlangen und … Angst?

Cyrus lehnte sich zurück und nickte kurz zur Tür hinüber. „Das letzte Mal, als ich das getan habe, hat mich dein Freund ziemlich böse zusammengeschlagen.“

„Er ist nicht mein Freund.“ Ich lauschte, als ich das Geräusch vernahm, wie die Tür im Wohnzimmer zugeschlagen wurde. „Und ich will nicht darüber reden.“

Das stimmte. Ich wollte nicht nur mit Cyrus nicht darüber sprechen. Es ist nur ein Kuss, ließ ich Nathan über die Blutsbande wissen. Die Kälte, die mich vom anderen Ende unserer Verbindung erreichte, ließ mich frösteln.

„Vergiss ihn, Carrie.“ Cyrus drückte mich fester an sich. „Du hast ihm nun schon so viele Chancen gegeben.“

„Was schert es dich, wie viele Chancen ich ihm gebe?“, fuhr ich ihn an und befreite mich aus seiner Umarmung.

„Es macht mir überhaupt nichts aus.“ Seine Worte klangen nicht böse. „Ich weiß, dass du mir gehörst, ob du es willst oder nicht.“

„Was soll das denn jetzt heißen?“ Das war die eine Seite von ihm, die ich nicht vermisst hatte: Seine Besitzgier und seine Arroganz.

Er setzte sich aufrecht hin, aber nicht neben mich. „Sieh das doch mal sachlich. Nachdem ich dich angegriffen hatte und nachdem du erfahren hast, dass ich ein Ungeheuer bin, bist du zu mir gekommen.“

„Das lag an den Blutsbanden“, erinnerte ich ihn.

„Auch gut.“ Er zuckte mit den Schultern. „Und danach, als du Hilfe brauchtest, um Nathan zu retten, bist du auch zu mir gekommen.“

„Ich brauchte deine Dahlia, um rückgängig zu machen, was sie mit ihm getan hatte.“

Er seufzte. „Du versuchst, es wegzudiskutieren. Am Ende kommst du immer zu mir zurück. Auch als du versucht hast, mich zu töten, wolltest du es allein tun, damit es nur wir zwei waren.“

Cyrus hatte recht. Ich konnte nicht dagegen argumentieren. Wenn es um ihn ging, wollte ich allein zuständig sein. Ob ich ihn nun bekämpfte oder ihn rettete.

„Ich mache dir daraus keinen Vorwurf, Carrie.“ Er massierte mir mit seinen eleganten Händen die Schultern. „Aber wie es aussieht, erhebst du schon gewisse Ansprüche auf mich.“

Ich drehte mich um und kuschelte mich an ihn. „Aber du hast es zugelassen.“

„Das stimmt.“ Seine Lippen berührten mein Kinn, mein Ohr. Sein Mund kam auf meiner Kehle zu liegen, auf der Seite, die der Wunde gegenüberlag, die er mir beim ersten Mal zugefügt hatte und die immer noch sichtbar war. „Ich nehme an, dann soll es wohl so sein.“

Seine Reißzähne durchstießen meine Haut, als drohe er damit, weiterzugehen und gleichzeitig dafür um Erlaubnis zu bitten. „Was ist mit Mouse?“, fragte ich und bremste ihn.

„Und was ist mit Nathan?“, antwortete er. „Ein Teil von mir ist immer noch mit ihr zusammen in der Wüste, ein anderer ist hier bei dir.“

„Ich habe scheinbar ein Talent, mich in Männer zu verlieben, die sich nicht von ihrer Vergangenheit trennen können.“

Mein Zugeständnis schien ihn aufzuhalten. Ich entschuldigte mich nicht bei ihm dafür, versuchte es nicht zu erklären. Ich hatte es viel zu lange verdrängt.

Cyrus zögerte. Er versuchte, etwas zu sagen, dann räusperte er sich und fing von vorne an. „Na, das stimmt vielleicht. Aber ich bin kein Idiot. Ich weiß, wen ich hier vor mir habe.“

In der Vergangenheit hätte ich ihm wahrscheinlich einen Trick oder eine Falle unterstellt, die er mir stellen wollte, indem er mir das sagte. Jetzt aber war ich so erleichtert, dass ich anfing zu weinen.

Dieses Mal, als er mich fragte, ob ich ihn liebte, konnte ich die Worte aussprechen, ohne mich davor zu fürchten, was das für meine Zukunft bedeutete.