Als ich weiterblätterte, fiel eine lose Seite aus dem Buch und glitt auf den Boden. Ich hob sie auf und faltete das dünne Papier auseinander. Es war ein sehr feines Pergament, zart und durchscheinend wie Pauspapier. Auf eine Seite waren mit Tusche seltsame Muster gezeichnet: Ovale mit Dellen und Beulen, sie sahen aus wie von Kinderhand gemalte Wolken. Ich zeigte Liv das Pergament. Sie schüttelte wortlos den Kopf. Keiner von uns beiden wusste, was es zu bedeuten hatte.
Ich faltete das Pergament wieder zusammen, dann blätterte ich weiter bis zur letzten Seite. Hier stand noch etwas, das keinen Sinn ergab, jedenfalls nicht für mich.
In Luce Caecae Caligines
sunt,
Et in Caliginibus, Lux.
In Arcu imperium est,
Et in imperio, Nox.
Ohne lange nachzudenken, riss ich die Seite heraus und steckte sie in meine Hosentasche. Der Brief war die Ursache gewesen, dass meine Mutter tot war, und das, was auf diesen Seiten stand, vermutlich ebenfalls. Sie gehörten jetzt zu mir.
»Ethan, ist alles in Ordnung mit dir?« Tante Del klang sehr besorgt.
Nichts war in Ordnung mit mir; ich wusste gar nicht mehr, wie sich das anfühlte, wenn alles in Ordnung war. Ich musste weg von hier, weg von der Vergangenheit meiner Mutter, weg von all den Gedanken in meinem Kopf.
»Bin gleich wieder da.« Ohne ein weiteres Wort rannte ich die Treppe hinunter ins Gästezimmer und legte mich schmutzig, wie ich war, aufs Bett. Ich starrte die Decke an, die genauso himmelblau gestrichen war wie die in meinem Zimmer. Dumme Bienen. Sie wurden übertölpelt und merkten es nicht einmal.
Vielleicht war ich ja derjenige, der übertölpelt wurde.
Ich war benommen und taub von den vielen widersprüchlichen Gefühlen. So ähnlich erging es wohl auch Tante Del, wenn sie in diesem alten Haus war.
Abraham Ravenwood war nicht Geschichte, er lebte und hielt sich mit Sarafine im Dunklen verborgen. Meine Mutter war dahintergekommen, deshalb hatte Sarafine sie getötet.
Alles verschwamm vor mir. Ich rieb meine Augen, weil ich dachte, dass sie voller Tränen seien, aber da war nichts. Ich kniff die Augen zusammen, aber als ich sie wieder öffnete, sah ich Farben und Lichter blitzschnell an mir vorbeifliegen. Lauter Bruchstücke – eine Wand, verbeulte silberfarbene Mülleimer, Zigarettenkippen. Es war genauso wie das verrückte Erlebnis vor dem Badezimmerspiegel. Ich wollte aufstehen, schaffte es aber nicht, weil mir schwindelig war. Bilderfetzen rasten weiter an mir vorbei, doch allmählich wurden sie langsamer, und ich konnte wieder klarer sehen.
Ich war in einem fremden Raum, vielleicht in einem Schlafzimmer, von meinem Platz aus konnte ich es nicht genau erkennen. Der Fußboden war aus grauem Beton und die weißen Wände waren mit den gleichen schwarzen Mustern bemalt, die ich auch an Lenas Händen gesehen hatte. Bei näherem Hinschauen schienen sie sich zu bewegen.
»Ich bin anders als alle anderen, anders als alle Caster.« Das war Lena. Ich blickte nach oben, von wo die Stimme kam.
Und da waren sie, Lena und John, an der schwarz getünchten Zimmerdecke. Sie lagen Kopf an Kopf und unterhielten sich, ohne einander anzusehen. Sie starrten so auf den Fußboden, wie ich nachts an die Decke starrte, wenn ich nicht einschlafen konnte. Lenas Haare flossen ihr über die Schulter, als läge sie auf dem Boden und nicht hoch oben an der Decke.
Ich hätte meinen Augen nicht getraut, wenn ich es nicht schon zuvor einmal erlebt hätte. Nur dass Lena diesmal nicht allein da oben lag. Und ich konnte sie auch nicht wieder nach unten ziehen.
»Meine Kräfte kann mir niemand erklären, nicht einmal meine Familie.« Sie klang elend und weit weg. »Jeden Tag wache ich auf und kann Dinge tun, die ich tags zuvor noch nicht tun konnte.«
»Das ging mir genauso. Eines Tages wachte ich auf und dachte an einen Ort, an dem ich gerne gewesen wäre, und einen Moment später war ich dort.« John warf einen Ball in die Luft und fing ihn auf, immer wieder. Nur dass er ihn in Richtung Fußboden und nicht in Richtung Decke warf.
»Heißt das, du hattest keinen blassen Schimmer, dass du raumwandeln kannst?«
»Ich wusste es erst, als ich es tatsächlich gemacht habe.« Er schloss die Augen, warf aber den Ball weiter in die Luft.
»Und was war mit deinen Eltern? Wussten sie Bescheid?«
»Ich kenne meine Eltern nicht. Sie haben sich aus dem Staub gemacht, als ich noch klein war. Sogar Übernatürliche gruseln sich vor einem Freak.«
Sagte er die Wahrheit? Zumindest klang er verbittert und verletzt.
Lena rollte sich auf die Seite und stützte sich auf den Ellbogen. »Das tut mir leid. Es muss schrecklich gewesen sein. Ich hatte wenigstens meine Großmutter, die sich um mich gekümmert hat. Und Macon.« Sie schaute auf den Ball, woraufhin er mitten im Flug verharrte. »Jetzt habe ich niemanden mehr.«
Der Ball fiel auf den Fußboden. Er hüpfte ein paarmal auf und ab, dann rollte er unters Bett. »Du hast Ridley«, sagte John. »Und du hast mich.«
»Glaub mir, wenn du mich erst richtig kennst, wirst du gar nicht schnell genug vor mir davonlaufen können.«
Sie lagen jetzt ganz nah beieinander. »Da irrst du dich. Ich weiß, wie es ist, wenn man unter Menschen ist und sich trotzdem allein fühlt.«
Lena sagte kein Wort. Hatte sie dieses Gefühl etwa auch gehabt, als wir zusammen waren? Hatte sie sich in meiner Gegenwart allein gefühlt? War sie einsam gewesen, als sie in meinen Armen gelegen hatte?
»L?« Mir drehte sich der Magen um, als ich ihn dies sagen hörte. »Wenn wir an der Weltenschranke sind, wird alles anders werden, das verspreche ich dir.«
»Die meisten Leute behaupten, es gäbe sie gar nicht.«
»Weil sie den Weg nicht kennen. Man gelangt nur durch das Tunnel-Labyrinth dorthin. Ich werde dich hinführen.« Er hob ihr Kinn an, damit sie ihm in die Augen sah. »Ich weiß, dass du Angst hast. Aber ich bin für dich da, wenn du das möchtest.«
Lena wandte den Blick ab und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Die schwarzen Muster wirkten jetzt noch dunkler, nicht mehr wie Filzstift, sondern eher wie die Tattoos von Ridley und John. Sie sah direkt zu mir herunter, ohne mich zu sehen. »Ich muss verhindern, noch einmal jemandem wehzutun. Was ich möchte, spielt keine Rolle.«
»Für mich schon.« John strich mit dem Daumen über ihre Wange und trocknete die Tränen, dann beugte er sich zu ihr. »Du kannst mir vertrauen. Ich werde dir niemals wehtun.« Er zog sie an sich, ihr Kopf lag auf seiner Schulter.
Kann ich das?
Mehr hörte ich nicht, und es wurde auch immer schwieriger für mich, sie zu sehen. Es war, als würde sie weggezoomt werden. Ich blinzelte, versuchte, mich zu konzentrieren, aber als ich die Augen wieder öffnete, sah ich verschwommen die blaue Zimmerdecke über mir und sonst nichts. Ich wälzte mich auf die Seite zur Wand. Ich war wieder in Tante Carolines Gästezimmer. Lena und John waren fort, zusammen an einem Ort, den ich nicht kannte.
Lena ging ihren Weg ohne mich. Sie hatte John ihr Herz geöffnet, und er hatte eine Saite in ihr zum Klingen gebracht, von der ich dachte, sie sei verstummt. Vielleicht war ich nie dazu bestimmt gewesen, diesen Teil von ihr kennenzulernen.
Macon hatte im Dunkeln gelebt, meine Mutter im Licht.
Vielleicht war es uns verwehrt, einen Weg zu finden, wie Sterbliche und Caster zusammen sein konnten, einfach weil es nicht sein durfte.
Es klopfte an der Tür, obwohl sie gar nicht abgeschlossen war. »Ethan? Ist alles in Ordnung mit dir?«
Liv. Ihre Schritte waren leise, doch ich hörte sie trotzdem. Die Bettkante senkte sich ein wenig, als sie sich setzte. Ich rührte mich nicht, aber ich spürte, wie ihre Hand über meinen Hinterkopf strich. Es war eine beruhigende und vertraute Geste, als hätte sie mich schon tausendmal gestreichelt. Das war das Schöne an Liv. Sie gab einem das Gefühl, als würde man sie schon ewig kennen. Sie schien immer zu wissen, was ich gerade brauchte. Vielleicht kannte sie mich besser als ich mich selbst.
»Ethan, alles wird gut. Wir werden herausfinden, was das zu bedeuten hat, das verspreche ich dir.« Ich wusste, sie meinte es ernst.
Ich drehte mich zu ihr. Die Sonne war schon untergegangen und es war dunkel im Zimmer. Ich hatte mir nicht die Mühe gemacht, das Licht anzuknipsen, aber ich sah ihre Silhouette.
»Ich dachte, du darfst dich nicht einmischen.«
»Stimmt. Das war das Erste, was Professor Ashcroft mir beigebracht hat.« Sie zögerte, dann sagte sie: »Aber ich kann nicht anders.«
»Ich weiß.«
Unsere Blicke trafen sich in dem Dämmerlicht. Seit ich mich umgedreht hatte, lag ihre Hand auf meiner Wange. In diesem Moment nahm ich Liv zum ersten Mal richtig wahr und etwas völlig Neues eröffnete sich mir. Sie war mir nicht gleichgültig, es hatte keinen Sinn, es zu leugnen. Liv spürte es ebenfalls, das sah ich ihr an.
Sie legte sich zu mir ins Bett und kuschelte sich an mich, den Kopf an meine Schulter gelehnt.
Meine Mutter hatte es geschafft, ohne Macon weiterzuleben. Sie hatte sich in meinen Dad verliebt, und das war doch der Beweis dafür, dass man sich wieder neu verlieben konnte, wenn man die Liebe seines Lebens verloren hatte. Oder etwa nicht?
Ich hörte ein leises Wispern, es war wie ein zarter Hauch an meinem Ohr. Liv hatte sich noch näher zu mir gebeugt. »Du wirst es herausfinden, wie alles andere auch. Außerdem hast du etwas, das die meisten Lotsen nicht haben.«
»Tatsächlich? Und was wäre das?«
»Eine hervorragende Hüterin.«
Ich schob meine Hand unter ihren Kopf. Der Duft von Geißblatt und Seife stieg mir in die Nase, es war Livs ganz eigener Geruch.
»Bist du deshalb gekommen? Weil ich eine Hüterin brauche?«
Liv zögerte mit ihrer Antwort. Sie überlegte, was sie sagen sollte, wie viel sie sagen sollte, was sie wagen konnte. Ich wusste das, denn mir gingen die gleichen Gedanken durch den Kopf.
»Das ist nicht der einzige Grund, aber er sollte es sein.«
»Weil du dich nicht einmischen darfst?«
Ihr Herz hämmerte an meiner Brust. Sie hatte sich unter meine Achsel geschmiegt und sie passte genau dorthin.
»Weil ich nicht will, dass man mir wehtut.« Sie hatte Angst, aber nicht vor Dunklen Castern oder Inkubi oder goldenen Augen. Sie fürchtete sich vor etwas viel Alltäglicherem, das jedoch nicht weniger gefährlich war. Es war viel unscheinbarer, aber ungleich mächtiger.
Ich zog sie an mich. »Ich will das auch nicht.« Sie hatte meine eigenen Ängste laut ausgesprochen.
Wir schwiegen eine Weile, ich hielt sie fest und dachte an die vielen Möglichkeiten, wie man einen Menschen verletzen konnte, wie ich sie und mich selbst verletzen konnte. Das eine bedingte das andere. Man kann es schwer erklären, aber wenn man so von der Welt abgeschottet war wie ich in den letzten Monaten, dann hatte man in etwa so viel Scheu, sich jemand anderem mitzuteilen, wie sich in der Kirche nackt auszuziehen.
Hearts will go and stars will follow, one is broken, one is hollow.
Das war unser Lied gewesen, Lenas und meins. Ich war derjenige, der zerbrochen war. Aber musste ich deswegen für immer leer und empfindungslos sein? Oder wartete womöglich noch etwas anderes auf mich? Vielleicht ein ganz neues Lied?
Zur Abwechslung vielleicht Pink Floyd? Hollow laughter in marble halls.
Ich lächelte in die Dunkelheit, lauschte auf Livs leise Atemzüge, bis sie irgendwann einschlief. Ich fühlte mich total ausgelaugt. Obwohl wir wieder in der Welt der Sterblichen waren, war ich im Geiste immer noch in der Caster-Welt und Gatlin lag in unerreichbarer Ferne. Ich wusste weder, wie ich hierhergekommen war, noch wusste ich, wie weit ich gegangen war und wie weit ich noch zu gehen hatte.
Ich fand gnädiges Vergessen im Schlaf, ohne zu wissen, was ich tun sollte, wenn ich an meinem Ziel angelangt war.