Der See
12.6.
»Wenn es nicht Ridley war, wer hat dann sämtliche Reifen außer deinen zerstochen?«
Ich ließ nicht locker; ich kapierte einfach nicht, was auf dem Parkplatz passiert war, egal wie sehr ich mir den Kopf zerbrach. Ich dachte an das Motorrad. Wo zum Teufel hatte ich es schon mal gesehen?
Lena beachtete mich nicht, sondern starrte hinaus aufs Wasser. »Wahrscheinlich war es ein Zufall.« Das Dumme war nur, dass keiner von uns beiden an Zufälle glaubte.
»Tatsächlich?« Ich nahm eine Handvoll von dem braunen, grobkörnigen Sand. Nur Link war noch da, ansonsten hatten wir den See ganz für uns allein. Alle anderen standen jetzt wahrscheinlich bei Ed an der Tankstelle Schlange und kauften neue Reifen, ehe sie ausgingen.
In jeder anderen Stadt hätte man sich vermutlich sofort die Schuhe wieder angezogen, den Sand als Dreck und diesen Teil des Sees als Sumpf bezeichnet, aber etwas Besseres als das schlammige Wasser des Lake Moultrie hatte Gatlin nun mal nicht zu bieten. Alle trieben sich am Nordufer herum, denn dort war der Waldrand und es war nur einen Katzensprung vom Parkplatz entfernt; hier lief man keinem zufällig über den Weg, der nicht in der Highschool war – besonders nicht den Eltern.
Ich wusste gar nicht, warum wir hergekommen waren. Es war ungewohnt, ganz allein am See zu sein, wo doch heute die gesamte Schule hierherkommen wollte. Ich hatte Lena zuerst nicht geglaubt, als sie sagte, sie wolle an den See fahren. Aber sie wollte wirklich, also taten wir es. Link planschte im Wasser herum, und wir teilten uns ein schmutziges Handtuch, das Link noch schnell vom Rücksitz seiner alten Schrottkiste mitgenommen hatte.
Lena lag neben mir und hatte sich zu mir gedreht. Alles schien fast wieder so wie früher zu sein. Aber das stimmte nicht, denn nach einer Weile wurde unser Schweigen schwer. Ihre blasse Haut schimmerte unter dem dünnen weißen Unterhemd, das ihr in der drückenden Hitze eines Junitages in South Carolina auf der Haut klebte. Das Zirpen der Grillen übertönte beinahe die schreckliche Stille. Aber nur beinahe. Lenas schwarzer Rock saß ihr auf den Hüften. Ich wünschte zum hundertsten Mal, wir hätten unsere Badesachen dabei. Ich hatte Lena noch nie im Bikini gesehen. Ich versuchte, nicht daran zu denken.
Hast du vergessen, dass ich dich hören kann?
Ich zog eine Augenbraue hoch. Da war sie wieder. Sie war in meinen Gedanken, heute schon zum zweiten Mal, so als hätte sie sich nie daraus verabschiedet. Eben erst hatte sie kaum mit mir geredet, und jetzt tat sie so, als wäre zwischen uns alles so wie früher. Ich wusste, dass wir darüber reden sollten, aber ich hatte keine Lust zu kämpfen.
Du in einem Bikini, diesen Anblick würde ich garantiert nie wieder vergessen, L.
Sie rutschte näher an mich heran und zog mir mein verwaschenes T-Shirt über den Kopf. Ich spürte, wie ein paar widerspenstige Locken über meine Schultern strichen. Sie legte den Arm um mich und zog mich näher, Gesicht an Gesicht. Die Sonne glitzerte in ihren Augen. So golden hatte ich sie noch nie gesehen.
Lena klatschte mir das T-Shirt ins Gesicht und lief zum Wasser. Sie lachte wie ein kleines Kind und sprang in voller Montur in den See. Seit Monaten hatte ich sie nicht mehr kichern und herumalbern sehen. Es war, als hätte ich sie wieder einen Nachmittag lang geschenkt bekommen, auch wenn ich nicht wusste, warum. Ich schob den Gedanken beiseite und jagte hinter ihr her über das Ufer.
»Hör auf!«
Lena bespritzte mich mit Wasser und ich spritzte zurück. Ihre Kleider waren tropfnass und meine Hose auch, aber es war herrlich, in der Sonne zu sein. In der Ferne sahen wir Link, der zum Anleger hinausschwamm. Wir waren wirklich ganz allein.
»L, warte!«
Sie lächelte mich über die Schulter hinweg an und tauchte unter.
»So leicht kommst du mir nicht davon.« Ich packte sie am Bein und zog sie zu mir. Sie lachte und zappelte so lange, bis ich neben ihr ins Wasser platschte.
»Ich glaube, da war ein Fisch«, kreischte sie.
Ich zog sie an mich. Wir standen uns gegenüber, nur die Sonne, das Wasser und wir beide waren da. Ausweichen war nicht möglich.
»Ich will nicht, dass du fortgehst. Ich will, dass alles so bleibt, wie es war. Können wir nicht dort weitermachen, wo wir …«
Lena legte ihre Finger auf meine Lippen. »Psst.« Die Wärme breitete sich von ihren Fingerspitzen bis in meinen ganzen Körper aus. Ich hatte dieses unbeschreibliche Gefühl von Hitze und Elektrizität schon fast vergessen. Sie strich mit den Händen an meinen Armen herab, verschränkte sie hinter meinem Rücken und legte ihren Kopf an meine Brust. Meine Haut dampfte fast, und überall dort, wo sie mich berührte, kribbelte es. So nahe waren wir uns seit Wochen nicht gewesen. Ich sog die Luft ein. Zitronen und Rosmarin … und noch etwas. Etwas anderes.
Ich liebe dich, L.
Ich weiß.
Lena hob den Kopf und ich küsste sie. Zärtlich schmiegte sie sich in meine Arme. Wir bewegten uns beim Küssen und waren in einem ganz eigenen Zauber gefangen. Ich hob sie hoch und trug sie zum Ufer, das Wasser tropfte von uns ab. Ich setzte sie auf dem Handtuch ab und wir rollten in den schmutzigen Sand. Die Wärme verwandelte sich in Feuer. Ich spürte, dass wir die Kontrolle über uns verloren, und mein Verstand riet mir, aufzuhören.
L.
Lena stöhnte unter meinem Gewicht und wir rollten zur Seite. Ich versuchte, Atem zu holen. Sie warf den Kopf in den Nacken und lachte.
Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Ich erinnerte mich an dieses Lachen, es war das gleiche wie in meinem Traum. Es war Sarafines Lachen. Lena lachte genau wie ihre Mutter.
Lena.
Hatte ich mir das nur eingebildet? Ehe ich einen vernünftigen Gedanken fassen konnte, lag sie auf mir, und ich konnte an gar nichts mehr denken. Es war um mich geschehen, ich war ihr völlig ausgeliefert. Ich spürte, dass ich keine Luft mehr bekam. Wenn wir nicht gleich aufhörten, dann würden wir in der Notaufnahme landen. Wenn nicht Schlimmeres.
Lena!
Ich spürte einen stechenden Schmerz in den Lippen. Ich stieß sie weg und rollte mich auf die andere Seite. Lena glitt von mir herunter in den Sand und kauerte sich auf die Fersen. Ihre riesigen goldenen Augen glühten. Von Grün war nichts mehr zu sehen. Sie atmete schwer. Ich beugte mich vornüber und versuchte, zu Atem zu kommen. Ich hatte das Gefühl, lichterloh zu brennen. Lena hob den Kopf, in dem Wirrwarr von Haaren und Schmutz konnte ich ihr Gesicht kaum erkennen. Ich sah nur das seltsame goldene Leuchten in ihren Augen.
»Geh weg von mir.« Sie sprach langsam, als käme jedes Wort von einem unerreichbaren Ort tief in ihrem Inneren.
Link kam aus dem Wasser und rubbelte seine strubbeligen Haare mit dem Handtuch trocken. Er sah lächerlich aus mit seiner Plastikschwimmbrille, die ihm seine Mutter aufgenötigt hatte, als er noch klein war. »Hab ich was verpasst?«
Ich berührte meine Lippen und stöhnte auf. Dann sah ich das Blut an meinen Fingern.
Lena stand auf.
Ich hätte dich beinahe umgebracht.
Sie drehte sich um und stürmte in den Wald.
»Lena!« Ich rannte ihr nach.
Barfuß durch die Wälder South Carolinas zu rennen, ist alles andere als empfehlenswert. Es herrschte gerade Dürre, und das Seeufer war mit trockenen Zypressennadeln übersät, die sich wie tausend kleine Messer in meine Füße bohrten. Aber ich lief immer weiter. Ich hörte Lena mehr, als ich sie sah, wie sie zwischen den Bäumen hindurchrannte.
Verschwinde!
Ein großer Kiefernast brach ab und krachte ohne Vorwarnung ein paar Schritte vor mir auf den Weg. Über mir hörte ich schon den nächsten Ast knacken.
L, bist du verrückt?
Immer mehr Äste fielen herunter und verfehlten mich um Haaresbreite. Nie traf mich einer, aber die Warnung war klar.
Hör auf damit, Lena!
Lauf mir nicht nach, Ethan! Lass mich in Ruhe!
Der Abstand zwischen uns vergrößerte sich. Ich steigerte mein Tempo. Baumstämme und Gestrüpp sausten links und rechts an mir vorbei. Lena rannte kreuz und quer durch den Wald, sie folgte keinem Weg, aber sie lief Richtung Highway.
Vor mir stürzte ein Baum um, er verfing sich waagerecht zwischen den anderen Bäumen. Für einen Augenblick war ich wie in einer Falle gefangen. In dem umgestürzten Baum war das Nest eines Fischadlers. Wenn sie bei vollem Verstand gewesen wäre, hätte Lena so etwas niemals zerstört. Ich bog die Zweige auseinander, suchte nach kaputten Eiern.
Dann hörte ich ein Motorrad und mein Magen zog sich zusammen. Ich kroch unter dem Baum hindurch. Mein Gesicht war verkratzt und blutig, aber ich schaffte es gerade noch rechtzeitig bis zur Straße, um zu sehen, wie Lena auf den Beifahrersitz einer Harley stieg.
Was machst du da, L?
Einen Moment lang drehte sie sich nach mir um. Dann fuhr das Motorrad los und ihr Haar wehte im Wind.
Ich verschwinde von hier.
Sie hielt sich an dem Motorradfahrer fest, der auf dem Parkplatz der Jackson High gewesen war. Er war der Reifenschlitzer.
Das Motorrad. Jetzt fiel es mir wieder ein. Es war auf einem von Lenas Friedhofsfotos zu sehen gewesen, und zwar auf dem, das von ihrer Wand verschwand, nachdem ich sie danach gefragt hatte.
Sie würde garantiert nicht mit irgendeinem Typen auf dem Motorrad mitfahren.
Es sei denn, sie kannte ihn.
Ich wusste nicht, was schlimmer war.