Untiefen

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15.6.

Der erste Augenblick verstrich quälend langsam und still, ehe die Verwirrung sich in einem lärmenden Durcheinander Bahn brach. Link schrie auf Liv ein, die auf mich einschrie, und ich schrie auf Marian ein, die wartete, bis wir alle aufgehört hatten zu schreien.

»Was tust du hier?«

»Warum habt ihr mich auf dem Jahrmarkt allein zurückgelassen?«

»Was hat sie hier zu suchen, Tante Marian?«

»Kommt rein.« Marian zog die getäfelte Tür weit auf und trat einen Schritt beiseite, um uns hineinzulassen. Hinter mir fiel die Tür wieder ins Schloss, und ich hörte, wie sich der Riegel von allein zuschob. Ich verspürte einen Anflug von Angst, ein Gefühl der Platznot, was unsinnig war, denn der Raum war alles andere als klein. Trotzdem fühlte ich mich beengt. Es war drückend hier drinnen, und ich kam mir vor, als wäre ich in etwas sehr Privates eingedrungen, in das Schlafzimmer eines anderen. So wie das Lachen kam mir auch der Raum bekannt vor, obwohl ich noch nie hier gewesen war. Genauso war es mir auch mit dem Gesicht in der Säule ergangen.

»Wo sind wir hier?«

»Eins nach dem anderen, EW. Ich beantworte euch eine Frage, dann beantwortet ihr mir meine.«

»Was macht Liv hier?« Ich wusste selbst nicht genau, warum ich so wütend war. War denn niemand, den ich kannte, ein ganz normaler Mensch? Musste jeder ein geheimes Leben führen?

Liv wirkte gereizt und stand vom Bett auf. Daneben befand sich ein Kamin, das Feuer darin sah seltsam aus, statt orangeroter Flammen schwelte es gleißend weiß.

»Olivia ist hier, weil sie den Sommer über meine wissenschaftliche Mitarbeiterin ist. Jetzt habe ich eine Frage an euch.«

»Moment mal, das war keine Antwort«, protestierte ich energisch. »Das wusste ich schon längst.« Wenn’s drauf ankam, konnte ich genauso dickköpfig sein wie Marian.

Mein Blick fiel auf einen kunstvoll ziselierten Kronleuchter an der hohen, gewölbten Decke. Er war aus poliertem weißen Horn gefertigt oder waren es Knochen? In den schmiedeeisernen Kerzenhaltern steckten spitz zulaufende Kerzen, die den Raum in ein sanftes, flackerndes Licht tauchten. Einige Ecken waren hell erleuchtet, andere blieben dunkel und geheimnisvoll. Die wuchtigen Pfosten des großen Himmelbetts aus Ebenholz lagen im Halbdunkel. Irgendwo hatte ich so ein Bett schon einmal gesehen. Alles kam mir heute wie ein wahnwitziges Déjà-vu vor und das machte mich rasend.

Marian lehnte sich gelassen an einen Stuhl. »Ethan, wie hast du diesen Ort gefunden?«

Was sollte ich darauf antworten, wo doch Liv und nicht Lena neben mir stand? Ich hatte gedacht, Lena gehört, sie gespürt zu haben. Stattdessen hatte mich meine Intuition zu Liv geführt. Ich verstand mich selbst nicht mehr.

Verwirrt sah ich mich um. Schwarze Holzregale erstreckten sich vom Fußboden bis zur Decke, vollgestopft mit Büchern und Sammelstücken. Ganz offensichtlich waren sie von jemandem zusammengetragen worden, der öfter kreuz und quer durch die Welt gereist war, als ich im Stop&Steal einkaufte. Auf einem der Regale waren alte Flaschen und Violen aufgereiht wie in einer altmodischen Apotheke, gleich daneben standen Bücher. Der Anblick erinnerte mich an Ammas Zimmer, nur dass hier keine gelesenen Zeitungen gestapelt waren und auch keine Einmachgläser mit Friedhofserde. Aber eines der Bücher fiel besonders auf: Licht und Dunkel. Der Ursprung der Magie.

Ich erkannte es sofort wieder, und jetzt wusste ich auch, an wen mich das Bett und die vielen Bücher und die tadellose Ordnung erinnerten. Das alles konnte nur einem Menschen gehören und der war nicht einmal ein Mensch.

»Das war Macons Zimmer, oder?«

»Möglich.«

Link ließ einen merkwürdigen Zeremoniendolch fallen, mit dem er herumgespielt hatte. Scheppernd fiel das kostbare Stück auf den Boden. Verlegen hob Link den Dolch auf und legte ihn zurück an seinen Platz. Tot oder nicht tot, Macon Ravenwood jagte ihm noch immer gehörigen Respekt ein.

»Ich nehme an, ein unterirdischer Caster-Tunnel verbindet diesen Raum direkt mit Macons Schlafzimmer in Ravenwood.« Der Raum war ein beinahe genaues Abbild seines Schlafzimmers in Ravenwood Manor, nur die schweren Vorhänge fehlten, die im Haus das Sonnenlicht fernhielten.

»Kann sein«, sagte Marian.

»Nach meiner Vision im Archiv hast du das Buch hierhergebracht, um zu verhindern, dass ich es noch einmal in die Hand nehme.«

Marians Antwort kam zögernd, sie schien jedes Wort genau abzuwägen. »Angenommen, du hast recht und dies hier ist tatsächlich Macons Privatzimmer, der Ort, an dem er sich sammelte und in sich ging, dann erklärt das noch immer nicht, wie du uns heute Abend gefunden hast.«

Ich versetzte dem schweren indischen Teppich einen Tritt. Er war schwarz-weiß und hatte ein kompliziertes Muster. Ich wollte nicht erklären müssen, wie ich hergefunden hatte, weil ich es selbst immer noch nicht ganz verstand. Wenn ich es in Worte fasste, dann würde alles noch verwirrender werden. Wie konnte mein Gefühl mich zu jemand anderem als zu Lena führen?

Aber solange ich Marian die Antwort schuldig blieb, würde sie mich hier festhalten. Also rückte ich mit der halben Wahrheit heraus. »Ich war auf der Suche nach Lena. Sie ist hier unten, zusammen mit Ridley und ihrem Freund John, und ich fürchte, sie steckt in Schwierigkeiten. Lena hat etwas gemacht … heute, auf dem Jahrmarkt …«

»Kurz gesagt, Ridley hat sich wie Ridley benommen. Aber Lena hat sich auch wie Ridley benommen. Vielleicht haben die Lollipops Überstunden gemacht.« Link wickelte ein Slim-Jim-Würstchen aus, eine Notration, die er immer bei sich hatte, deshalb bemerkte er meinen warnenden Blick nicht. Ich hatte nicht die Absicht gehabt, Marian oder Liv irgendwelche Einzelheiten zu erzählen.

»Wir waren zwischen den Bücherregalen, da hörte ich plötzlich ein Mädchen lachen. Es klang, ich weiß auch nicht, irgendwie fröhlich. Ich bin ihm bis hierher gefolgt. Dem Lachen, meine ich. Mehr kann ich wirklich nicht dazu sagen.« Ich sah Liv verstohlen von der Seite an und sah, wie sich ihre blasse Haut rötete. Ihr Blick war krampfhaft auf die Wand gerichtet.

Marian schlug die Hände zusammen, das tat sie immer, wenn sie etwas Bedeutendes entdeckt hatte. »Ich nehme an, das Lachen kam dir bekannt vor.«

»Ja.«

»Und du bist ihm, ohne nachzudenken, gefolgt, so wie man eben einer Eingebung folgt?«

»So könnte man sagen.« Ich wusste nicht, worauf sie hinauswollte, aber Marian hatte jetzt diesen irren Wissenschaftlerblick.

»Wenn du mit Lena zusammen bist, kannst du dich dann manchmal ohne Worte mit ihr unterhalten?«

Ich nickte. »Du sprichst von Kelting?«

Liv blickte mich entgeistert an. »Wie kann ein Sterblicher wissen, was Kelting ist?«

»Das ist eine ausgezeichnete Frage, Olivia.« Der Blick, den Marian und Liv tauschten, machte mich nervös. »Und die Frage schreit nach einer Antwort.« Marian ging zu den Regalen und durchstöberte Macons Bibliothek so beiläufig, als suchte sie die Autoschlüssel in ihrer Handtasche. Es störte mich, wie selbstverständlich sie mit seinen Büchern herumhantierte, obwohl er gar nicht da war und es nicht sehen konnte.

»Es hat sich einfach so ergeben. Irgendwie haben wir uns beide in unseren Gedanken gefunden.«

»Du kannst Gedanken lesen und hast mir nichts davon gesagt?« Link sah mich an, als hätte er gerade herausbekommen, dass ich der Silver Surfer höchstpersönlich war. Verwirrt kratzte er sich am Kopf. »Hey Mann, was soll dieser ganze Mist? Das geht mir langsam ziemlich auf den Keks.« Er wich meinem Blick aus. »Machst du das etwa auch bei mir? Du machst es grade, stimmt’s? Mann, verschwinde aus meinem Kopf.« Er wich vor mir zurück und drückte sich an eines der Regale.

»Ich kann deine Gedanken nicht lesen, du Idiot. Lena und ich, wir beide können manchmal gegenseitig unsere Gedanken hören.« Als ich Links Erleichterung sah, wurde ich misstrauisch. »Raus mit der Sprache, was hast du gerade über Lena gedacht?«

»Gar nichts. Ich hab nur so dahergeredet.« Er zog ein Buch aus dem Regal und tat so, als würde er eifrig darin lesen.

Marian nahm ihm das Buch aus der Hand. Es sah aus wie ein alter Geschichtenband oder ein Nachschlagewerk. »Ah, da ist es ja. Genau dieses Buch habe ich gesucht.« Sie schlug den brüchigen Ledereinband auf und blätterte zielstrebig durch die knisternden Seiten.

»Da.« Sie hielt Liv das Buch unter die Nase. »Kommt dir das bekannt vor?« Liv beugte sich über die Seiten, nickte, und gemeinsam blätterten sie um. Marian richtete sich auf und nahm Liv das Buch aus der Hand. »Nun. Wie kann ein gewöhnlicher Sterblicher kelten, Olivia?«

»Gar nicht, es sei denn, er ist kein gewöhnlicher Sterblicher, Professor Ashcroft.«

Die beiden lächelten mich an, als wäre ich ein kleines Kind, das gerade seine ersten Schritte gemeistert hat, oder vielleicht doch eher jemand, dem man mitteilen muss, dass er an einer unheilbaren Krankheit leidet. So oder so, ich wäre am liebsten auf der Stelle abgehauen.

»Darf ich auch mitlachen?«

»Das ist kein Witz. Überzeuge dich selbst.« Marian reichte mir das Buch. Ein Blick auf den Titel verriet mir, dass ich mit meiner Vermutung, es handele sich um ein Nachschlagewerk, gar nicht so falschgelegen hatte. Es war ein illustriertes Caster-Lexikon, das meiste geschrieben in Sprachen, die ich nicht verstand. Aber einiges davon war auch in Englisch. »Der Lotse.« Ich sah Marian fragend an. »Ist es das, wofür ihr mich haltet?«

»Lies weiter.«

»Der Lotse: der, der den Weg kennt. Synonyme sind: Dux, Speculator, Gubernator, General, Scout, Steuermann. Einer, der den Pfad aufzeigt.«

Diesmal kapierte Link schneller als ich. »Demnach ist er eine Art menschlicher Kompass? In der Welt des Übernatürlichen ist das aber ziemlich lahm. Hey Mann, du bist sozusagen der Aquaman bei den Castern.«

»Aquaman?«, wiederholte Marian verständnislos. Comics las sie wohl eher nicht.

»Das ist einer, der sich mit Fischen unterhält.« Link schüttelte betrübt den Kopf. »Leider hat er keinen Röntgenblick.«

»Ich habe keine übernatürlichen Kräfte«, protestierte ich. Oder etwa doch?

»Lies weiter.« Marian zeigte auf die Seite.

»Bereits lange vor den Kreuzzügen haben wir gewirkt. Man kannte uns unter vielen Namen und unter keinem Namen. Wir waren das Flüstern im Ohr des ersten Kaisers von China, als er über den Bau der Großen Mauer nachdachte, wir waren der treue Gefährte an der Seite des tapfersten Ritters von Schottland, als er für die Freiheit seines Landes kämpfte. Sterbliche, die zu Großem bestimmt waren, hatten stets jemanden, der sie leitete. So wie die verirrten Schiffe des Columbus oder des Vasco da Gama jemanden hatten, der sie in die Neue Welt lenkte, so sind auch wir zur Stelle und leiten Caster an, deren Wirken besonders bedeutsam ist. Wir sind …«

Ich hörte auf zu lesen, denn ich verstand nur Bahnhof. Liv beendete den Satz für mich, als hätte sie die Worte auswendig gelernt. »Wir sind die, die finden, was verloren war. Die, die den Weg kennen.«

»Lies den Rest.« Marian war jetzt ganz ernst. Ich kam mir vor, als verkündete ich eine Prophezeiung.

»Wir sind dem Großen anheimgegeben, um Großes zu bewirken und Großes zu erreichen. Wir sind dem Bedeutungsvollen anheimgegeben, um Bedeutungsvolles zu bewirken und Bedeutungsvolles zu erreichen.« Ich klappte das Buch zu und gab es Marian zurück. Ich hatte genug davon.

Es war schwer, Marians Miene zu entschlüsseln. Eine Weile drehte sie das Buch in den Händen hin und her, dann fragte sie Liv: »Hältst du es für möglich?«

»Es wäre denkbar. Es gab schon andere vor ihm.«

»Aber nicht bei den Ravenwoods. Und soweit ich weiß, auch nicht bei den Duchannes.«

»Aber Sie haben es selbst gesagt, Professor Ashcroft. Lenas Entscheidung ist folgenschwer. Wenn sie sich entschließt, Licht zu werden, müssen alle Dunklen Caster in ihrer Familie sterben, und wenn sie Dunkel wird …« Liv sprach nicht weiter, aber wir alle wussten, was passieren würde. Wenn sie sich für die Dunkle Seite entschied, würden alle Lichten Caster in ihrer Familie sterben. »Würden Sie nicht auch sagen, dass es sehr bedeutungsvoll ist, welchen Weg sie wählt?«

Mir gefiel die Wendung nicht, die das Gespräch nahm, auch wenn ich nicht ganz begriff, worauf es hinauslief. »Hallo? Ich bin auch noch da. Wollt ihr mich nicht endlich einweihen?«

Liv sprach so langsam, als wäre ich ein Kind in der Vorleseecke der Bücherei. »Ethan, in der Welt der Caster haben nur jene einen Lotsen, die zu Großem bestimmt sind. Solche Lotsen treten nicht oft auf, vielleicht in jedem Jahrhundert einmal, und das nie aus reinem Zufall. Wenn du tatsächlich ein Lotse bist, dann bist du aus einem bestimmten Grund hier – aus einem sehr wichtigen oder sehr schrecklichen Grund. Du bist die Brücke zwischen der Welt der Caster und der Welt der Sterblichen, und egal was du tust, du musst sehr vorsichtig sein.«

Ich ließ mich auf einen Stuhl an dem runden Tisch in der Mitte des Raumes sinken und Marian setzte sich neben mich. »Du hast deine eigene Bestimmung, so wie Lena auch. Und das heißt, dass alles sehr kompliziert werden könnte.«

»Meinst du etwa, die letzten Monate waren nicht schon kompliziert genug?«

»Du ahnst nicht, was ich alles gesehen habe. Was deine Mutter gesehen hat.« Marian wandte den Blick ab.

»Du denkst also, ich bin ein Lotse? Eine Art menschlicher Kompass, wie Link gesagt hat?«

»Mehr als das«, sagte Liv. »Lotsen kennen nicht nur den Weg, sie sind der Weg. Sie führen Caster auf dem Pfad, der für sie vorherbestimmt ist und den sie allein womöglich nicht finden würden. Vielleicht bist du der Lotse für einen Ravenwood, vielleicht auch für eine Duchannes. Das kann man im Augenblick nicht mit Bestimmtheit sagen.« Liv schien genau zu wissen, worüber sie sprach, aber für mich ergab es überhaupt keinen Sinn. Was dazu führte, dass meine Gedanken immer wieder um das kreisten, was sie und Marian gesagt hatten.

»Sag es ihr, Tante Marian. Ich kann gar kein Lotse sein. Meine Eltern sind ganz gewöhnliche Sterbliche.«

Niemand wies auf das hin, was offensichtlich war, nämlich dass auch meine Mutter zur Welt der Caster gehört hatte, genau wie Marian. Niemand wollte darüber sprechen, am allerwenigsten mit mir.

»Lotsen sind Sterbliche, sie sind eine Brücke zwischen der Welt der Caster und unserer Welt.« Liv griff nach einem anderen Buch. »Und deine Mutter kann man bestimmt nicht als gewöhnliche Sterbliche bezeichnen, ebenso wenig wie mich oder Professor Ashcroft.«

»Olivia!« Marian erstarrte vor Schreck.

»Willst du damit andeuten …«

»Seine Mutter wollte nicht, dass er es erfährt«, schnitt mir Marian das Wort ab. »Ich habe es versprochen, ganz egal was passiert …«

»Hört auf!« Ich knallte das Buch auf den Tisch. »Ich habe keinen Nerv für eure Regeln und Gelübde. Nicht heute Abend.«

Liv fummelte nervös an ihrem Selenometer herum. »Ich bin so eine Idiotin.«

»Was weißt du über meine Mutter?«, fragte ich sie. »Raus mit der Sprache.«

Marian schien bei meinen Worten zu schrumpfen und die hektischen Flecken auf Livs Wangen wurden noch röter. »Es tut mir leid.« Sie schüttelte den Kopf und blickte Hilfe suchend abwechselnd mich und Marian an.

Marian hob beschwichtigend die Hand. »Olivia weiß alles über deine Mutter, Ethan.«

Ich musterte Liv. Ich wusste, was sie mir sagen würde, ehe sie es ausgesprochen hatte. Die Wahrheit war endlich bis zu mir vorgedrungen. Liv wusste zu viel über Caster und Lotsen, und sie war hier, in einem unterirdischen Labyrinth, in Macons Arbeitszimmer. Wäre ich nicht so verwirrt gewesen von ihrem Gerede über Lotsen, hätte ich viel früher gemerkt, was Liv in Wirklichkeit war.

»Ethan.«

»Du bist eine von ihnen, stimmt’s? Du bist wie Tante Marian und meine Mutter.«

»Eine von ihnen?«, wiederholte Liv.

»Du bist eine Hüterin.« Als ich es aussprach, wurde es endgültig zur Gewissheit, und ich fühlte alles und nichts zugleich. Ich dachte an meine Mutter, wie sie hier unten mit dem schweren Caster-Schlüsselbund gewesen war, den jetzt Marian bei sich trug. An ihr geheimes Leben in dieser geheimen Welt, zu der mein Vater und ich niemals Zutritt gehabt hatten und an der wir auch jetzt niemals Anteil haben würden.

»Ich bin keine Hüterin.« Liv war verärgert. »Noch nicht. Eines Tages vielleicht. Ich arbeite daran.«

»Du arbeitest daran, um mehr zu werden als nur die Bibliothekarin der Stadtbibliothek von Gatlin. Deshalb bist du mit deinem komischen Stipendium hierhergekommen, mitten ins Nirgendwo. Falls es dieses Stipendium überhaupt gibt und es nicht komplett erfunden ist.«

»Ich bin eine lausige Lügnerin. Aber ich habe tatsächlich ein Stipendium, es wird allerdings von einer Gesellschaft verliehen, die nichts mit der Duke University zu tun hat.«

»Und auch nicht mit Harrow.«

Liv nickte. »So ist es.«

»Und die Ovomaltine? Hat wenigstens das gestimmt?«

Liv lächelte schuldbewusst. »Ich komme aus Kings Langley, und ich mag Ovomaltine wirklich sehr gern, aber seit ich in Gatlin bin, mag ich Nesquik ehrlich gesagt lieber.«

Link sank auf das Bett, kopfschüttelnd. »Ich hab keinen blassen Schimmer, wovon sie redet.«

Liv blätterte das Buch durch, bis sie auf eine Liste der Hüter stieß. Der Name meiner Mutter sprang mir sofort ins Auge. »Professor Ashcroft hat recht. Ich habe mich mit Lila Evers Wate beschäftigt. Deine Mutter war eine ausgezeichnete Hüterin und eine fantastische Autorin. Es gehört zu meinen Studien, die Aufzeichnungen aller meiner Vorgänger zu lesen.«

Aufzeichnungen? Meine Mutter hatte Aufzeichnungen hinterlassen, die Liv kannte und ich nicht? Ich musste mich zusammenreißen, um nicht auszurasten. Am liebsten hätte ich ein Loch in die Wand geschlagen. »Warum denn? Damit du nicht die gleichen Fehler machst wie sie? Damit du nicht auch bei einem Verkehrsunfall umkommst, den niemand gesehen hat und niemand erklären kann? Damit du nicht deine Familie im Stich lässt, die sich über dein geheimes Leben wundert, und die sich fragt, weshalb du nie auch nur ein Sterbenswörtchen davon gesagt hast?«

Auf Livs Wange traten wieder die beiden roten Flecken. Langsam gewöhnte ich mich an sie. »Nein, damit ich ihre Arbeit fortsetzen und ihre Stimmen am Leben erhalten kann. Damit ich, wenn ich eines Tages selbst eine Hüterin bin, weiß, wie ich die Archive der Caster bewahren kann – die Lunae Libri, die Schriftrollen, die Aufzeichnungen aller Caster. Ohne die Stimmen der Hüter, die vor mir waren, ist das unmöglich.«

»Wieso?«

»Weil sie meine Lehrer sind. Ich lerne aus ihren Erfahrungen, von ihrem Wissen, das sie in ihrer Zeit als Hüter gesammelt haben. Alles ist miteinander verwoben, und ohne ihre Aufzeichnungen kann ich die Dinge, die ich selbst entdecke, nicht verstehen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Das kapier ich nicht.«

»Ach, du kapierst das nicht? Dann frag mal mich! Worüber sprechen wir hier überhaupt, zum Teufel?«, ließ sich Link vom Bett her vernehmen.

Marian legte mir die Hand auf die Schulter. »Die Stimme, die du gehört hast, das Lachen in den Gängen, ich vermute, das war deine Mutter. Lila hat dich wahrscheinlich hierhergebracht, weil sie wollte, dass wir dieses Gespräch führen. Damit du deine Bestimmung verstehst und auch Lenas und Macons Bestimmung. Weil du auf immer an einen der beiden gebunden bist und das Schicksal mit ihm teilst. Ich weiß nur noch nicht, an wen.«

Ich musste an das Gesicht in der Säule denken, an das Lachen, an das Déjà-vu-Gefühl, das mich hier in Macons Zimmer überkommen hatte. War es das Werk meiner Mutter? Seit Monaten wartete ich auf ein Zeichen von ihr, seit jenem Nachmittag zu Hause im Arbeitszimmer, als Lena und ich die Botschaft in den Büchern entdeckt hatten.

Wollte sie mir jetzt endlich etwas mitteilen? Oder bildete ich mir das nur ein?

»Angenommen, ich bin so ein Lotse – womit ich nicht behaupte, dass ich euch auch nur ein Wort von all dem glaube –, dann werde ich Lena auch finden, richtig? Ich muss mich um sie kümmern, weil ich ihr Kompass oder was auch immer bin.«

»Da sind wir uns nicht sicher. Dein Schicksal ist untrennbar mit dem eines anderen verbunden, aber wir wissen nicht, mit wem.«

Ich sprang auf, stieß den Stuhl beiseite und ging zum Bücherregal. Ganz vorne lag Macons Buch. »Ich wette, es gibt jemanden, der es weiß.« Ich griff nach dem Buch.

»Nein, Ethan!«, rief Marian. Kaum hatte ich das Buch mit den Fingerspitzen berührt, schien sich der Boden unter mir aufzutun.

Im letzten Moment fasste mich jemand an der Hand. »Nimm mich mit, Ethan.«

»Liv, nein …«

Ein Mädchen mit langem braunen Haar klammerte sich verzweifelt an einen groß gewachsenen Jungen und drückte ihr Gesicht an seine Brust. Sie standen unter den knorrigen Ästen einer riesigen Eiche, die sie vor den Blicken anderer verbarg. Es gab ihnen das Gefühl, ganz allein zu sein, obwohl sie sich nicht weit entfernt von den efeuüberwachsenen Bauten der Duke University befanden.

Er nahm ihr tränenüberströmtes Gesicht sanft in beide Hände. »Glaubst du, für mich ist es einfach? Ich liebe dich, Jane, und ich werde niemals wieder jemanden so lieben wie dich. Aber uns bleibt keine Wahl. Du hast gewusst, dass der Augenblick kommen würde, an dem wir uns trennen müssen.«

Jane schob das Kinn vor und sagte entschlossen: »Es gibt immer einen Ausweg, Macon.«

»Nicht in einer Lage wie dieser. Und es gibt keinen Ausweg, der für dich gefahrlos wäre.«

»Aber deine Mutter sagte, dass es vielleicht doch eine Möglichkeit gäbe. Was ist mit der Prophezeiung?«

Macon schlug enttäuscht mit der Faust gegen den Baum. »Verdammt, Jane, das sind Ammenmärchen. Es gibt keinen Ausweg, der nicht mit deinem Tod enden würde.«

»Dann können wir eben nicht körperlich zusammenkommen – das macht mir nichts aus. Wir können trotzdem beisammen sein. Und das allein zählt.«

Macon riss sich von ihr los, in seinem Gesicht spiegelte sich seine ganze Qual wider. »Wenn ich auf die andere Seite wechsle, werde ich gefährlich sein. Dann bin ich ein Blut-Inkubus. Mein Vater sagt, ich werde so sein wie er und wie schon sein Vater war. Ich werde nach Blut lechzen wie alle Männer in meiner Familie seit meinem Urururgroßvater Abraham.«

»Dein Urahn Abraham, der es für die größte Sünde hielt, sich in eine Sterbliche zu verlieben und damit Schande über die Ahnenreihe zu bringen? Und auch deinem Vater kannst du nicht vertrauen. Er ist der gleichen Ansicht. Er möchte uns auseinanderbringen, damit du nach Gatlin, in diese gottverdammte Stadt, zurückkehrst und wie dein Bruder im Untergrund haust. Wie ein Ungeheuer.«

»Es ist zu spät. Ich fühle schon, wie ich mich verwandle. Die ganze Nacht hindurch wache ich und lausche hungernd den Gedanken der Sterblichen. Bald werde ich nach mehr als nur ihren Gedanken hungern. Schon kommt es mir vor, als könnte ich nicht mehr zurückhalten, was in mir lauert. Als wollte das Untier ausbrechen.«

Jane wandte sich ab, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Aber Macon ließ es nicht zu, dass sie sich diesmal über ihn hinwegsetzte. Er liebte sie. Und weil er sie liebte, musste er ihr begreiflich machen, warum sie nicht zusammenbleiben durften. »Während ich hier stehe, fängt das Licht bereits an, sich durch meine Haut zu fressen. Ich spüre die Hitze der Sonne mit aller Macht. Die Verwandlung hat bereits eingesetzt und danach wird alles nur noch schlimmer.«

Jane vergrub schluchzend ihr Gesicht in den Händen. »Du sagst das nur, um mir Angst zu machen, du willst gar keinen Ausweg suchen.«

Macon packte sie an den Schultern und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen. »Du hast recht. Ich will dir Angst machen. Weißt du, was mein Bruder seiner sterblichen Freundin angetan hat, nachdem er sich verwandelt hatte?« Macon zögerte, dann sagte er: »Er hat sie in Stücke gerissen.«

Er warf den Kopf zurück, seine goldgelben Augen leuchteten in scharfem Kontrast zu seinen eigenartigen schwarzen Pupillen. Es sah aus, als ob sich Zwillingssonnen verfinsterten.

Plötzlich wandte er sich von Jane ab. »Vergiss das nicht, Ethan. Die Dinge sind nie das, was sie zu sein scheinen.«

Ich schlug die Augen auf, aber alles war verschwommen. Erst als sich der Nebel verzogen hatte, sah ich die gewölbte Decke des Arbeitszimmers über mir.

»Das war unheimlich, Mann. Mindestens so gruselig wie der Exorzist.« Link schüttelte fassungslos den Kopf.

Ich streckte den Arm aus und Link half mir aufzustehen. Mein Herz raste wie verrückt. Ich vermied es, Liv anzusehen. Bei den Visionen waren bisher nur Lena und Marian dabei gewesen. Dass diesmal Liv alles miterlebt hatte, behagte mir ganz und gar nicht. Jedes Mal wenn ich sie ansah, musste ich daran denken, wie ich in das Zimmer gekommen war und sie für Lena gehalten hatte.

Liv setzte sich benommen auf. »Professor Ashcroft, Sie haben mir von diesen Visionen erzählt, aber ich hätte nie geglaubt, dass sie so echt … so physisch sind.«

»Du hättest nicht mitkommen dürfen«, sagte ich wütend. Für mich war es wie ein Betrug an Macon, dass ich Liv in sein Leben mit hineingenommen hatte.

»Warum nicht?« Sie rieb sich die Augen.

»Weil du das, was du gesehen hast, vielleicht gar nicht sehen solltest.«

»Was ich in einer Vision sehe, ist nicht identisch mit dem, was du siehst. Du bist kein Hüter. Nimm’s mir nicht übel, aber du hast keine Übung darin.«

»Weshalb sagst du ›nimm’s mir nicht übel‹, wenn du mich im gleichen Atemzug beleidigst?«

»Es reicht.« Marian sah uns erwartungsvoll an. »Nun sagt schon, was ist passiert?«

Liv hatte natürlich recht. Ich hatte keinen blassen Schimmer, was die Vision bedeuten sollte, außer dass Inkubi genauso wenig mit Sterblichen zusammen sein konnten wie Caster. »Ich habe Macon mit einem Mädchen gesehen, und es war die Rede davon, dass er ein Blut-Inkubus werden würde.«

»Macon befand sich gerade im Zustand der Transformation«, korrigierte mich Liv triumphierend. »Es schien sich um eine äußerst kritische Phase zu handeln. Ich weiß nicht, weshalb wir gerade diesen Augenblick miterlebt haben, aber es hat ganz sicher eine Bedeutung.«

»Täuscht ihr euch auch nicht? Vielleicht habt ihr nicht Macon, sondern seinen Bruder Hunting gesehen?«, fragte Marian.

»Nein«, antworteten wir beide wie aus einem Mund. An Liv gerichtet, fügte ich hinzu: »Macon war ganz anders als Hunting.«

Liv dachte einen Moment lang nach, dann nahm sie ihr Notizbuch, das auf dem Bett lag. Sie kritzelte etwas hinein und klappte es wieder zu.

Großartig. Noch ein Mädchen mit Notizbuch.

»Wisst ihr was?«, sagte ich. »Ihr seid die Fachleute. Ich überlasse es euch beiden herauszufinden, was es damit auf sich hat. In der Zwischenzeit mache ich mich auf die Suche nach Lena, bevor Ridley und ihr Freund sie zu etwas anstiften, was ihr später leidtut.«

»Willst du damit sagen, Lena tut, was Ridley will? Das ist ausgeschlossen, Ethan. Lena ist eine Naturgeborene. Einer Sirene wird es nicht gelingen, sie ihrem Willen zu unterwerfen.«

Marian tat die Vorstellung rundweg ab, aber sie wusste ja nichts von John Breed.

»Und wenn jemand Ridley dabei geholfen hat?«

»Wer sollte ihr geholfen haben?«

»Ein Inkubus zum Beispiel, dem das Tageslicht nichts ausmacht, oder ein Caster, der die gleichen Kräfte wie Macon hat und raumwandeln kann. Ich habe keine Ahnung, was genau er ist.« Es war vielleicht nicht die schlaueste Erklärung, aber wie sonst sollte ich John Breed beschreiben?

»Ethan, du musst dich irren. In den Aufzeichnungen gibt es weder einen Inkubus noch einen Caster, der solche Fähigkeiten in sich vereint.« Wie zum Beweis zog Marian ein Buch aus dem Regal.

»Jetzt gibt es ihn. Er heißt John Breed.« Wenn Marian nicht wusste, was John war, dann würden ihr auch die Bücher nicht weiterhelfen.

»Wenn deine Beschreibung von ihm stimmt, und ich muss gestehen, es fällt mir schwer, das zu glauben, dann frage ich mich, wozu er noch alles imstande ist.«

Ich warf Link einen Blick zu. Er spielte mit der Kette, an der sein Geldbeutel hing. Wir beide dachten das Gleiche. »Ich muss Lena finden«, sagte ich und wartete eine Antwort gar nicht erst ab.

Link hatte sich schon in Bewegung gesetzt und entriegelte die Tür.

Marian stand auf. »Ihr könnt ihr nicht folgen. Es ist zu gefährlich. Da unten tummeln sich Caster und andere Kreaturen, die unermessliche Kräfte haben. Ihr seid erst ein einziges Mal hier gewesen, und was ihr da gesehen habt, ist nur ein kleiner Teil, verglichen mit dem großen Tunnel-Labyrinth. Es ist eine Welt für sich.«

Ich brauchte von niemandem eine Erlaubnis. Vielleicht hatte mich meine Mutter tatsächlich hierhergeführt, aber sie war trotzdem nicht da. »Du kannst mich nicht daran hindern, Tante Marian, denn du darfst dich nicht einmischen, stimmt’s? Du kannst nichts anderes tun, als hier zu sitzen und zuzusehen, wie ich alles vermassle, und dann ein Buch darüber schreiben, damit jemand wie Liv später etwas daraus lernen kann.«

»Du weißt nicht, was du vorfindest. Wenn etwas passiert, dann kann ich nichts tun, um dir zu helfen.«

Das alles interessierte mich nicht. Marian hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, da war ich auch schon an der Tür. Liv kam hinterhergerannt. »Ich gehe mit, Professor Ashcroft. Ich passe auf, damit den beiden nichts passiert.«

Marian eilte zu uns. »Olivia! Das ist nicht deine Aufgabe.«

»Ich weiß. Aber sie werden mich brauchen.«

»Du kannst das Unabänderliche nicht ändern. Du musst dich heraushalten, egal wie schmerzvoll es auch sein mag. Ein Hüter darf nur aufzeichnen und Zeugnis geben, er darf nicht eingreifen.«

»Du bist eine Art Pausenaufsicht«, sagte Link und grinste. »Oder ein Cop wie Fatty.«

Liv kniff die Augen zusammen. Anscheinend gab es in England auch Leute, die Jagd auf Schulschwänzer machten. »Sie müssen mir nicht erklären, wie die Ordnung der Dinge funktioniert, Professor Ashcroft. Das wusste ich schon als Schulmädchen. Aber wie soll ich etwas bezeugen, wenn ich es niemals sehen darf?«

»Du kannst in den Schriftrollen der Caster darüber nachlesen, so wie wir anderen auch.«

»Kann ich das wirklich? Kann ich über den Sechzehnten Mond nachlesen? Über die Berufung, die vielleicht den Fluch der Duchannes aufgehoben hat? Haben Sie schon irgendwo etwas darüber gelesen?« Liv warf einen Blick auf ihre Monduhr. »Hier geht etwas Sonderbares vor sich, das ist ganz eindeutig. Erst dieser fremde Junge mit seinen unvergleichlichen Fähigkeiten, dann Ethans Visionen – nicht zu vergessen die Unregelmäßigkeiten, die sich wissenschaftlich nachweisen lassen. Fast unmerkliche Veränderungen, die ich auf meinem Selenometer erkenne.«

Fast unmerklich – sprich, so gut wie nicht vorhanden. Ich durchschaute ihren Schwindel. Olivia Durand saß hier ebenso fest wie wir, und Link und ich waren ihr Fahrschein nach draußen. Sie machte sich keine Sorgen, dass wir in den Tunneln verloren gehen könnten, sondern sie wollte mehr als eine bloße Zuschauerin sein und am Leben teilnehmen. So wie vor nicht allzu langer Zeit ein anderes Mädchen, das ich kannte.

»Aber vergiss nicht, dass …«

Die Tür fiel ins Schloss, ehe Marian den Satz zu Ende gesprochen hatte. Und schon waren wir auf und davon.