Hüten und Bewahren

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17.6.

Wenn man in Gatlin etwas in Erfahrung bringen wollte, dann musste man nur dem Klatsch der Leute zuhören. Und an einem Tag wie heute konnte man beinahe sämtliche Gatliner auf einem Fleck antreffen. Als wir auf dem Friedhof ankamen, wimmelte es dort bereits von Leuten. Den Schwestern sei Dank, kamen wir wie üblich zu spät. Zuerst hatte Lucille um nichts auf der Welt in den Cadillac einsteigen wollen, dann mussten wir noch einen Abstecher zum Garten Eden machen, denn Tante Prue wollte Blumen für alle ihre verstorbenen Ehemänner kaufen, aber keiner der fertigen Sträuße war gut genug für sie. Als wir schließlich alle wieder im Wagen saßen, erlaubte es mir Tante Mercy nicht, schneller als zwanzig Meilen die Stunde zu fahren. Mir hatte schon seit Monaten vor diesem Tag gegraut. Nun war er da.

Ich kämpfte mich den steilen Kiesweg zum Garten des Immerwährenden Friedens hinauf und schob Tante Mercy in ihrem Rollstuhl vor mir her. Dann kam Thelma, an einem Arm Tante Prue, am anderen Tante Grace. Lucille folgte uns, suchte sich ihren Weg über die Kieselsteine und war ansonsten sorgsam darauf bedacht, uns nicht zu nahe zu kommen. Tante Mercys Lackledertasche baumelte am Handgriff ihres Rollstuhls und traf mich bei jedem zweiten Schritt in die Magengegend. Bestimmt würde sich der Rollstuhl am Ende des Kieswegs im hohen feuchten Gras festfahren. Allein bei dem Gedanken kam ich ins Schwitzen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Link und ich Tante Mercy irgendwann im Feuerwehrgriff davontragen mussten, war ziemlich groß.

Wir kamen gerade rechtzeitig oben an, um mitzuerleben, wie sich Emily in ihrem schulterfreien Kleid in Szene setzte. Zu Allerseelen bekam jedes Mädchen ein neues Kleid. Da sah man weder Jeansminis noch Tanktops, sondern den allerbesten Sonntagsstaat. Es war wie ein großes Familientreffen, nur dass zehnmal mehr Leute da waren, denn so ziemlich die ganze Stadt, ja sogar der größte Teil des Bezirks war irgendwie miteinander verwandt – wenn nicht mit einem selbst, dann mit dem Nachbarn oder dem Nachbarn des Nachbarn.

Emily kicherte albern und klebte an Emory dran. »Hast du Bier mitgebracht?«

Emory schlug seine Jacke zurück und zeigte ihr einen silbernen Flachmann. »Was viel Besseres.«

Eden, Charlotte und Savannah hielten in der Nähe des Familiengrabs der Snows Hof. Es nahm in der langen Reihe von Grabmalen natürlich einen Sonderplatz ein und war überladen mit grellbunten Plastikblumen und kitschigen Engeln. Sie hatten sogar ein kleines Plastik-Rehkitz aufgestellt, das neben dem Grabstein Gras knabberte. Das Gräberschmücken war ein weiterer Wettbewerb in Gatlin, bei dem man beweisen konnte, dass die eigene Familie, ob tot oder lebendig, besser war als die Nachbarn und deren Verstorbene. Deshalb ließen sich die Leute auch so einiges einfallen, es gab Plastikkränze mit grünen Nylon-Ranken, glitzernde Hasen und Eichhörnchen, ja sogar Vogeltränken, alles so aufgeheizt von der Sonne, dass man sich beim Berühren Blasen an den Fingern holte. Es gab praktisch nichts, was zu übertrieben gewesen wäre, je kitschiger, desto besser, lautete die Devise.

Meine Mutter hatte immer ihren Spaß gehabt und einige Stücke zu ihrem Lieblingskitsch erkoren. »Es sind richtige Stillleben, Kunstwerke wie die Gemälde alter holländischer und flämischer Meister, nur eben aus Plastik. Die Absicht dahinter ist jedoch die gleiche.« Sie konnte über die übelsten Gebräuche in Gatlin spotten, aber die besten achtete sie. Vielleicht hatte ihr das geholfen, hier zu überleben.

Besonders gefallen hatten ihr die phosphoreszierenden Kreuze, die nachts leuchteten. An manchen Sommerabenden saßen wir auf dem Friedhofshügel und sahen zu, wie sie mit dem Einsetzen der Dunkelheit allmählich erstrahlten wie Sterne. Einmal hatte ich meine Mutter gefragt, warum sie so gerne hier draußen war. »Weil es Geschichte ist, Ethan«, hatte sie geantwortet. »Die Geschichte von Familien, von Menschen, die sie geliebt oder verloren haben. Diese Kreuze, diese albernen Plastikblumen und Tiere, sie wurden aufgestellt, damit wir uns an die erinnern, die uns fehlen. Das ist schön, und es ist unsere Aufgabe, die Erinnerung daran wach zu halten.« Meinem Vater hatten wir nie von diesen Abenden auf dem Friedhof erzählt. Es war etwas, das nur uns beiden gehörte.

Ich musste an den meisten meiner Mitschüler von der Jackson High vorbei und über den einen oder anderen Plastikhasen steigen, um zum Familiengrab der Wates am Rand des Friedhofs zu gelangen. Das war die Kehrseite des Allerseelentages und mit Gedenken hatte das nicht mehr viel zu tun. In spätestens einer Stunde würde jeder, der über einundzwanzig war, herumstehen und sich das Maul über die Lebenden zerreißen, allerdings erst nachdem er damit aufgehört hatte, sich das Maul über die Verstorbenen zu zerreißen. Und alle unter dreißig würden stockbesoffen hinter einem der Mausoleen sitzen. Alle außer mir. Ich war zu sehr mit dem Andenken an meine Mutter beschäftigt.

»Hey, Mann.« Link kam angetrabt und lächelte die Schwestern an. »Guten Tag, die Damen.«

Tante Prue prustete und schwitzte. »Wie geht’s dir heute, Wesley? Mir scheint, du wächst wie Unkraut.«

»Jawohl, Ma’am«, sagte Link höflich.

Hinter ihm tauchte Rosalie Watkins auf und winkte Tante Prue zu, woraufhin diese sagte: »Ethan, warum gehst du nicht ein Stück mit Wesley? Ich möchte Rosalie fragen, welches Mehl sie für ihre Bananen-Ananas-Torte verwendet.« Tante Prue rammte ihren Krückstock ins Gras, und Thelma half Tante Mercy, aus ihrem Rollstuhl aufzustehen.

»Kommt ihr wirklich ohne mich zurecht?«

Tante Prue warf mir einen missbilligenden Blick zu. »Natürlich. Wir haben schon auf uns selbst aufgepasst, als du noch gar nicht auf der Welt warst.«

»Als dein Vater noch gar nicht auf der Welt war«, verbesserte sie Tante Grace.

»Stimmt, da muss ich dir ausnahmsweise mal recht geben.« Tante Prue öffnete ihre Handtasche und angelte etwas heraus. »Ich habe die Marke dieser verflixten Katze gefunden.« Sie sah Lucille missbilligend an. »Hat ja nicht viel genützt, das Ding. Manchen Geschöpfen ist es einfach egal, dass man jahrelang für sie gesorgt hat und sie an der eigens für sie angebrachten Wäscheleine spazieren gehen durften. Da kann man kein Fünkchen Dankbarkeit erwarten.« Die Katze stolzierte davon, ohne Tante Prue auch nur eines Blickes zu würdigen.

Ich nahm das kleine Metallschildchen, in das Lucilles Namen eingraviert war, und steckte es in meine hintere Hosentasche. »Der Ring daran fehlt.«

»Am besten bewahrst du es in deinem Geldbeutel auf, falls du mal beweisen musst, dass sie gegen Tollwut geimpft ist. Sie beißt nämlich gerne. Thelma soll sich um ein neues Schildchen kümmern.«

»Danke.«

Die Schwestern hakten sich unter und machten sich auf den Weg. Ihre drei gigantischen Monsterhüte stießen aneinander, während sie auf ihre Freundinnen zuschlurften. Sogar die uralten Schwestern hatten Freunde. Nur mein Leben war beschissen.

»Shawn und Earl haben Bier und Jim Beam dabei. Wir treffen uns hinter der Krypta der Honeycutts.«

Na ja, ich hatte wenigstens Link. Allerdings wussten wir beide, dass ich mich nirgendwo betrinken würde. In ein paar Minuten würde ich am Grab meiner Mutter stehen. Ich würde daran denken, wie sie immer gelacht hatte, wenn ich ihr von Mr Lee und seinen verqueren Ansichten über die amerikanische Historie oder, wie sie zu sagen pflegte, amerikanische Hysterie erzählte. Wie sie und mein Dad in unserer Küche barfuß zu James Taylor getanzt hatten. Wie sie immer eine Antwort parat hatte, egal was schieflief. Jede Wette, sie hätte selbst dann noch eine Antwort gehabt, wenn meine Exfreundin mich gegen einen mutierten Übernatürlichen eingetauscht hätte.

Link legte mir eine Hand auf die Schulter. »Alles in Ordnung mit dir?«

»Ja, alles bestens. Lass uns ein bisschen herumgehen.« Ich würde heute an ihrem Grab stehen, aber ich war noch nicht bereit dazu. Jetzt noch nicht.

L, wo bist …

Ich riss mich zusammen und versuchte, an etwas anderes zu denken. Keine Ahnung, warum ich mich immer noch nach ihr sehnte. Vermutlich aus Gewohnheit. Statt Lenas Stimme hörte ich Savannah. Sie stand vor mir, war viel zu stark geschminkt, sah aber irgendwie trotzdem hübsch aus: glänzende Haarmähne, dick getuschte Wimpern und ein Sommerkleid mit schmalen Trägern, die nur dem Zweck dienten, dass Jungs davon träumten, sie herunterzustreifen. Vorausgesetzt man wusste nicht, was für ein Miststück sie war. Oder man wusste es und scherte sich nicht darum.

»Das mit deiner Mama tut mir wirklich leid, Ethan.« Sie räusperte sich umständlich. Wahrscheinlich hatte ihre Mutter sie zu mir geschickt, Stütze der Gesellschaft, die Mrs Snow nun einmal war. Heute Abend würde ich mehr als nur eine Schüssel mit Essen auf unserer Treppe vorfinden, so wie damals, einen Tag nach ihrer Beerdigung. Seit dem Tod meiner Mutter war ein gutes Jahr vergangen, aber in Gatlin schlich die Zeit langsam dahin, so wie Hundejahre, nur eben umgekehrt. Und genau wie am Tag nach der Beerdigung würde Amma die Schüsseln für die Opossums stehen lassen.

Von Schinken-Apfel-Auflauf schienen Opossums nie genug zu bekommen.

Trotzdem war es das Freundlichste, was Savannah seit letztem September zu mir gesagt hatte. Ich scherte mich zwar nicht darum, was sie von mir dachte, aber eigentlich war es doch ganz nett. Wenigstens eine Sache, die heute nicht ganz so beschissen war.

»Danke.«

Savannah setzte ihr falsches Lächeln auf und stöckelte davon, was nicht ganz leicht war, weil ihre hohen Absätze im Gras stecken blieben. Link lockerte seine Krawatte, die zerknittert und viel zu kurz war. Er hatte sie schon bei der Abschlussfeier der Sechsten getragen. Damals hatte er sich von zu Hause weggeschlichen mit einem T-Shirt an, auf dem stand: ICH BIN VON LAUTER IDIOTEN UMGEBEN. Vom Schriftzug zeigten Pfeile in alle Richtungen. Das beschrieb ziemlich genau meine jetzige Stimmung: umgeben von lauter Idioten.

Und es kam noch schlimmer. Vielleicht tat es den Leuten leid, dass ich einen verrückten Vater und keine Mutter mehr hatte, und sehr wahrscheinlich hatten sie Angst vor Amma, jedenfalls schien ich Loretta West als der bedauernswertesten Person am Allerseelentag den Rang abgelaufen zu haben. Loretta war dreifache Witwe, ihr letzter Mann war gestorben, nachdem ihm ein Krokodil ein Loch in den Bauch gebissen hatte. Aber wenn es einen Wettbewerb gegeben hätte, wäre mir die blaue Siegerschleife so gut wie sicher gewesen. Ich merkte das an der Art, wie die Leute den Kopf schüttelten, wenn ich an ihnen vorbeiging. Was für ein Unglück, dass Ethan Wate keine Mutter mehr hat.

Mit ebendiesem Kopfschütteln kam jetzt Mrs Lincoln auf mich zu. Du armer mutterloser und in die Irre geleiteter Junge stand ihr ins Gesicht geschrieben. Link verzog sich blitzschnell, um nicht dabei zu sein, wenn sie ihr Ziel erreichte. »Ethan, ich wollte dir nur versichern, wie sehr deine Mutter uns allen fehlt.« Keine Ahnung, wen sie mit uns allen meinte – ihre Freundinnen in der TAR, die meine Mutter nicht ausstehen konnten, oder die Frauen, die im Snip & Curl saßen und sich das Maul darüber zerrissen, dass meine Mutter zu viele Bücher gelesen hatte und dass das natürlich zu keinem guten Ende führen konnte. Mrs Lincoln wischte sich eine nicht vorhandene Träne aus dem Auge. »Sie war eine gute Frau. Weißt du, ich muss oft daran denken, wie gerne sie im Garten gearbeitet hat. Sie liebte es, im Freien zu sein, und pflegte ihre Rosen mit großer Hingabe.«

»Ja, Ma’am.«

Die einzige Arbeit, die meine Mutter je im Garten verrichtet hatte, war Cayennepfeffer über die Tomaten zu streuen, damit mein Vater dem Kaninchen, das die Stauden anknabberte, nicht den Garaus machte. Die Rosen waren allein Ammas Revier, das wusste jeder. Ich wünschte, Mrs Lincoln hätte das »mit großer Hingabe« Amma ins Gesicht gesagt. »Ich stelle mir vor, dass sie jetzt bei den Engeln ist, im schönen alten Garten Eden, und den Baum der Erkenntnis hegt und pflegt, zusammen mit den Cherubim und der …«

Schlange?

»Ich muss zu meinem Vater, Ma’am.« Ich musste schleunigst weg von hier, ehe der Blitz in Links Mutter fuhr – oder in mich, weil ich es ihr an den Hals wünschte.

Ihre Stimme verfolgte mich. »Sag deinem Vater, dass ich ihm später einen meiner guten Schinken-Apfel-Aufläufe vorbeibringe.« Das war der endgültige Beweis. Die blaue Siegerschleife gehörte mir.

Ich floh, so schnell ich konnte, aber an Allerseelen gab es kein Entrinnen. Kaum war man einem entsetzlichen Verwandten oder Nachbarn entkommen, traf man wenige Schritte weiter unweigerlich auf den nächsten. Oder, wie in diesem Fall, auf Links nicht minder entsetzlichen Vater.

Mr Lincoln stand neben Tom Watkins und legte ihm den Arm um die Schulter. »Earl war von uns allen der Beste. Er hatte die schönste Uniform, die beste Kampfaufstellung …« Links angesäuselter Vater unterdrückte ein Schluchzen. »Und er hat die beste Munition gemacht.« Zufälligerweise war Big Earl gestorben, als er gerade diese Munition hergestellt hatte, und Mr Lincoln hatte ihn als Anführer der Kavallerie beerbt, wenn jedes Jahr die Schlacht von Honey Hill nachgestellt wurde. Gegen seine Schuldgefühle hatte er eine Flasche Whiskey dabei.

»Ich wollte mein Gewehr mitbringen und für Earl eine Ehrensalve schießen, wie es sich gehört, aber die Verdammte Doreen hat es versteckt.« Doreen war Ronnie Weeks’ Frau, auch bekannt als Verdammte Doreen oder kurz VD, weil er sie zeit seines Lebens so genannt hatte. Mr Lincoln nahm noch einen Schluck aus der Flasche.

»Auf Earl!« Sie legten sich gegenseitig den Arm um die Schultern und erhoben ihre Getränke über Earls letzter Ruhestätte. Bier und Wild Turkey spritzten auf das Grab. So ehrte Gatlin seine Gefallenen.

»Jesus, hoffentlich werden wir nicht auch mal so.« Link verzog sich und ich folgte ihm. Seine Eltern schafften es immer wieder, ihn zu blamieren.

»Warum können meine Eltern nicht so sein wie deine?«, murmelte er.

»Meinst du, durchgeknallt oder tot? Nimm’s mir nicht übel, aber was den Geisteszustand angeht, kannst du dich nicht beschweren.«

»Dein Vater ist nicht verrückt, jedenfalls nicht mehr als alle anderen hier auch. Es stört doch niemanden, wenn er im Schlafanzug herumläuft, weil seine Frau gestorben ist. Aber meine Eltern haben keine Entschuldigung. Bei denen ist einfach so ’ne Schraube locker.«

»Wir werden nicht so wie sie. Du wirst ein berühmter Drummer in New York und ich werde – ach, keine Ahnung, jedenfalls jemand, der nichts mit Konföderiertenuniformen und Wild Turkey zu tun hat.« Es sollte zuversichtlich klingen, aber ich fragte mich, was von beidem unwahrscheinlicher war – dass Link ein berühmter Musiker würde oder dass ich jemals aus Gatlin herauskäme.

An meiner Schlafzimmerwand hing immer noch die Landkarte, auf der sich dünne grüne Fäden zu den Orten spannten, über die ich in Büchern gelesen hatte und die ich irgendwann mal bereisen wollte. Mein ganzes Leben lang hatte ich über Straßen nachgedacht, die irgendwohin führten, nur weg von Gatlin. Dann hatte ich Lena kennengelernt, und plötzlich war es, als hätte es diese Landkarte nie gegeben. Ich hätte es wahrscheinlich überall ausgehalten, sogar hier, solange wir nur zusammen waren. Komisch, wie uninteressant die Karte war, jetzt wo ich sie am nötigsten gebraucht hätte.

»Ich gehe lieber mal zu meiner Mutter rüber.« Ich sagte es, als wollte ich kurz in der Bibliothek vorbeischauen und sie in ihrem Archiv besuchen. »Du weißt schon.«

Link klatschte mich ab. »Wir treffen uns später. Ich geh ’ne Weile spazieren.« Spazieren? Link ging nicht spazieren. Er wollte sich betrinken, sich an Mädchen ranmachen und sich wie so oft eine Abfuhr holen.

»Was ist los? Du hältst doch nicht etwa nach der zukünftigen Mrs Wesley Jefferson Lincoln Ausschau?«

Link fuhr sich mit der Hand durch seine strubbeligen blonden Haare. »Wenn’s nur so wäre. Ich weiß, ich bin ein Idiot, aber im Moment geht mir das eine Mädchen nicht aus dem Kopf.« Das eine Mädchen, das genau das falsche war. Was sollte ich dazu sagen? Ich konnte ein Lied davon singen, wie es war, in ein Mädchen verliebt zu sein, das nichts von einem wissen wollte.

»Tut mir leid, Mann. Ich schätze, Ridley kann man nicht so einfach vergessen.«

»Ja, und dass ich sie vorgestern Abend gesehen habe, hat es nicht grade besser gemacht.« Er schüttelte frustriert den Kopf. »Ich weiß, sie soll Dunkel sein und so weiter, aber ich werd das Gefühl nicht los, dass das zwischen uns mehr als nur eine Affäre war.«

»Ich weiß, was du meinst.«

Wir beide waren zwei armselige Loser. Ich bezweifelte zwar, dass Ridley es jemals ernst mit Link gemeint hatte, aber ich wollte nicht, dass er sich noch elender fühlte. Er erwartete ohnehin keine Antwort von mir.

»Kannst du dich an all das Zeug erinnern, das du mir von Castern und Sterblichen erzählt hast, dass sie nicht zusammenkommen können, weil es den Sterblichen sonst umbringt?«

Ich nickte. Ich dachte an so gut wie nichts anderes. »Ja, und?«

»Wir sind uns mehr als nur einmal nahegekommen.« Er stieß die Fußspitze in den Boden und riss den perfekt gepflegten Rasen auf.

»Ich will’s gar nicht so genau wissen.«

»Schon gut. Was ich damit sagen will: Ich war nicht derjenige, der auf die Bremse getreten hat. Das war Rid. Ich dachte, sie würde sich nur so aus Spaß mit mir abgeben, mehr nicht.« Link lief auf und ab. »Aber wenn ich jetzt daran zurückdenke … Vielleicht hab ich mich ja getäuscht. Vielleicht wollte sie mir nur nicht wehtun.« Der Gedanke ging Link offensichtlich schon lange im Kopf herum.

»Kann sein. Sie ist trotzdem eine Dunkle Caster.«

Link zuckte mit den Schultern. »Ja, schon klar. Aber man wird doch noch träumen dürfen.«

Ich wollte Link sagen, was sich gerade abspielte und dass Ridley und Lena sich vielleicht schon aus dem Staub gemacht hatten. Ich machte den Mund auf, aber ich sagte kein Wort. Falls Lena mich tatsächlich mit einem Bann belegt hatte, wollte ich es lieber nicht wissen.

Seit der Beerdigung hatte ich das Grab meiner Mutter nur einmal besucht. Ich hatte nicht das Gefühl, dass sie tatsächlich hier lag, und erst recht nicht, dass sie wie Genevieve oder die Ahnen zwischen den Gräbern herumspukte. Nur im Archiv und im Arbeitszimmer zu Hause fühlte ich mich ihr nahe. Das waren die Orte, an denen sie gerne gewesen war, dort konnte ich sie mir vorstellen, wo auch immer sie jetzt war.

Aber nicht hier unter der Erde, nicht in dem Grab, an dem mein Dad kniete und die Hände vors Gesicht geschlagen hatte. Er war schon seit Stunden hier, das sah man ihm an.

Ich räusperte mich, damit er auf mich aufmerksam wurde. Irgendwie kam es mir vor, als würde ich die beiden in ihrer Zweisamkeit stören.

Er wischte sich übers Gesicht und stand auf. »Wie geht es dir?«

»Ganz gut, denke ich.« Schwer zu beschreiben, wie ich mich fühlte, aber gut ging es mir ganz sicher nicht.

Er schob die Hände in die Hosentaschen und starrte auf den Grabstein. Davor lag eine zarte weiße Blume im Gras. Sternjasmin.

Ich las die Inschrift, die mit schwungvollen Buchstaben in den Stein gemeißelt war:

LILA EVERS WATE
GELIEBTE FRAU UND MUTTER
SCIENTIAE CUSTOS

Ich las die dritte Zeile noch einmal. Mir war sie schon bei meinem letzten Besuch aufgefallen, Mitte Juli, ein paar Wochen vor meinem Geburtstag. Damals war ich allein hergekommen, und bei meiner Rückkehr nach Hause war ich noch so benommen vom Anblick des Grabes gewesen, dass ich nicht mehr daran dachte. »Scientiae Custos.«

»Es heißt Bewahrerin des Wissens. Marian hat es vorgeschlagen. Es passt gut, meinst du nicht auch?«

Wenn du wüsstest, Dad, dachte ich und zwang mich zu lächeln. »Ja, denn genau das war sie.«

Mein Vater legte mir den Arm um die Schulter und drückte mich fest, so wie er es früher gemacht hatte, wenn meine Juniormannschaft eine Niederlage einstecken musste. »Sie fehlt mir sehr. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass sie nicht mehr bei uns ist.«

Meine Kehle war wie zugeschnürt, deshalb brachte ich kein Wort heraus. Ich fürchtete, jeden Augenblick ohnmächtig zu werden, so weh tat mein Herz. Meine Mutter war gestorben. Ich würde sie niemals wieder sehen, egal wie viele Seiten sie in ihren Büchern aufschlug oder wie viele Botschaften sie mir sandte.

»Ich weiß, das alles war sehr schwer für dich, Ethan. Ich wollte mich dafür entschuldigen, dass ich in den vergangenen Monaten nicht für dich da gewesen bin, jedenfalls nicht so, wie ich es hätte sein sollen. Ich war einfach …«

»Dad«, unterbrach ich ihn, denn ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen schossen. Aber ich wollte nicht weinen. Diese Genugtuung wollte ich den versammelten Auflaufbäckerinnen nicht verschaffen.

Er drückte mich noch einmal kurz. »Ich mache einen Spaziergang und lass dich ein wenig allein mit ihr.«

Ich betrachtete den Grabstein, in den ein kleines keltisches Zeichen eingemeißelt war. Awen. Ich kannte es, denn meine Mutter hatte es immer besonders gemocht. Die drei Linien symbolisierten Lichtstrahlen, die an der Spitze aufeinander zuliefen.

Hinter mir hörte ich Marians Stimme. »Awen. Das ist gälisch und bedeutet dichterische Eingebung oder geistige Erleuchtung. Zwei Dinge, die deine Mutter wertschätzte.« Ich musste an die Zeichen im Türstock von Ravenwood denken, an die Zeichen im Buch der Monde und an der Clubtür des Exil. Symbole hatten eine Bedeutung, die manchmal über das bloße Wort hinausging. Meine Mutter hatte das gewusst. Ich fragte mich, ob sie deshalb eine Hüterin geworden war oder ob sie dieses Wissen von den Hütern vor ihrer Zeit erworben hatte. Es gab so vieles, was ich nie mehr über sie erfahren würde.

»Entschuldige, Ethan. Wärst du lieber allein?«

Ich ließ es zu, dass Marian mich umarmte. »Nein. Ich habe nicht das Gefühl, dass sie da unten liegt. Verstehst du das?«

»Ja, sehr gut sogar«, erwiderte sie lächelnd. Sie küsste mich auf die Stirn, dann zog sie eine grüne Tomate aus ihrer Tasche und legte sie vorsichtig auf den Grabstein, damit sie nicht herunterfiel.

»Als treue Freundin hättest du sie in Buttermilch schmoren müssen«, sagte ich mit einem schiefen Grinsen.

Marian legte den Arm um mich. Sie hatte ihr bestes Kleid an, wie alle anderen Friedhofsbesucher auch, aber in Sachen Eleganz konnte es keiner mit ihr aufnehmen. Das Kleid war von einem weichen Gelb, wie geschmolzene Butter, aus fließendem Stoff und mit einer locker gebundenen Schleife am Halsausschnitt. Nach unten fächerte es sich in tausend kleine Fältchen auf wie die Plisseekleider der Frauen in alten Stummfilmen. Es hätte auch Lena gut gefallen.

»Lila kennt mich gut genug, um zu wissen, dass ich so etwas nicht mache.« Sie nahm mich fester in den Arm. »Ich bin nur deinetwegen hergekommen.«

»Danke, Tante Marian. Die letzten Tage waren ziemlich hart.«

»Olivia hat es mir schon erzählt. Ein Caster-Club, ein Inkubus, ein Vex, und das alles in einer einzigen Nacht. Ich fürchte, Amma erlaubt dir nie wieder, mich zu besuchen.« Von dem Ärger, den, wie ich vermutete, Liv bekommen hatte, sagte sie nichts.

»Da ist noch etwas.« Lena. Ich konnte mich nicht überwinden, ihren Namen auszusprechen.

Marian sah mich an. »Ich habe es schon gehört und es tut mir leid. Aber ich habe dir etwas mitgebracht.« Sie griff in ihre Tasche und holte ein kleines Holzkästchen heraus, auf dessen Deckel ein ziemlich abgegriffenes Muster zu sehen war. »Wie gesagt, ich bin nur gekommen, um dir das hier zu geben. Es hat deiner Mutter gehört, es war einer ihrer wertvollsten Schätze. Es ist älter als die meisten Gegenstände ihrer Sammlung. Ich bin überzeugt, sie wollte, dass du es bekommst.«

Ich nahm das Kästchen an mich, es war unerwartet schwer.

»Sei vorsichtig, damit es nicht kaputtgeht.«

Ich öffnete behutsam den Deckel und rechnete damit, eines der vielen Sammlerstücke meiner Mutter aus dem Bürgerkrieg vor mir zu sehen – ein Fetzen von einer Fahne, eine Gewehrkugel, die Litze einer Uniform. Etwas, das wegen seiner Geschichte und seines Alters wertvoll war. Aber es war nichts davon, sondern etwas, das wertvoll war, weil es aus einer anderen Geschichte und einer anderen Zeit stammte. Ich wusste auf den ersten Blick, um was es sich dabei handelte.

Es war das Bogenlicht, das ich in den Visionen gesehen hatte.

Das Bogenlicht, das Macon Ravenwood dem Mädchen geschenkt hatte, das er liebte.

Lila Jane Evers.

Ich erinnerte mich an ein Kissen, das meiner Mutter schon als junges Mädchen gehört hatte. Darauf war ein Name gestickt gewesen. Jane. Tante Caroline hatte mir erzählt, dass nur meine Großmutter sie so genannt hatte – da ich meine Großmutter nie kennengelernt hatte, weil sie schon gestorben war, als ich auf die Welt kam, hatte ich es nie mit eigenen Ohren gehört. Tante Caroline hatte sich getäuscht. Meine Großmutter war nicht die Einzige gewesen, die meine Mutter Jane genannt hatte.

Und das hieß …

Meine Mutter war das Mädchen aus den Visionen.

Und Macon Ravenwood war die große Liebe ihres Lebens.