Bonaventura
19.6.
Ich rannte, denn ich wurde verfolgt. Ich sprang über Hecken, schlitterte über menschenleere Straßen und durch Hinterhöfe. Das Einzige, was immer gleich blieb, war mein Adrenalinspiegel. Ich wagte es nicht, auch nur eine Sekunde stehen zu bleiben.
Dann sah ich die Harley. Sie kam direkt auf mich zu, die Scheinwerfer wurden immer größer. Der Lichtschein war grün und so grell, dass ich die Hände schützend vors Gesicht halten musste …
Plötzlich wachte ich auf. Um mich herum war alles in pulsierendes grünes Licht getaucht. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war, aber dann sah ich, dass der grüne Schein von dem Bogenlicht ausging. Die Kugel strahlte wie eine Festbeleuchtung am Nationalfeiertag. Sie lag auf der Matratze, offenbar war sie aus meiner Hosentasche gefallen. Aber das Bettlaken sah ganz anders aus als zu Hause. Und das Bogenlicht flackerte wie verrückt.
Nach und nach fiel es mir wieder ein – die Sterne, der Tunnel, der Dachboden, das Gästezimmer. Jetzt begriff ich auch, warum das Bettlaken anders war …
Und mir fiel noch etwas auf: Liv lag nicht mehr neben mir.
Es dauerte nicht lange, bis ich sie aufgespürt hatte. »Schläfst du überhaupt jemals?«
»Nicht so viel wie du«, sagte Liv, ohne den Blick von ihrem Teleskop zu wenden. Es war aus Aluminium und viel kleiner als das Gerät, das sie auf Marians Veranda benutzt hatte.
Ich setzte mich neben sie auf die Hintertreppe. Der Garten spiegelte die Ruhe und Gelassenheit meiner Tante wider. Ein schlichter grüner Rasen erstreckte sich unter einem ausladenden Magnolienbaum.
»Wieso bist du aufgestanden?«, wollte Liv wissen.
»Ich habe einen Weckruf erhalten«, sagte ich möglichst beiläufig, damit sie nicht merkte, wie es mir wirklich ging. Nämlich entsetzlich. Ich deutete zum Gästezimmer im zweiten Stock hoch. Sogar von hier unten sah man durch die Fensterscheiben hindurch das pulsierende grüne Licht.
»Merkwürdig. Ich hatte auch einen. Wirf mal einen Blick durch.« Sie reichte mir das Minifernglas. Wäre nicht die große Linse gewesen, hätte man es für eine Taschenlampe halten können.
Unsere Hände berührten sich, als ich es nahm. Keine Spur von Elektrizität, kein Stromschlag, keine Spannung.
»Hast du das etwa auch selbst gebaut?«
Sie lächelte. »Professor Ashcroft hat es mir geschenkt. Jetzt hör auf zu reden und schau. Dorthin.« Sie deutete über den Magnolienbaum auf eine Stelle, die für meine sterblichen Augen aussah wie ein großer, dunkler, sternenloser Himmelsfleck.
Ich stellte das Teleskop scharf und sofort war der Himmel sternenübersät. Ein geheimnisvolles Flimmern bewegte sich geisterhaft und zog eine Spur nicht weit von uns bis auf die Erde. »Was ist das? Eine Sternschnuppe? Haben Sternschnuppen solche Schweife?«
»Wenn es eine normale Sternschnuppe gewesen wäre, vielleicht ja.«
»Woher weißt du, dass es keine ist?«
Sie tippte auf das Fernrohr. »Es ist ein Caster-Stern, der am Caster-Himmel niedergeht. Eine gewöhnliche Sternschnuppe könnten wir auch ohne Teleskop sehen.«
»Und was sagt deine komische Uhr dazu?« Das Selenometer lag neben Liv auf der Treppenstufe.
Sie nahm es in die Hand. »Ich weiß nicht, was es anzeigt. Ich dachte schon, es ist kaputt. Aber das war, bevor ich den Himmel gesehen habe.«
Durch das Fenster sah man weiter das grüne Bogenlicht aufblitzen.
Mir fiel ein, was ich geträumt hatte. Die Harley war direkt auf mich zugekommen, als wäre ich ihr erklärtes Ziel. »Hier können wir nicht bleiben. Irgendetwas geht hier vor.« Irgendetwas hier in Savannah.
Liv streifte sich das Selenometer wieder übers Handgelenk. »Was immer es ist, es scheint sich genau dort abzuspielen.« Sie verstaute das Teleskop in ihrem Rucksack und deutete in die Ferne.
Es war Zeit aufzubrechen.
Ich streckte die Hand nach ihr aus, aber sie stand ohne meine Hilfe auf. »Du weckst Link und ich hole inzwischen meine Sachen.«
»Ich versteh immer noch nicht, warum das nicht bis morgen warten kann.« Link war schlecht gelaunt, sein Strubbelhaar stand nach allen Seiten ab.
»Sieht das hier so aus, als ob es bis morgen Zeit hätte?« Das Bogenlicht pulsierte inzwischen so hell, dass es die ganze Straße vor uns erleuchtete.
»Könntest du deine Wahrsagekugel nicht ein bisschen schwächer stellen? Auf halbe Leistung oder so?« Link hielt sich schützend die Hand vor die Augen.
»Ich glaube nicht, dass das funktioniert.« Ich schüttelte das Bogenlicht, aber das grüne Licht blinkte trotzdem weiter.
»Mann, du hast den Magic-8-Ball kaputt gemacht.«
»Hab ich nicht …«, protestierte ich, aber dann gab ich auf und stopfte das Bogenlicht wieder in meine Tasche. »Ja, wahrscheinlich ist es hin.« Das Licht sah man noch durch die Jeans hindurch leuchten.
»Möglicherweise ist ein plötzlicher Ausbruch von Caster-Energie dafür verantwortlich, dass das Bogenlicht nicht so funktioniert wie sonst«, sagte Liv fasziniert.
Links Faszination hielt sich in Grenzen. »Du meinst, es sendet Alarm oder so was? Klingt nach einem schlechten Zeichen.«
»Das ist nicht unbedingt gesagt.«
»Machst du Witze? Es ist immer ein schlechtes Zeichen, wenn Commissioner Gordon den Bat-Alarm auslöst. Oder wenn die Fantastischen Vier die Zahl Vier am Himmel sehen.«
»Ich verstehe.«
»Wirklich? Und bist du auch so schlau, den richtigen Weg zu finden, jetzt wo Ethan den Wunderball kaputt gemacht hat?«
Liv warf einen Blick auf das Selenometer. »Ich kann euch zumindest in die Nähe der Stelle führen, wo der Stern niedergegangen ist.« Sie sah mich an. »Falls es ein Stern war. Links Einwand ist allerdings berechtigt. Ich weiß weder genau, wohin wir gehen, noch was wir dort vorfinden werden.« Mit dieser aufmunternden Feststellung stapfte sie los.
»Beinahe wünschte man sich, man hätte seine eigene Gartenschere dabei«, sagte ich und folgte ihr.
»Wo wir gerade über Verblüffendes sprechen, schaut mal da drüben …« Link zeigte auf den Bordstein vor einem Haus mit roten Fensterläden. Lucille saß dort und sah uns ungeduldig an, vermutlich weil wir so lange herumtrödelten. »Ich hab dir doch gesagt, dass sie zurückkommt.«
Missmutig putzte Lucille ihre braunen Pfoten und wartete.
»Du hast es nicht ohne mich ausgehalten, was, meine Süße? Die Mädels stehen eben einfach auf mich«, sagte Link grinsend und kraulte sie am Kopf. Lucille schlug mit der Tatze nach ihm.
»Komm jetzt«, lockte er sie. »Was ist, hast du keine Lust?« Lucille rührte sich nicht vom Fleck.
»Die Mädels stehen eben einfach auf ihn«, sagte ich zu Liv, als Lucille sich vor dem Haus der Länge nach ausstreckte.
»Sie wird schon noch kommen«, sagte Link. »Das tun sie alle.«
In diesem Augenblick sprang Lucille auf und rannte los, genau in die entgegengesetzte Richtung, die wir eingeschlagen hatten.
Es war mitten in der Nacht und stockdunkel, als wir die Stadt hinter uns ließen. Mir kam es vor, als wären wir schon seit Stunden unterwegs. Tagsüber herrschte auf der Straße geschäftige Betriebsamkeit, jetzt war sie menschenleer. Kein Wunder, wenn man bedenkt, wohin sie führte.
»Und du bist sicher, dass wir hier richtig sind?«
»Ganz und gar nicht. Es ist lediglich eine Schätzung, gestützt auf die mir zur Verfügung stehenden Daten.« Liv war etwa alle fünf Blocks stehen geblieben und hatte zur Kontrolle durch ihr kleines Fernrohr gespäht.
»Ich mag es, wenn sie so superschlau daherredet.« Link zog Liv am Zopf und Liv stieß ihn fort.
Ich betrachtete die großen Steinsäulen, die rechts und links vom Eingang des berühmten Bonaventura-Friedhofs am Stadtrand von Savannah aufragten. Er ist nicht nur einer der berühmtesten Friedhöfe in den Südstaaten, sondern auch einer der bestgesicherten. Und genau hier lag das Problem, denn natürlich war er nachts geschlossen.
»Mann, das soll doch wohl ein Witz sein! Wollt ihr ernsthaft da rein?« Link konnte sich etwas Schöneres vorstellen, als nachts über einen Friedhof zu spazieren, besonders weil vor dem Eingang ein Wachtposten stand und in regelmäßigen Abständen ein Streifenwagen vorbeifuhr.
Liv besah sich eine eindrucksvolle Frauenstatue, die ein großes Kreuz umklammerte. »Bringen wir es hinter uns.«
Link zog seine Gartenschere hervor. »Mal sehn, ob dieses nette kleine Ding hier ausreicht.«
»Nicht durchs Tor.« Ich deutete zwischen die Bäume. »Über die Mauer.«
Liv schaffte es, mir mitten ins Gesicht zu latschen, gegen meinen Hals zu treten und ihre Turnschuhe tief zwischen meine Schulterblätter zu rammen, bis ich sie auf die Mauer gehievt hatte. Oben angekommen verlor sie das Gleichgewicht und landete mit einem dumpfen Schlag auf dem Boden.
»Nichts Schlimmes passiert, keine Panik«, rief sie von der anderen Seite der Mauer.
Link und ich sahen uns an, dann ging er ein wenig in die Knie. »Du zuerst. Ich mach’s danach auf die Wildwesttour.«
Ich stellte mich auf seine Schultern und er richtete sich langsam auf. »Ja, und wie willst du das schaffen?«
»Ich such mir einen Baum, der dicht genug an der Mauer ist. So was wird sich ja wohl finden lassen. Ich schaff das schon, Alter.«
Ich umklammerte die obere Kante der Mauer und zog mich mit beiden Händen hoch.
»Ich hab ja nicht umsonst all die Jahre die Schule geschwänzt«, brüstete sich Link.
Grinsend ließ ich mich auf der anderen Seite nach unten fallen.
Fünf Minuten und sieben Bäume später führte uns das Bogenlicht immer weiter in den Friedhof hinein, vorbei an verfallenden Grabsteinen der Konföderierten und an Statuen, die die Gräber längst Vergessener bewachten. Moosbewachsene Eichen standen dicht nebeneinander, ihr Geäst spannte sich wie ein Baldachin über den schmalen Pfad. Das Bogenlicht pulsierte stärker.
»Wir sind da. Hier ist es doch, oder?« Ich schaute über Livs Schulter auf das Selenometer.
Link sah sich um. »Wo? Ich sehe nichts.« Wortlos deutete ich zwischen die Bäume. »Da drüben? Im Ernst?«
Auch Liv war aufgeregt. Sie riss sich nicht gerade darum, auf einem finsteren Friedhof durch dichte Flechten aus Louisiana-Moos zu kriechen. »Ich kann nichts ablesen, das Ding spielt total verrückt.«
»Macht nichts. Hier ist es, das weiß ich genau.«
»Du glaubst, dass Lena, Ridley und John irgendwo dahinten sind?« Link machte den Eindruck, als würde er liebend gern wieder zurückgehen und draußen vor dem Tor oder besser noch in einem Steakhaus auf uns warten.
»Vielleicht.« Ich schob die Moosflechten zur Seite und stieg hindurch.
Von der anderen Seite wirkten die Bäume sogar noch gespenstischer. Ihre Äste hingen wie ein zweiter Himmel dicht über unseren Köpfen. Vor uns lag eine Lichtung, in der Mitte zwischen den Gräbern stand die imposante Figur eines betenden Engels. Die Gräber waren mit Stein eingefasst, und ich konnte die Särge, die sich in der Erde darunter befanden, fast vor mir sehen.
»Schau mal, Ethan.« Liv deutete auf eine Stelle neben der Engelsstatue. Im schwachen Mondlicht erkannte ich die Umrisse von Menschen. Sie bewegten sich.
Wir hatten Gesellschaft.
Link schüttelte den Kopf. »Das kann nichts Gutes bedeuten.«
Beunruhigt blieb ich stehen. Was, wenn es Lena und John waren? Aber was um alles in der Welt hatten sie nachts allein auf einem Friedhof zu suchen? Ich ging den Pfad weiter, der von Statuen gesäumt war – kniende Engel, die zum Himmel aufschauten, weinende Engel, die mit gesenkten Köpfen zu uns herabblickten.
Ich wusste selbst nicht, was ich erwartet hatte, aber ganz bestimmt nicht die Gestalten direkt vor uns.
Es waren Amma und Arelia, Macons Mutter. Ich hatte sie bei Macons Begräbnis zum letzten Mal gesehen. Die beiden Frauen saßen zwischen den Grabreihen. Ich war so gut wie erledigt. Ich hätte es wissen müssen, dass Amma mich überall finden würde.
Und noch eine Frau saß zusammen mit ihnen auf der Erde. Ich kannte sie nicht. Sie war etwas älter als Arelia, hatte aber den gleichen bronzefarben schimmernden Teint. Ihr Haar war zu unzähligen kleinen Zöpfchen geflochten, und sie trug zwanzig, dreißig Ketten um den Hals, manche mit Edelsteinen und bunten Glasperlen, manche mit kleinen Vögelchen und anderen Tieren, dazu noch mindestens zehn große Ohrringe an jedem Ohr.
Die drei saßen mit untergeschlagenen Beinen im Kreis, dort wo die Grabsteine ihre Schatten auf die staubige Erde warfen. Zu dritt hatten sie sich an den Händen gefasst. Amma wandte uns den Rücken zu, aber sie wusste garantiert, dass ich hier war.
»Du hast ziemlich lange gebraucht. Wir haben schon gewartet, und du weißt, wie ich Warten hasse.« Amma wirkte nicht ungehaltener als sonst, was mich wunderte, denn immerhin war ich abgehauen, ohne eine Nachricht zu hinterlassen.
»Amma, es tut mir wirklich so leid …«
Sie fuchtelte herum, als wollte sie eine Fliege totschlagen. »Dafür haben wir jetzt keine Zeit.« Sie schüttelte den großen Knochen, den sie in der Hand hielt. Jede Wette, es war ein menschlicher Knochen vom Friedhof.
Ich sah sie fragend an. »Hast du uns hierhergeführt?«
»Nein, das war nicht ich. Es war etwas anderes, etwas, das stärker ist als ich. Ich wusste bloß, dass du herkommen würdest.«
»Woher?«
Amma warf mir einen mitleidigen Blick zu. »Woher weiß ein Vogel, wo Süden ist? Woher weiß ein Seewolf, wie man schwimmt? Wie oft muss ich es dir denn noch sagen, Ethan Wate? Man nennt mich nicht umsonst eine Seherin.«
»Ich habe dein Kommen auch vorausgesehen«, warf Arelia ein. Wie hätte sie das nicht; und trotzdem ärgerte sich Amma darüber, das sah man ihr an.
Entschlossen streckte sie das Kinn vor. »Aber erst nachdem ich es gesagt hatte.« Amma war es gewohnt, die einzige Seherin in Gatlin zu sein, und sie schätzte es gar nicht, wenn jemand sie übertrumpfen wollte, selbst wenn dieser Jemand eine Diviner mit übernatürlichen Kräften war.
Die mir unbekannte Frau sagte zu Amma: »Wir sollten jetzt anfangen, Amarie. Sie warten schon.«
»Kommt und setzt euch.« Amma winkte uns zu sich. »Twyla ist so weit.« Twyla. Der Name kam mir bekannt vor.
Arelia beantwortete meine unausgesprochene Frage. »Das ist Twyla, meine Schwester. Sie ist von weit her gekommen, um heute Nacht bei uns zu sein.«
Jetzt erinnerte ich mich. Lena hatte von ihrer Großtante gesprochen, die noch niemals aus New Orleans herausgekommen war. Bis heute.
»Das stimmt. Jetzt komm und setz dich neben mich, cher. Hab keine Angst. Es ist nur ein Beschwörungszirkel.« Twyla klopfte auf den freien Platz neben ihr. Amma setzte sich auf die andere Seite und sah mich streng an. Liv wich einen Schritt zurück. Für jemanden, der eine Hüterin werden wollte, war sie ziemlich verschreckt. Link blieb dicht hinter ihr. Amma hatte diese einschüchternde Wirkung auf Menschen, und so wie es aussah, standen ihr Twyla und Arelia in nichts nach.
»Meine Schwester ist eine mächtige Nekromantin«, erklärte Arelia voller Stolz.
Link schnitt eine Grimasse. »Hab ich das richtig gehört?«, raunte er in Livs Ohr. »Sie macht was mit Leichen? So was sollte man besser für sich behalten.«
Liv verdrehte die Augen. »Sie ist nicht nekrophil, du Blödmann. Eine Nekromantin ist eine Caster, die die Gabe hat, Tote herbeizurufen und mit ihnen zu sprechen.«
Arelia nickte. »Das stimmt, und wir brauchen die Hilfe von jemandem, der schon von dieser Welt gegangen ist.«
Ich wusste sofort, von wem sie sprach, wenigstens hoffte ich das. »Amma, versuchen wir, Macon zu rufen?«
Trauer überschattete ihr Gesicht. »Ich wünschte, wir könnten es, aber an den Ort, wo Melchizedek jetzt ist, können wir ihm nicht folgen.«
»Es ist Zeit.« Twyla zog etwas aus ihrer Tasche und blickte Amma und Arelia auffordernd an. Sofort veränderte sich ihre Haltung. Alle drei waren auf einmal ganz geschäftig, auch wenn ihr Geschäft darin bestand, Tote zu erwecken.
Arelia hielt die Hände vor den Mund und sprach leise hinein. »Meine Macht ist eure Macht, Schwestern.« Dann warf sie kleine Steine in die Mitte des Kreises.
»Mondsteine«, flüsterte Liv.
Amma zog einen Beutel mit Hühnerknochen hervor. Diesen Geruch würde ich überall erkennen. Es roch wie zu Hause in unserer Küche. »Meine Macht ist eure Macht, Schwestern.«
Sie warf die Knochen zu den Mondsteinen in den Kreis. Twyla öffnete ihre Hand, in der ein kleiner geschnitzter Vogel lag. Sie sprach die Worte, die ihm Macht verliehen.
»Für jene in dieser Welt, für jene in der andern,
öffnet das Tor denen, die dazwischen wandern.«
Sie begann zu singen, laut und wie im Fieber, die geheimnisvollen Worte zerrissen die Stille der Nacht. Ihre Augen drehten sich nach oben, aber sie schloss die Lider nicht. Arelia begann ebenfalls zu singen, dazu schüttelte sie Fransenschnüre mit hineingeflochtenen Perlen.
Amma fasste mich am Kinn und sah mir fest in die Augen. »Ich weiß, es wird nicht einfach für dich, aber es gibt ein paar Dinge, die du wissen musst.«
Die Luft in dem Kreis wirbelte und brodelte, dann stieg ein dünner weißer Nebelschleier auf. Twyla, Arelia und Amma sangen weiter, ihre Stimmen schwollen zu einem Crescendo an. Der Nebel schien auf sie zu hören, er wirbelte schneller, wurde dichter und kräuselte sich empor wie ein Tornado, der Geschwindigkeit aufnimmt.
Ohne Vorwarnung und als wäre es ihr letzter Atemzug, schnappte Twyla keuchend nach Luft. Der Nebel schien einem stummen Befehl zu gehorchen und verschwand in ihrem Mund. Zuerst dachte ich, dass sie auf der Stelle sterben würde. Sie saß stocksteif da, wie festgebunden, ihre Augen waren noch immer nach oben verdreht, der Mund geöffnet.
Link brachte sich in Sicherheit, während Liv zu ihr lief, um zu helfen. Sie streckte die Hand nach Twyla aus, aber Amma hielt sie zurück. »Warte.«
Twyla stieß den Atem aus. Der weiße Nebel strömte über ihre Lippen und stieg in der Kreismitte auf. Stieg auf und nahm Gestalt an. Nackte Füße schauten unter weißer Kleidung hervor, Konturen formten sich, füllten sich, wie Luft einen Ballon füllte. Ein Schemen bildete sich aus dem Dunst. Ich sah, wie die Gestalt in die Höhe wuchs, sah ihren zarten Hals und schließlich das Gesicht. Es war …
Meine Mutter.
Das ätherische Leuchten, wie nur Schemen es besaßen, ging von ihr aus. Und trotzdem war sie unverkennbar meine Mutter. Ihre Lider flatterten, dann sah sie mich an. Der Schemen sah nicht nur aus wie meine Mutter, es war meine Mutter.
Als sie sprach, klang ihre Stimme so sanft und melodisch, wie ich sie in Erinnerung hatte. »Ethan, mein Schatz, ich habe auf dich gewartet.«
Sprachlos starrte ich sie an. In keinem meiner Träume seit ihrem Tod, auf keinem Foto, in keiner Erinnerung war sie mir so greifbar erschienen wie in diesem Moment.
»Es gibt so viel, was ich dir sagen muss, so viel, was ich nicht sagen kann. Ich habe versucht, dir den Weg zu weisen, indem ich dir die Lieder sandte …«
Also war sie es gewesen. Sie hatte mir die Lieder gesandt. Lieder, die nur Lena und ich hören konnten. Seventeen Moons. Der Shadowing Song. Als ich sprach, kam meine Stimme von sehr weit weg, so als wäre es nicht meine eigene. »Das warst du?«
Sie lächelte. »Ja. Du hast meine Hilfe gebraucht. Aber jetzt braucht er deine Hilfe und du brauchst ihn.«
»Wer? Sprichst du von Dad?« Dabei wusste ich nur zu gut, dass sie nicht meinen Vater meinte. Sie sprach von dem anderen Mann, der uns beiden so viel bedeutet hatte.
Von Macon.
Sie wusste ja nicht, dass er gestorben war.
»Sprichst du von Macon?«
Das Funkeln in ihren Augen verriet mir, dass ich recht hatte. Ich musste es ihr sagen. Wenn etwas mit Lena passiert wäre, dann würde ich es auch erfahren wollen. Selbst jetzt noch, wo nichts mehr so wie früher war. »Macon ist nicht mehr unter uns, Mom. Er ist vor ein paar Monaten gestorben. Er kann mir nicht mehr helfen.«
Ich betrachtete sie, wie sie im Mondlicht schimmerte. Sie war so schön wie damals, als ich sie zum letzten Mal lebend gesehen hatte. Sie hatte mich auf der verregneten Veranda noch schnell in den Arm genommen, bevor ich zur Schule gegangen war.
»Hör mir zu, Ethan. Er wird immer bei dir sein. Nur du allein kannst ihn erlösen.«
Ihre Umrisse begannen zu verblassen. Ich streckte die Hand nach ihr aus, ich sehnte mich danach, sie zu berühren, doch ich griff ins Leere. »Mom?«
»Der Mond der Berufung wurde heraufbeschworen.« Sie löste sich auf, verging in der Schwärze der Nacht. »Wenn das Dunkle den Sieg davonträgt, wird der Siebzehnte Mond zugleich der letzte sein.« Ich konnte sie kaum noch erkennen, der wirbelnde Dunst zog sich in sich selbst zurück. »Beeil dich, Ethan. Dir bleibt nicht mehr viel Zeit, aber du kannst es schaffen. Ich glaube fest an dich.« Sie lächelte, und ich versuchte, mir ihren Gesichtsausdruck unauslöschlich einzuprägen, denn ich spürte, wie sie mir entglitt.
»Und wenn ich zu spät komme?«
Ich hörte ihre Stimme wie aus weiter Ferne. »Ich habe versucht, dich zu beschützen. Ich hätte wissen müssen, dass das unmöglich ist. Du warst schon immer etwas Besonderes.«
Ich blickte voller Sehnsucht auf den weißen Nebelschleier, der um sich selbst wirbelte wie der Kummer in meinem Magen.
»Mein Herzensjunge. Ich denke an dich. Ich liebe …« Stille verschluckte ihre letzten Worte.
Meine Mutter war hier gewesen. Für kurze Zeit hatte ich ihr Lächeln gesehen und ihre Stimme gehört. Jetzt war sie wieder fort.
Ich hatte sie ein zweites Mal verloren.
»Ich liebe dich auch, Mom.«