23. KAPITEL

Zurück unter den Lebenden

„Ja, ich weiß, dass du da bist.“ Der Souleater kam näher an mich heran, als könnte er mich trotz meiner Unsichtbarkeit erkennen. Er schnupperte herum, dann fing er an zu lächeln. „Glaubst du, ich könnte nicht das Blut meines Sohnes und meines Zöglings in dir erahnen?“

Ich hielt den Stein fester. Lauf! Sieh einfach zu, dass du da herauskommst!“, schrie Nathan in meinem Kopf. Ich spannte alle Muskeln an, um seinem Rat zu folgen.

Der Souleater lachte. „Oh! Nolen! Er ist schon immer so dramatisch gewesen. Von mir hast du nichts zu befürchten.“

Carrie, hör nicht auf ihn! Cyrus’ Gedanken lösten in meinem Kopf ein panisches Gedankenkarussell aus. Ich presste die Hände an meinen Schädel und versuchte verzweifelt, meine Gedanken zwischen den Ratschlägen meines Schöpfers und den panischen Bitten meines Zöglings zusammenzuhalten.

„Sei ruhig“, riet mir der Souleater. Sein Tonfall war geduldig und rational. Er brachte Ordnung in das Chaos in meinem Kopf. „Du weißt doch, wie man sie zur Ruhe zwingt.“

Die Blutsbande ausschalten? In meiner Verwirrung und in meinem Schmerz erinnerte ich mich schwach daran, dass ich Cyrus und Nathan versprochen hatte, es nicht zu tun und mit ihnen in Kontakt zu bleiben, damit sie wussten, dass bei mir alles okay war. Es war so verlockend, der Anordnung vom Souleater zu folgen. Also tat ich es.

„Na, siehst du“, sagte Jacob und kam auf mich zu. „Und jetzt zeige dich. Ich werde dir nichts tun.“

Aus irgendeinem schrecklichen Grund, den ich nicht nachvollziehen konnte, glaubte ich ihm. Ich ließ den Stein auf den Boden fallen.

Seine Augen leuchteten, als er mich wiedererkannte. Er fing an zu lächeln, dabei waren seine Lippen denen von Cyrus so ähnlich. „Oh, das ist aber eine nette Überraschung.“

„Sie erinnern sich an mich?“ Warum gab mir das ein gutes Gefühl?

Dahlia war wieder aufgestanden, sie war verletzt, ihr Gesicht blutete. „Du?“

„Dahlia, du kannst jetzt gehen. Ich bin fertig mit dir.“ Er sah sie nicht an, als sie den Mund öffnete, um zu protestieren. Dann starrte er sie mit einem durchdringenden Blick an. „Es sei denn, du möchtest mir etwas anbieten?“

Rückwärts ging sie zur Tür, in ihren Augen lag die nackte Angst. Also ließ sie uns in der Bibliothek allein.

Als hätte er nicht gerade vor meinen Augen jemandem damit gedroht, seine Seele zu stehlen, winkte er mich heran. „Komm her, und lass mich dich anschauen.“

Ich ging auf ihn zu, als gäbe es eine unsichtbare Verbindung zwischen uns. Sie glich nicht den Blutsbanden. Es lag allein an seinem Charisma.

„Natürlich erinnere ich mich an dich. Du warst von meinem Sohn ein … nun, Spielzeug hört sich so grob an.“

„Das ist es auch.“ Aber ich hatte keine Ahnung, warum ich nicht beleidigt war.

„Schade, was zwischen euch passieren musste. Aber ihr wart nicht füreinander bestimmt.“ Er streckte den Arm aus und ergriff mein Handgelenk. „Du bist viel zu stark für ihn.“

„Soll das ein Kompliment sein?“ Ich wusste es nicht. Es war schwierig genug, überhaupt einen klaren Gedanken zu fassen. Seine Hand brannte mir in die Haut.

„Es ist eine … Beobachtung.“ Er hob mein Handgelenk an seine Lippen. Ich widersetzte mich ihm nicht, auch wenn es so schien, als wollte er mich beißen. Stattdessen drückte er mir einen Kuss auf, und ich erschauderte. „Als du ihn getötet hast, habe ich ziemlich viel Ärger auf mich nehmen müssen.“

„Ach ja?“ Langsam zog ich meine Hand zurück, obwohl ich den Kontakt nur ungern aufgab. „Ich werde mich nicht entschuldigen.“

Der Souleater lachte leise. „Das hätte ich auch nicht von dir erwartet.“

„Weil Sie mich so gut kennen?“ Ich hörte zwar die Ironie in meiner Stimme, aber ich war selbst nicht von ihr überzeugt.

Wieder lachte er. „Ich verstehe, warum mein Sohn gern mit dir zusammen war. Bitte setz dich. Plaudern wir ein wenig. Nach fünf Jahrhunderten werden die Tage langweilig. Besonders mit so … dummen Begleiterinnen.“

„Und Sie beide schienen sich so gut zu verstehen.“ Ich setzte mich auf das Sofa, wie er es mir auftrug.

Er drehte seinen Sessel in meine Richtung, bevor er sich setzte. „Sie erfüllt ihren Zweck, muss ich sagen. Eine Zeit lang fand ich sie sehr unterhaltsam. Aber ich langweile mich schnell mit Menschen. Es ist eine Charakterschwäche meinerseits, muss ich zugeben. Aber ich akzeptiere sie. Also, erzähl mir, warum bist du hier?“

„Ich möchte wissen, wo sich das Orakel befindet.“ Es hatte keinen Sinn, das vor ihm verbergen zu wollen. Ich bezweifelte, dass ich lebendig aus diesem Haus wieder hinauskommen würde. Wenn ich die Information bekäme, vielleicht konnte ich sie Cyrus oder Nathan mitteilen. „Das Orakel hält meine Freunde gefangen. Sagen Sie mir, wo sie sind.“

„Nun unterschätzt du mich, Carrie.“

„Sie werden mich nicht lebendig gehen lassen. Vielleicht können Sie es mir dann genauso gut sagen. Meine Neugier zu stillen könnte … mein letzter Wille sein.“ Während ich die Worte aussprach, ahnte ich, dass er nicht so dumm sein würde, darauf hereinzufallen. Er hatte kein krankhaftes Verlangen, sich mit seinem bevorstehenden Sieg zu brüsten.

Schließlich stand er auf und ging langsam hinter seinen Sessel, dann zum Kamin. Auf dem Sims stand eine Kristallkaraffe mit einer hellbraunen Flüssigkeit. Er schenkte ein Glas ein und bot es mir an.

Mit einer Kopfbewegung lehnte ich ab. „Ich muss nüchtern bleiben. Wie ich höre, können Sie gefährlich werden.“

„Auf vielfältigere Weise, als du ahnst.“ Er kam auf mich zu und drückte mir das Glas in die Hand. „Trink.“

Ich nahm das Glas. „Ist es vergiftet? Versetzt mit Weihwasser?“

„So etwas Gemeines würde ich dir nicht antun.“ Er schenkte sich selbst ein Glas ein, wahrscheinlich, um mich in Sicherheit zu wiegen, und setzte sich wieder auf seinen Sessel. „Ich erinnere mich tatsächlich an dich. Ich erinnere mich daran, wie du neben meinem Sarg gekniet und deine verdammten Hände daraufgelegt hast. Und ich erinnere mich daran, wie verletzt du warst, als ich nicht in dieselbe Falle gestolpert bin, in die mein Sohn fiel. Wie naiv du warst. Wie erfrischend dumm.“

„Ich kann nicht behaupten, dass Cyrus viel schlauer war.“ Ich konnte mir nicht helfen, ich schaute auf den Boden. Wir saßen in genau demselben Raum, in dem ich zum ersten Mal dem Souleater begegnet war. Das Zimmer, in dem ich seinen Sohn getötet hatte.

„Nein, Simon war schon immer eigensinnig. Von dem Zeitpunkt an, als er seinen Bruder umgebracht hat, habe ich es gewusst. Er konnte nie akzeptieren, dass er nicht meine erste Wahl war, was die Blutskinder anging. Er konnte nie den größeren Rahmen meiner Handlungen verstehen, er hat immer nur gesehen, was ihn direkt betraf.“ Der Souleater schüttelte bedauernd den Kopf.

„Da wir schon mal über die breitere Perspektive sprechen! Sie haben seine Ehefrauen getötet, Ihnen war es gleichgültig, dass die einzige Mutterfigur in seinem Leben durch Feuer ums Leben kam, und Ihre Schläger haben das Mädchen in der Wüste umgebracht …“

„Welches Mädchen in welcher Wüste?“ Jacob lehnte sich vor, ernsthaft interessiert und … amüsiert? „Von einem Mädchen habe ich noch nichts gehört.“

„Ich werde es Ihnen nicht erzählen.“ Die Tatsache, dass ich es überhaupt erwähnt hatte, ekelte mich an. „Aber Sie können es ihm nicht vorwerfen, dass er Verrat geübt hat. Nach der ganzen Zeit, in der er mit Ihnen zusammengelebt hatte, fühlte es sich wahrscheinlich normal an.“

„Sehr gut, meine Liebe.“ Der Souleater lachte, ein tiefer verführerischer Ton, der nicht wie bei seinem Sohn etwas Unfertiges hatte. „Nun, ich habe einige seiner Begleiterinnen getötet. Aber seine ersten beiden Frauen, sie haben selbst Menschen auf dem Gewissen. Und seine Stiefmutter – was für eine nutzlose Person! Ich nehme an, dass er Ihnen erzählte, dass er mich verdächtigt hatte, an ihrem Tod schuld zu sein.“

Ich starrte ihn an. „Niemals. Als ich mit ihm zusammen war, war seine Loyalität zu Ihnen fast einfältig. Er tat so, als würde Ihnen die Sonne aus dem Arsch scheinen.“

„Musst du so vulgär sein?“ Jacob schnalzte mit der Zunge. „Ich muss sagen, ich bin stolz darauf, dass er nie schlecht über mich Ihnen gegenüber gesprochen hat. Das zeigt, dass er wenigstens Verstand hatte.“

„Es zeugt weniger von Verstand, dass er so lange unter Ihrer Fuchtel gestanden hat.“ Ich ließ meinen Kommentar einen Moment lang stehen. „Erzählen Sie mir, was Sie mit seiner Mutter angestellt haben.“

Stiefmutter“, korrigierte mich der Souleater. Er spreizte die spitzen Finger vor seinem Mund gegeneinander, seine kalten blauen Augen blitzten im Widerschein des Kaminfeuers. „Sie war nutzlos. Ständig war sie schwanger und ansonsten nutzlos. Ich hatte zwei Mädchen von ihr. Keines von ihnen überlebte das Kleinkindalter, Dank dem Herrn für seine kleinen Barmherzigkeiten. Aber die Erfahrung, einem Kind das Leben zu schenken und dann mit anzusehen, wie es stirbt … nun, es verdarb sie. Sie vernachlässigte ihre Aufgaben, meine Kinder wurden wild. Alle bis auf Cyrus, der dumme Bengel, der er war. Er war in sie vernarrt, als ob alles, was er tat, sie von dem Fluch ihres Selbstmitleides erlösen könnte.

An dem Tag, an dem sie verbrannte, hatte ich genug. Ich kam vom Feld nach Hause – damals war ich ein einfacher Bauer. Ich besaß kein eigenes Land, ich schuftete Tag für Tag für den Gewinn eines anderen Mannes. Ich kam in mein Haus, und das Feuer war verloschen. Es war kein kalter Tag, das war es nicht, aber ohne Feuer würde es kein Abendessen geben, und mir steckte der Hunger in den Knochen. Ich dachte an meine Söhne, die in alle Winde verstreut waren und Gott weiß was taten, während ihre Stiefmutter in Selbstmitleid verging. Und ich hatte genug. Ich ging hinaus, um Kleinholz zu sammeln, machte ein Feuer, und als es groß genug war, stieß ich sie hinein.“

Cyrus’ grausame Erinnerungen fielen mir wieder ein. Die liebende Mutter, die von Flammen umzingelt war. Seine einzige Verbündete in der grausamen Welt seiner Kindheit verbrannte vor seinen Augen. Und Mouse, die man in der Wüste verbrennen ließ, während er zusehen musste.

Der Souleater gab einen angewiderten Ton von sich. „Na, jedenfalls ist er jetzt tot.“

Also kannte er die Wahrheit nicht. Wie sollte er auch? Dahlia glaubte ja, Cyrus getötet zu haben, und wahrscheinlich hatte sie ihm gesagt, dass dieser Plan erfüllt worden sei.

„Sie sind ein Ungeheuer!“, krächzte ich und versuchte immer noch, meinen Schock zu verwinden.

„Und du bist eine einfältig lächelnde Närrin!“ Seine Hand schnellte hervor, um mich an der Kehle zu packen. In seinen Augen funkelte Wut, und um seinen Mund gruben sich tiefe Falten in die Haut. Dennoch war das nicht der Souleater, den ich heute Nacht zu treffen fürchtete. Ich hoffte, dass diese Kreatur sich nicht zeigen würde, solange ich da war.

Er holte tief Luft und ließ mich los, während er angespannt lächelte. „Entschuldigung. Vergib mir. Ich wollte dir nichts tun.“

Es fällt mir schwer, das zu glauben, dachte ich, sagte aber nichts.

„Du faszinierst mich, Carrie.“ Er sah mich so eindringlich an, dass sein Blick fast brannte. „Du bist vielleicht für meinen Sohn zu stark gewesen, ebenso wie für Nolen, aber mir bist du nicht ebenbürtig. Eine Herausforderung … sicher. Es würde lange dauern, glaube ich, bis wir einander müde würden.“

„Na, ich bin Sie jetzt schon leid“, gab ich zurück. Aber das stimmte nicht. Als Cyrus mein Schöpfer gewesen war, fühlte ich mich von der Gefahr angezogen, die von ihm ausging. In ihm hatte ich alle meine fundamentalsten Bedürfnisse gespiegelt gesehen. Er hatte mir ein Leben voller Genuss und Hedonismus angeboten, und ich war in der Lage gewesen, mich angewidert abzuwenden. Aber der Souleater … alles an Jacob Seymour schien … richtig zu sein. Als könne er nichts Falsches tun, weil er einfach nicht glaubte, das es etwas Falsches gab. Das gab ihm Macht, und Macht blieb meine Schwäche.

Ich flehte mich selbst an, nicht zu vergessen, was zuvor geschehen war, wie unglücklich ich bestimmt gewesen wäre, mein Leben mit Cyrus zu teilen. Der Souleater brauchte mich nicht. Und ich wollte so sehr, dass mich jemand brauchte. Jetzt schien es das Letzte zu sein, woran ich dachte. Ich wollte jemand anderes brauchen, und ich suchte unbewusst eine Person, die mir das bieten konnte.

Wieder verfiel ich seinem hypnotischen Zauber.

„Denk darüber nach, meine Liebe. Außer ein paar Vollzeit-Begleiterinnen habe ich niemanden, mit dem ich meine Interessen teile.“ Er warf mir einen vielsagenden Blick zu, der mich nicht im Unklaren darüber ließ, worin diese Interessen liegen könnten. „Und du würdest auch auf andere Weise von unserer Verbindung profitieren.“

„Wie? Wenn Sie gelangweilt von mir sind, dann bekommt meine Seele einen Ehrenplatz in Ihrem unteren Verdauungstrakt?“ Ich schüttelte den Kopf. „Vielen Dank.“

„Oh, ich würde dich nicht zu verspeisen haben, Carrie.“ Er wedelte mit der Hand herum, als wollte er meine Naivität verscheuchen. „Benutze deine Intelligenz. Mein Zögling weiß, was ich vorhabe, und wahrscheinlich hat er dir das auch gesagt. Wozu sollte ich dich brauchen oder aus welchem Grund sollte ich deine bemitleidenswerte kleine Seele besitzen wollen? Ich habe dich nicht verwandelt. Ich habe keine Verwendung für dich.“

„Vor einer Minute sind Sie praktisch vor mir auf die Knie gefallen, und nun bin ich bemitleidenswert? Sie wissen wirklich, wie man das Herz einer Frau gewinnt.“ Ich stand auf, als wollte ich gehen. „Also, wenn das alles ist …“

Er hob eine Hand, und eine unsichtbare Kraft zwang mich zurück auf das Sofa. „Beeindruckend, nicht? Die Macht … das ist alles, was du jemals haben wolltest, und mehr.“

Ich starrte ihn an. „Und Sie werden sie jeden Tag meines Lebens gegen mich verwenden und mich zu einer hohlen Marionette machen. Das habe ich schon mit Ihrem Sohn durchgemacht. Was ist der Preis, oh großer Herrscher, für diese zweifelhafte Ehre?“

Mit einem bösen Lächeln kam er auf mich zu. Ich konnte mich nicht regen, als er sich über mich beugte und seine Zähne bleckte. Er hatte Reißzähne, auch wenn es nicht so schien, als wollte er von mir trinken. Zumindest hoffte ich das. Seine Nase berührte fast meine, und sein Atem berührte kalt meine Wangen, während er sprach. „Darum konnte mein Sohn dich nicht bändigen. Ich werde damit keine Probleme haben.“ Er schlug mir heftig ins Gesicht. Ich war überrascht und schmeckte Blut.

„Der Preis dafür, dass ich dich am Leben lasse“, zischte er und griff mir in die Haare, um seine letzten Worte zu betonen, „ist, dass du mir meinen Zögling bringen wirst!“

„Nathan?“, fragte ich trotz meiner Schmerzen. „Nein. Kommt nicht infrage. Töten Sie mich lieber gleich.“

Mit leichter Hand hob er mich am Hals hoch und schleuderte mich durch den Raum. Ich schlug an der Wand auf und landete mit gebrochenen Knochen auf dem Boden. In meinen Gedanken überfielen mich Nathans Wut und seine Schmerzen – meinetwegen und wegen seines Erschaffers. Sie stachen in meinem Kopf wie tausend Spieße. Zuvor hatte Nathan es geschafft, die Wand, die ich errichtet hatte, um ihn auszuschließen, einzureißen. „Nathan, nicht!“ Aber es war nicht meine Absicht gewesen, es laut herauszurufen.

Der Souleater lachte, und dieses Lachen verwandelte sich in die Schreie der Seelen, die in ihm gefangen waren. Seine Augen glühten rot, und sein Gesicht verzerrte sich. „Lass ihn herkommen. Lass mein missratenes Kind zu mir nach Hause kommen, wie er es sich so viele Male gewünscht hat.“

„Nein!“ Ich konnte wieder aufstehen und rannte zur Tür, aber der Souleater hatte mich in einer Sekunde eingeholt und hielt mich zurück.

„Kämpfe! Er wird deine Angst spüren, und das wird seine Schritte beschleunigen.“ Jacobs Hände verwandelten sich an meinen Armen zu Klauen, und sein Geruch von Verwesung übermannte mich. „Du wirst für deine Hilfe belohnt werden.“

Ich schmeckte Galle und schluckte. „Er wird Sie töten! Und ich werde ihm dabei helfen, das schwöre ich!“

„Und du wirst genauso sterben wie all die anderen, die es schon vor dir versucht haben.“ Seine Worte ebbten in einem ängstlichen Schrei ab, es war der Chor der Stimmen, die sich in ihm gegen ihre ewige Folter auflehnten.

Die Tür zur Bibliothek prallte an den Wänden zurück, als sie aufgestoßen wurde. „Das wird sie nicht tun!“

„Nathan, nein! Verschwinde von hier!“ Ich versuchte, mich aus den Fängen des Souleaters zu befreien, und zu meiner Überraschung ließ er mich freiwillig gehen. Da ich nicht darauf gefasst war, schlug ich mit dem Gesicht auf dem harten Marmorfußboden auf.

Als ich wieder aufsah, bemerkte ich, was Jacob Seymour so überwältigt hatte.

Sein Sohn Cyrus, den er für tot gehalten hatte, stand in der Tür.

Cyrus zeigte keine Spur von Draufgängertum, als er den Raum betrat, in dem er einst gestorben war. Dem erstaunten Blick des Souleaters begegnete er geradeheraus. „Hallo, Vater. Es gibt ein paar Dinge, die wir besprechen müssen.“

In der ganzen Zeit, die Max für die Bewegung arbeitete, hatte er das Orakel noch nie bei Bewusstsein gesehen. Im Prinzip sah sie jetzt weniger Angst einflößend aus, und das war gefährlich.

Sie saß auf einem geschnitzten hölzernen Thron, dessen hohe Lehne wie ein Kirchturm spitz zulief. Auf dem Kopf, der normalerweise kahl war, trug sie eine ägyptisch aussehende Perücke. Ihr dünner Körper war von einem lockeren roten Kleid verhüllt. Sie bewegte den Kopf nicht, aber sie schien zerbrechlich wie eine Psychiatrie-Patientin, die in einem Theaterstück in der Klinik die Hauptrolle der Cleopatra spielte. Ihre Verletzlichkeit gab ihm in der Tat einen Stich vor Mitleid.

Er wusste es besser, aber Bella … Sie hatte vielleicht eine Ausbildung als Vampirjägerin absolviert, aber sie war immer noch eine Frau, und Frauen hatten Mitleid. Und Mitleid würde sie töten.

„Komm her.“ Das Orakel deutete auf Bella und beugte den Zeigefinger. Der Rollstuhl bewegte sich mit solch einer Geschwindigkeit nach vorn, dass, als er anhielt, Bella hinaus und auf den Boden fiel.

Als Max versuchte, ihr zu helfen, konnte er sich nicht bewegen. Zur Liste der Dinge, die er am Orakel nicht ausstehen konnte, fügte er Telekinese hinzu.

„He, du Schlampe!“, rief er und hoffte, er würde mit seiner Frechheit ihre Aufmerksamkeit auf sich lenken und sie damit nicht provozieren, ihm einfach den Kopf abzureißen. „Weißt du, wenn du das Baby haben willst, dann solltest du mit der Mutter vorsichtiger umgehen.“

„Was mit der Wölfin passiert, interessiert mich nicht, nur was mit dem Kind geschieht, das sie in sich trägt, ist für mich von Belang. Und das ist nicht in Gefahr.“ Das Orakel wandte sich wieder an Bella. „Meine Tochter in dir ist kräftig.“

„Sie ist nicht deine Tochter“, schrie Bella auf und richtete sich mit den Armen auf. „Sie wird nie dir gehören!“

„Du willst mich berichtigen?“ Das Orakel lachte. „Mich, die ich alles weiß?“

„Wenn du alles weißt, dann hast du aber kaum gesunden Menschenverstand“, rief Max. Er versuchte verzweifelt, die Aufmerksamkeit des Orakels von Bella auf sich zu lenken. „Warum würdest du dich dann mit dem Souleater abgeben? Er wird dich schneller hintergehen, als du mit einer deiner dämlichen Prophezeiungen aufwarten kannst.“

Das Orakel krümmte einen Finger und zog Max nach vorn. Als er versuchte, sich zu wehren, stolperte er über seine eigenen Füße. Sie bewegte ihn neben Bella, sodass er nur wenige Zentimeter von ihr entfernt stand, und lächelte gemein. „Du zweifelst die Rechtmäßigkeit meiner Prophezeiungen an?“

Er gab sich Mühe, rebellisch zu wirken, und lachte. „Das tue ich. Verdammt, die Hälfte der Zeit können wir nur herumrätseln, was damit gemeint ist, dabei ist das Ereignis schon lange eingetreten. Das ist keine so tolle Fähigkeit, allgemeine Beobachtungen zu machen und sie dann auf ein Ereignis zu beziehen, das schon lange stattgefunden hat.“

„So etwas habe ich nie getan. Es war euer Orden der Blutsbrüder, der entschieden hat, dass ich von einer Zukunft spreche, in der auch sie vorkamen.“ Sie schloss die Augen und legte die Hände auf die reich verzierten Lehnen. Als sie Max und Bella wieder ansah, waren ihre Augen mit einem Blutschleier überzogen. „Die Zeit ist vorüber.“

„Genau, das habe ich mir schon gedacht, nachdem du hier alles getoastet hast.“ Max versuchte, seine Arme zu bewegen, und als es ihm gelang, konnte er nichts mit ihnen anfangen. Es war nicht so, als könnte er das Orakel bekämpfen. Es war eine verlorene Schlacht, bevor sie überhaupt begonnen hatte. „Aber du bestehst auf einer Welt, die nur aus Schmerz besteht, wenn du gemeinsame Sache mit dem Souleater machst. Er ist kein wirklich vertrauenswürdiger Typ.“

Das Orakel lachte. „Er ist ein Bauer. Über mich hat er keine Macht. Er hat zwar mein Herz und könnte mich jederzeit töten. Aber er tut es nicht, weil er schwach ist und ohne meine Hilfe nicht weiterweiß.“

„Aber du hast es ihm geschickt“, warf Bella ungläubig ein und wischte sich einen Tropfen Blut von ihrer aufgeplatzten Lippe. „Er verfügt über dein Herz .“

„Stimmt.“ Sie lachte noch einmal dieses schrecklich allwissende Lachen. „Das kann er.“

Max schüttelte den Kopf. „Er wird dich auf alle Fälle umbringen.“

Das Orakel lehnte sich zurück, während seine Augen allmählich wieder ihre normale Farbe annahmen. „Er begehrt Macht über alles. Er wird die Quelle seiner Macht nicht töten.“

„Aber er wird nicht mit jemandem leben, der mehr Macht als er hat. Er versucht, ein Gott zu werden. Gott bedeutet Allmacht.“ Der Griff des Orakels um Max lockerte sich, und er beugte sich hinab, um Bella zu helfen.

Das Orakel machte eine Faust und zog sein Rückgrat gerade. Das tat unglaublich weh. „Nie wird er dieses Niveau erreichen. Ich werde ihn benutzen und ihn dann beiseiteschieben.“

„Wofür? Um dich dann umbringen zu lassen? Verdammt, das hätte ich auch für dich erledigen können.“ Max verzog das Gesicht, als ihre unsichtbare Hand sein Rückgrat fester im Griff hielt. „Wenn du mich töten willst, dann töte mich!“

Das Orakel ließ los. „Meine Vision ist nicht von der Lust an der Macht eingeschränkt. Ich werde nicht so leicht fallen wie er.“

Max streckte den Hals und hoffte, dass seine Knochen nicht zu Staub zerfielen. „Also, was ist deine Vision? Erzähl mir alles, Baby. Ich habe Zeit.“

„Du hast weniger Zeit, als du glaubst.“ Das Orakel zeigte auf ihn, aber nutzte dabei nicht seine zerstörerische Kraft. „Ich baue eine neue Ordnung auf. Mit der Hilfe des Souleaters werde ich alle vernichten, die sich mir in den Weg stellen wollen. Wenn er mir nicht mehr nützt, dann werde ich mich seiner entledigen. Diejenigen, die dem Chaos loyal sind, werden regieren.“

„Chaos?“ Max hob eine Augenbraue.

Offensichtlich erfreut über sein Interesse, nickte das Orakel. „Die Welt wird ein Paradies für Vampire sein. Die Sterblichen werden zu unseren Füßen vor Angst greinen und vor uns erzittern. Die Welt wird in Blut ertrinken, es wird so viel sein, dass wir nicht genug davon trinken können.“

„Hört sich … nett an.“ Er räusperte sich. „Aber das klingt nicht nach Chaos. Ich meine, du benutzt den Begriff ‚Ordnung‘, du sprichst von Leuten, die dich anbeten. Das hört sich ein bisschen so an wie das, was der Souleater vorhat.“

„Lass mich ausreden!“ Sie hob ihre Hand und schloss sie, und seine Kiefer wurden aufeinandergepresst, unter dem Druck schoben sich seine Zähne übereinander. „Die Niedrigen werden frohlocken, die Mächtigen werden noch mehr nach Macht streben. Es wird so sein, wie es jetzt ist, aber das wird sich mit der Zeit ändern. Sie werden schon bald begreifen, dass sie nicht mehr durch Gesetze eingeschränkt oder Teil zweier Seiten in einem nicht enden wollenden Krieg sind. Sie werden anfangen, sich gegeneinander zu wenden.

Vampire werden Vampire jagen, neue Souleater werden an die Macht kommen. Andere werden sie töten. Es wird keinen Führer geben, der seine Macht aufrechterhalten kann. Die ganze Welt wird in Dunkelheit und Blut versinken.“

„Warum willst du das?“, jammerte Bella.

Zärtlich beugte sich das Orakel hinab, um ihr Gesicht zu berühren. „Ich würde von einer niedrigen Werwölfin nicht erwarten, dass sie das versteht.“

„Aber was hat das Kind damit zu tun? Ich meine, wenn du so große Macht besitzt, warum brauchst du dann ein Baby zur Unterstützung?“ Warum brauchst du mein Baby? Max bemühte sich, die unausgesprochene Frage nicht an die Oberfläche kommen zu lassen. Vielleicht bekam die Zicke ihn, vielleicht Bella und ihre Tochter und alles, was ihm wichtig war, aber sie würde es nicht erfahren. Er wusste nicht, wie, aber wenn sie nicht erfuhr, wie wichtig Bella und das Baby für ihn waren, dann bedeutete das, dass er ein Teil von ihnen behielt. Für sich ganz allein.

„Die Prophezeiung.“ Es war Bella, die das sagte. Ihre Trauer schnitt ihm direkt ins Herz. „Ich wollte es dir nicht sagen. Ich war noch nicht so weit, es dich wissen zu lassen.“

„Welche Prophezeiung?“ Max sah vom Orakel zu Bella. „Welche Prophezeiung?“

„Es gibt unter meinen Leuten eine Prophezeiung, die das Orakel vor langer Zeit ausgesprochen hat.“ Bella ließ den Kopf hängen. Sie wollte ihn nicht ansehen.

Als das Orakel das Wort ergriff, war seine Stimme tief und klang mechanisch. „Ein Schwert aus Blut geschmiedet. Ein Vampir von Geburt.“

„Aber sie ist kein Vampir. Bella ist ein Werwolf. Das Baby wird ein Lupin“, protestierte Max, obwohl er sich ziemlich sicher war, dass das gleichgültig war.

Das Orakel hob die Hände in die Höhe. Ihrem Gesicht war ihre Irritation anzusehen. „Also werde ich auch über die Werwölfe Kontrolle ausüben. Das ist nichts Negatives. Seid stolz. Das Kind, das ihr mir gegeben habt, wird nach meiner hundertjährigen Herrschaft regieren.“

„Du machst das alles nur für hundert Jahre?“, brachte Max ungläubig hervor. „Das ist für dich doch nur ein Lidschlag!“

„Wenn ich das Kind habe, den Vampir von Geburt, dann kann der Verlauf dieser einhundert Jahre erheblich beeinflusst werden.“ Mit dem Lächeln eines Raubtieres lehnte sie sich vor. „Durch sie kann das Chaos unbegrenzt walten.“

Das war also der Plan. Sie würde dieses Kind zu einem Ungeheuer machen. Auch wenn er das Baby noch nie gesehen oder in den Armen gehalten hatte, machte ihn diese Vorstellung krank. „Verpiss dich.“

„Ich schätze deine Vulgarität nicht.“ Das Orakel drehte sich zu einem ihrer Wachposten um. „Ich will, dass er stirbt.“

Der Vampir kam ihm näher und zog einen Pflock aus dem Gürtel. Das war’s. Ich werde sterben. Max schluckte, aber der Kloß in seinem Hals bewegte sich nicht. Immer schon hatte er sich gefragt, ob er Angst haben würde. Er hatte Angst. Ich werde sterben, und es ist so ein drittklassiger Vampir-Kumpel, mit dem ich die Ehre habe.

„Nein, du nicht.“ Das Orakel hob die Hand, sodass der Vampir mitten in der Bewegung innehielt. „Bring mir den, der gerade angekommen ist. Das Geschenk vom lieben Jacob.“

Es entstand eine endlose Pause, als der Vampir-Kumpel, der mehr als angenervt aussah, ihn nicht töten zu dürfen, verschwand. Während er fort war, sprach das Orakel nicht. Sie saß da auf ihrem Thron, schaute gelangweilt und tippte ab und an mit ihren Fingernägeln auf die geschnitzten Armlehnen.

„Max“, flüsterte Bella, als könnte das Orakel, das nur wenige Meter entfernt saß, sie nicht hören. „Ich glaube nicht, dass wir das hier überleben werden.“

„Nein, das glaube ich auch nicht.“ Der Raum wurde erfüllt vom Lachen des Orakels, in Max’ Ohren klang es wie ein Presslufthammer.

Es erhielt ein Echo aus den großen Türen, die hinter ihnen ins Schloss fielen. Das Gesicht des Orakels erhellte sich. „Ah, da bist du ja. Komm her. Töte diesen Vampir.“

„Warum?“

Als er die Stimme hörte, erschrak Max. Er kannte sie, aber er konnte sich nicht erinnern, wo er sie schon mal gehört hatte.

Das Orakel kniff die Augen zusammen. Offensichtlich hatte sie etwas dagegen, dass ihre Entscheidungen hinterfragt wurden. „Weil ich dich darum gebeten habe. Denk dir, es sei eine Prüfung deiner Loyalität.“

„Ich denke mir, dass es eine schwache Ausrede ist, meinen Arsch aus dem Bett zu zerren, bevor die Sonne überhaupt untergegangen ist.“ Die Stimme kam näher, man hörte das Klirren von Ketten. „Aber klar, kein Problem.“

Der Körper, der zu dieser Stimme gehörte, ging an Max vorbei und baute sich zwischen seinem zukünftigen Opfer und dem Orakel auf. Er war untersetzt, die braunen Haare waren auf beiden Seiten des Kopfes abrasiert, sodass er einen Irokesenschnitt gehabt hätte, wäre sein Haar nicht so lang gewesen. „Also, gib mir einen Pflock.“

Der Vampir, der Wache hielt, warf ihm einen zu, und er fing ihn, bevor er seine eigene Brust durchbohrte. „Nett von dir, Lady. Danke.“

Dann drehte er sich um.

Es war ein Jugendlicher. Nathans toter Sohn.

Es war Ziggy.