Vierzig
Es ist August.
Allison Fitch hat ihre übliche Schicht gearbeitet. Normalerweise schliefe sie um diese Zeit noch, aber heute ist sie früh auf. Sie hat einen Anruf bekommen und muss jetzt etwas erledigen. Sie ist angezogen, bereit, das Haus zu verlassen. Sie muss schnell noch in das Schalgeschäft unten. Letzte Woche war es ihr, entgegen jeder Wahrscheinlichkeit, gelungen, dort zwei Seidenschals im Wert von 123,76 Dollar mit einem Scheck zu bezahlen. »Ich wohne hier im Block, praktisch über dem Laden«, hatte sie gesagt. »Ich bin immer hier.« Sie hatte einen Ausweis vorgelegt. Ihren Führerschein. Ihre Handynummer herausgegeben. Die junge Frau an der Kasse war neu und ließ sich schließlich erweichen.
Der Scheck platzte.
Die Geschäftsführerin rief an. Dreimal. Zum letzten Mal vor fünfzehn Minuten. Sagte, sie würde die Polizei rufen und Allison wegen Scheckbetrugs anzeigen, wenn sie in der nächsten Stunde nicht mit 123,76 Dollar in bar im Laden steht.
Zufällig hat Allison gerade über fünfhundert Dollar in ihrer Handtasche. Ein Haufen Börsenmakler von einer bekannten Wall-Street-Agentur hat gestern Abend in der Bar eine Party gefeiert. Sie hatten irgendein Wahnsinnsgeschäft gemacht, das begossen werden musste. Und mit Geld um sich geworfen. Jede Menge Trinkgeld. Diese Vollidioten. Und davor hatte Allison am Geldautomaten zwei Hunderter abgehoben. Mit so viel Bargeld könnte sie am nächsten Tag shoppen gehen, hatte sie überlegt. Gleich nach dem Aufstehen. Ein kleiner Vorgeschmack auf die ganz große Kohle. Es kann nicht mehr lange dauern, bis Howard Talliman sich meldet, um eine Übergabe zu vereinbaren – Geld gegen Schweigen.
Junge, denkt sie. Sein Gesicht, als sie ihm weismachte, sie hätte irgendein höchst geheimes Gespräch zwischen Bridget und ihrem Mann belauscht. Der Typ sah drein, als hätte er eine Ratte in seinem Sandwich entdeckt. Sie war einfach davon ausgegangen, dass ein Mann wie Morris Sawchuck Geheimnisse hatte. Und dass er die vielleicht mit seiner Frau besprach.
Und wenn sie davon was mitbekommen hätte?
Das Beste dabei ist, dass sie überhaupt nichts gehört hat. Doch jetzt ist sie sich noch sicherer, dass sie die hundert Riesen bekommt. So zu tun, als hätte sie ein Gespräch mitgekriegt, war ein Schuss ins Blaue gewesen. Und hatte sich als Volltreffer erwiesen.
Also, was soll’s, denkt Allison. Zahlt sie der blöden Kuh eben die Schals und geht danach wieder ins Bett.
Gerade als sie in die Jacke schlüpft und sich den Riemen der Tasche über die Schulter legt, summt die Sprechanlage.
Allison drückt auf den Knopf. »Ja?«
»Ich bin’s. Wir müssen reden.«
Scheiße. Bridget.
Allison lässt sie herein, und dreißig Sekunden später steht Bridget vor der Wohnungstür.
»Hey«, sagt Allison. Bridget kommt in die Küche, und Allison schließt die Tür hinter ihr.
»Was hast du ihm gesagt?«
»Was?«
»Was hast du Howard gesagt? Was hast du ihm gesagt, das du gehört hast?«
Allison hält eine Hand in die Höhe. »Hör mal, wir haben uns getroffen, wir haben uns geeinigt, alles ist in Butter. Also mach dir keine Sorgen.«
»Was hast du gehört?«
»Darüber werde ich nicht mit dir diskutieren. Und noch was: Wenn hier jemand einen Grund hat, beleidigt zu sein, dann ich. Du hättest mit offenen Karten spielen sollen. Du hättest mir sagen müssen, wer du wirklich bist.«
»Allison, hör mir zu. Du machst einen Fehler, wenn du Howard zu sehr unter Druck setzt.«
»Wir sind bestens miteinander ausgekommen. Kein Grund zur Panik.«
»Egal, was er dir geben wird, du musst versprechen, dass du ihm nicht, niemals, mit irgendwelchen neuen Forderungen kommst. Er wird alles tun, um meinen Mann zu schützen. Wenn du klug bist, dann lässt du überhaupt die Finger davon. Du sagst ihm, dass du kein Geld willst, dass er sich dein Schweigen nicht erkaufen muss, dass du nie ein Sterbenswort über uns verlieren wirst, dass du nichts –«
»Hör mal, das ist alles schön und gut, aber ich muss jetzt weg. Ich muss runter zu der blöden Kuh, die behauptet, ich schulde ihr Geld. In fünf Minuten bin ich wieder da. Bleib hier, mach’s dir bequem. Wenn ich zurückkomme, sehen wir weiter.«
»Du musst mir glauben«, sagt Bridget. »Du hast dich da übernommen.«
»Ist ja gut, wir reden darüber, wenn ich wieder da bin.« Allison schiebt den Handtaschenriemen höher hinauf, tritt hinaus auf den Flur und schließt die Tür hinter sich.
Bridget bleibt noch einen Augenblick in der Küche stehen, dann wird sie unruhig und wandert in der Wohnung umher. Sie betritt den Wohnbereich, wo das Ausziehsofa, auf dem Allison schläft, noch aufgeklappt und mit zerwühlten Laken dasteht. Sie nimmt sich die Cosmopolitan, die auf dem Couchtisch liegt, sieht sich das Titelblatt an, auf dem Ashley Greene und die Schlagzeile »60 Sex-Tipps« prangen, bemerkt, dass es eine monatealte Ausgabe ist, und lässt sie wieder auf den Tisch fallen.
Sie geht ans Wohnzimmerfenster, sieht hinunter auf die Straße, beobachtet den Verkehr. Da unten fährt ein Wagen mit irgendetwas Komischem auf dem Dach. Ein Kleinwagen, ein Civic vielleicht. Das Ding, eine kurze Stange mit irgendeiner mechanischen Apparatur oben drauf, ist auf einer Art Dachträger befestigt.
Bridget verlässt das Fenster und wandert ruhelos weiter, ins Schlafzimmer. Auch hier ist das Bett nicht gemacht. Sie geht um das Bett herum ans Fenster, bleibt da stehen und lauscht auf die durch die Scheibe gedämpften Geräusche der Stadt. Sie ist nervös und macht sich schon mindestens zum hundertsten Mal Vorwürfe, weil sie sich auf so eine kompromittierende Beziehung eingelassen und damit alles in Gefahr gebracht hat. Sich selbst. Ihren Mann. Seine Zukunft.
Was bin ich nur für ein Idiot, denkt sie. So ein Idiot. Ich habe alles und werfe es einfach weg. Ich muss meine Impulsivität in den Griff bekommen. Da ist dieser komische Wagen wieder. Was hat der da eigentlich auf –
Hört ein Geräusch hinter sich. Will sich umdrehen.
Alles wird weiß.
Sie kann nicht atmen.
Nicole ist fertig. Sie hat das Handy. Es war in der Handtasche. Sie will los, da hört sie die Tür aufgehen. Der Räumtrupp kann das noch nicht sein. Zu früh. Sie hat ja gerade erst angerufen.
Die Mitbewohnerin. Es muss die Mitbewohnerin sein. Die sollte doch auf der Arbeit sein. Was hatte die tagsüber in der Wohnung verloren?
Scheißescheißescheiße.
Aus der Küche ruft eine Frau. »Bridget?«
Bridget?
Zwei Namen hat Nicole zu diesem Auftrag bekommen: Den der Zielperson, Allison Fitch, und den der Frau, mit der sie sich diese Wohnung in der Orchard Street teilt, Courtney Walmers.
Wenn die Frau, die Nicole gerade umgebracht hat, Bridget heißt, dann konnte die Frau, die gerade gekommen war, die Zielperson sein. Oder trotzdem die Walmers.
Spielt aber überhaupt keine Rolle. Und wenn es Britney Spears wäre. Es macht nur alles komplizierter. Und Nicole muss eine Lösung finden.
Sie will um das Bett herumgehen und sich flach an die Wand drücken, bevor die Frau ins Schlafzimmer kommt. Doch noch ehe sie einen Schritt tun kann, steht die Frau in der Tür.
Ihr Blick huscht von Nicole zu der Toten und wieder zurück. Blitzschnell.
Mehr braucht Nicole nicht, um zu erkennen, wer das ist. Dafür hat sie ja die Fotos bekommen. Das ist Allison Fitch. Sie hat ungefähr dieselbe Größe und Statur wie die Tote. In etwa dieselbe Haarfarbe.
Fitch schreit. Dreht sich um. Rennt.
Nicole weiß, sie muss schnell sein, um die Frau zum Schweigen zu bringen. Für immer.
Doppelte Arbeit für den Räumtrupp. Deren Bier.
Nicole will beim Verlassen des Zimmers dieselbe Abkürzung nehmen wie beim Eindringen. Einfach übers Bett. Weiß schon, wie sie sich bewegen muss, ohne darüber nachdenken zu müssen. Sich mit dem linken Fuß vom Fußboden abstoßen, mit dem rechten aufs Bett, mit dem linken kommt sie schon auf der anderen Seite auf.
Würde ihr eine volle Sekunde bringen.
Fitch ist gerade aus ihrem Blickfeld verschwunden, stürzt durch die Küche zur Wohnungstür. Nicole springt aufs Bett, doch ihr Fuß verfängt sich in der zerwühlten Decke. Sie taumelt vorwärts, reißt die Decke mit sich und knallt gegen die gegenüberliegende Wand.
Nicole befreit ihren Fuß aus der Decke, schießt durch die Schlafzimmertür wie ein Sprinter vom Startblock. Die Wohnungstür ist offen. Sie hört gehetzte Schritte im Treppenhaus, mindestens ein Stockwerk unter ihr.
Schlecht.
Nicole hastet die zwei Etagen abwärts. Nimmt immer drei Stufen auf einmal. Stürzt auf die Straße. Bleibt stehen. Schaut links. Dann rechts.
Keine Spur von Allison Fitch Richtung Norden.
Keine Spur von Allison Fitch Richtung Süden.
Nicole zückt ihr Handy und ruft Lewis an. »Das wird dir jetzt nicht gefallen«, sagt sie.
Lewis ruft Howard an. Sagt ihm, dass die Falsche getötet wurde. Dass Fitch entkommen konnte. Und dass es noch schlimmer kommt.
Die Tote ist Bridget.
»Heilige Mutter Gottes«, sagt Howard. »Was sagst du da? Bridget? Sie hat Bridget umgebracht?« All das stößt er aufgeregt flüsternd hervor, damit Agatha jenseits der Tür ihn nicht hört.
»Verdammt noch mal, Lewis, du hast gesagt, wir sollen das so regeln! Ich habe auf dich gehört! Du hast gesagt, du kennst jemand, der das regeln kann! Verfluchte Scheiße, Bridget?«
»Dampf ablassen kannst du später, Howard. Jetzt müssen wir uns was ausdenken. Und zwar schnell.«
Howard will noch länger toben, sieht aber ein, dass dazu die Zeit fehlt. Lewis hat recht. Sie müssen schnell handeln. »Man darf sie nicht dort finden«, sagte Howard. »Bridget darf auf keinen Fall in dieser Wohnung gefunden werden.«
»Ganz deiner Meinung.«
»Aber gefunden werden muss sie. Sie kann nicht einfach … verschwinden. Das würde sich monatelang hinziehen.«
»Ganz deiner Meinung.«
Howard überlegt. Er weiß nicht, in welchem Zustand Bridgets Leiche ist, und will auch keine Details wissen, nur das eine: »Kann man es wie einen Unfall aussehen lassen, oder noch besser, als hätte sie’s selbst getan?«
Lewis schweigt. Drei Sekunden lang. »Ja. Vielleicht.« Dann: »Morris und Bridget haben doch mehrere Wohnungen in der Stadt.«
»Wir müssen die nehmen, in die man am leichtesten reinkommt. Eine ohne Kameras und Türsteher. Ich habe Leute, die das übernehmen können. Sie werden sich als Umzugsleute verkleiden.«
Howard zwingt sich, sich zu konzentrieren. »Bridgets Wohnung. Die, in der sie gewohnt hat, bevor sie Morris kennengelernt hat. In der Nähe der Columbus Avenue. Kein Portier, und ich kann mich erinnern, dass sie gesagt hat, die Überwachungskameras sind nur Show. Sie sind nirgendwo angeschlossen. Sie hat die Wohnung behalten, für Freunde, die zu Besuch kommen. Der Schlüssel müsste noch an ihrem Schlüsselbund hängen.«
»Adresse?«
Howard gibt sie ihm.
»Alles klar«, sagt Lewis. »Ich weiß, wie wir das machen. Ich habe ihr Handy. Du wirst in der nächsten Stunde einen Anruf bekommen. Von Bridgets Handy. Den wirst du in Agathas Anwesenheit entgegennehmen. Dann wirst du so tun, als redest du mit Bridget.«
»Ich bin nicht doof, Lewis.«
»Howard, lass mich das einfach durchspielen. Du gehst ran, du fragst sie, was los ist, sie ist völlig mit den Nerven runter. Dann hängt sie auf, und wenn Agatha fragt, ob was nicht stimmt, sagst du: ›Bridget hat gesagt: Es tut mir so leid, Howard, aber er saugt mir das Mark aus den Knochen. Ich kann nicht mehr.‹ Meinst du, du bekommst das hin?«
»Ja.«
»Dann rufst du Morris an. Sagst ihm, du machst dir Sorgen um Bridget. Du hast so einen seltsamen Anruf von ihr bekommen.«
»Verstanden.« Howard sucht nach Schwachstellen. »Was ist mit einem Abschiedsbrief?«
»Schon erledigt«, sagt Lewis. »Hab was Handschriftliches von ihr in ihrer Handtasche gefunden. Kinderleicht. Schon mal gemacht.«
Es gibt noch immer Dinge, die Howard über Lewis nicht weiß. Aber so wütend er auch ist, in diesem Augenblick ist er froh, dass Lewis ein Profi ist.
»Tu’s.«
Lewis legt auf.
Howard muss sich erst ein wenig fangen. Er legt die Hände flach auf den Tisch, lehnt sich zurück, schließt die Augen und hofft, sich so weit wie möglich wegdenken und durchatmen zu können. Doch dazu müsste er sich hunderttausend Kilometer weit wegdenken können.
Lieber Gott.
Dann fällt ihm plötzlich ein, dass Agatha mit Freunden zu Mittag essen gehen will. Aber er braucht sie hier. Als Zeugin.
»Agatha«, sagt er, vergewissert sich, dass er sein Handy dabeihat und geht zu ihr an den Schreibtisch. »Ich brauche von Ihnen sämtliche Umfragewerte für Morris aus den letzten sechs Monaten.«
»Die Berichte sind alle im Computer«, sagt sie. »Ich kann Ihnen zeigen, wo.«
»Ich weiß, aber ich möchte, dass Sie sie mir auf einer Seite zusammenfassen. Auf Papier.«
»Ich mache das gleich nach dem Mittagessen.«
»Ich brauch’s jetzt. So schnell, wie’s geht.«
Agatha wirft einen Blick auf die Zeitanzeige in der Bildschirmecke. »Selbstverständlich, Howard. Ich mache das sofort. Ich will nur – ich muss nur schnell telefonieren und einen Termin umlegen.«
»Danke, das ist großartig.«
Sein Handy klingelt, und es ist, als sei in seinem Armani-Sakko eine Handgranate explodiert. Bemüht, seinen Schrecken zu verbergen, zieht er das Telefon heraus und hält es sich ans Ohr, ohne nachzusehen, wer dran ist.
»Howard.«
Er erwartet Schweigen. Macht sich bereit, selbst etwas zu sagen. Etwas wie Bridget? Alles in Ordnung mit dir. Was ist denn los?
»Hey, bleibt’s bei heute Abend?«, sagt Morris.
»Morris. Hallo.«
»Hast du’s vergessen?«
»Nein, natürlich nicht. Wir müssen reden.«
»Die Times ist mit der Geschichte nicht weitergekommen, aber sie werden nicht aufgeben.«
»Seh ich auch so.« Dann fragt Howard: »Kommt Bridget auch dazu?«
»Nein. Das Ganze regt sie so auf, das will sie sich nicht auch noch beim Abendessen antun.«
»Da ist sie nicht die Einzige«, sagt Howard.
»Ich bin noch immer der Meinung, dass ich das Richtige getan habe«, sagt Morris. »Wenn ich dieselbe Entscheidung noch einmal treffen müsste, ich würde es tun. Und wenn es rauskommt, dann werde ich das genauso sagen. Bis heute Abend.«
Howard steckt das Handy weg und sieht Agatha an, die etwas ausdruckt. »Tut mir leid. Sie hatten heute eine Verabredung zum Mittagessen, stimmt’s?«
»Kein Problem.«
Er geht in sein Büro zurück, lässt jedoch die Tür offen. Will so tun, als sei er beschäftigt, falls Agatha hereinkommen sollte. Aber er kann sich auf nichts konzentrieren. Howard wartet auf den Anruf. Und überlegt, wie es so weit kommen konnte.
Er hätte Bridget sagen müssen, sie solle sich von dieser Fitch fernhalten. Er hatte es nicht für nötig gehalten. Es war ihm überhaupt nicht in den Sinn gekommen, dass sie noch einmal Kontakt mit ihr aufnehmen könnte.
Dass sie zu ihr in die Wohnung gehen könnte. Genau zur selben Zeit wie –
Sein Handy klingelt.
Er holt es heraus und blickt auf die Anzeige: BRIDGET.
»Hallo?«, sagt er, steht auf und wandert hinaus, vorbei an Agathas Schreibtisch. Sie heftet irgendwelche Blätter zusammen.
»Bridget! Bridget, was ist denn los?«, sagt er und bleibt neben Agatha stehen. Sie spürt, dass etwas nicht stimmt, und unterbricht ihre Arbeit.
»Bridget, was ist mit dir?«, sagt er. Und nach einer Pause: »Wo bist du? Sag mir, wo du bist.«
Agathas Miene wird immer besorgter. Howard wechselt einen bangen Blick mit ihr.
»Bridget?« Er nimmt das Handy vom Ohr und sagt: »Aufgelegt.«
»Was ist denn los?«, fragt Agatha.
»Sie hat ganz wirr dahergeredet. Gesagt, dass es ihr leidtut, und dann irgendwas, dass Morris ihr das Mark aus den Knochen saugt, und sie nicht mehr kann.«
»Was hat sie gesagt?«
»Es war – es hat überhaupt keinen Sinn ergeben. Sie klang nicht wie sie selbst.« Er macht sich an seinem Handy zu schaffen. »Ich ruf sie zurück.«
Wartet. »Sie geht nicht ran. Na, komm schon. Verdammt, Bridget, geh ans Telefon.«
»Hat sie gesagt, wo sie ist?«
»Nein. Sie hebt nicht ab.« Er tippt eine neue Nummer ein. »Ich muss Morris anrufen. Vielleicht weiß er, wo sie ist.«
Morris weiß es natürlich nicht. Auch er versucht, sie auf dem Handy zu erreichen. Howard und Agatha fangen an herumzutelefonieren. Bei ihren Freunden. In ihren Lieblingsläden. Vielleicht war sie ja dort gewesen. In den Restaurants, in denen sie mit Freunden und Klienten zu Mittag ist.
Morris hat keine Ahnung, wo sie sein könnte. Oder was sie mit dem gemeint haben könnte, was sie zu Howard gesagt hat.
Erst Stunden später kommt Howard auf die Idee, in ihrer alten Wohnung nachzusehen. Er und Morris treffen noch vor der Polizei dort ein.
Man erkennt auf Selbstmord.
Die meisten Menschen wählen herkömmliche Methoden, wenn sie beschließen, sich das Leben zu nehmen. Eine Überdosis Schlaftabletten. Ein Schuss in die Schläfe. Ein Sprung von einem hohen Gebäude.
Bridget Sawchuck, so die Auffassung der Polizei, hat sich für eine unkonventionellere, wenn auch nicht beispiellose Methode entschieden. (Mehrere Leute im Umkreis der Ermittlungen sagen, sie erinnere an die Methode, welche die Figur wählt, die Ben Kingsley in dem Film Haus aus Sand und Nebel verkörpert; es gibt Spekulationen, sie habe sich davon inspirieren lassen, doch weder Morris Sawchuck noch einer ihrer Freunde wissen, ob sie den Film je gesehen hat.)
Zuerst schreibt sie an ihren Ehemann. Vier Wörter. »Morris: Verzeih mir. Bridget.« Die Ermittler werden die Handschrift für echt halten. Hier und da vielleicht ein bisschen daneben, aber schließlich war die Frau dabei, sich das Leben zu nehmen. Eine schöne Schrift war nicht ihre höchste Priorität.
Dann legt sie den Brief in der Diele auf den Boden, gleich vor die Wohnungstür. Als Nächstes nimmt sie einen Kleidersack aus dem Schrank und zieht ihn sich über den Kopf. Wickelt sich mehrmals reißfestes Klebeband um den Hals, um den Sack zu befestigen. Die Spurensicherung wird Spuren von Klebemittel auf ihren Fingern finden.
Mit dem noch verbleibenden Sauerstoff legt sie sich aufs Bett und fesselt sich mit Handschellen an die Bettpfosten, damit sie nicht aus reinem Überlebenstrieb vorzeitig beendet, was sie bereits in Gang gesetzt hat. Morris wird sagen, er habe keine Ahnung, woher sie die Handschellen hat. Die Polizei wird zu der Erkenntnis gelangen, dass sie sie irgendwann einmal, allein zu dem Zweck, sich damit das Leben zu nehmen, in einem Sexshop gekauft und bar bezahlt hat.
Zugegeben, vieles an diesem Tod ist verdächtig. Eine Frau, mit Handschellen ans Bett gefesselt und mit einem Plastiksack über dem Kopf. Doch es gibt keine Anzeichen für Gewaltanwendung oder einen Kampf. Keine Hinweise darauf, dass noch jemand hier war. Und es gibt diesen Einzeiler.
Am überzeugendsten von allem ist der Anruf auf Howards Handy. Der Netzbetreiber kann den Anruf in die Gegend zurückverfolgen, wo Bridget gefunden wurde. Agatha sagt aus, Howard habe direkt neben ihr gestanden, während er telefoniert hat. Sie hat seinen Teil des Gesprächs gehört. Bridget war offenkundig völlig verstört.
Howard sagt aus, es sei eindeutig Bridget gewesen, mit der er telefoniert habe. Er kannte ihre Stimme. Sie klang nicht im Mindesten so, als würde sie gezwungen zu sagen, was sie sagte. Der Anruf klang absolut echt.
Alle, die damit zu tun haben, wissen, dass das ein heikler Fall ist. Heikler geht fast nicht mehr. Die Tote ist die Frau des Justizministers. Und der macht, über seinen Berater Howard Talliman, seinen Einfluss geltend. Nichts wird nach außen dringen. Alle Indizien sprechen für Selbstmord, nichts für Fremdeinwirkung. Ein paar Tage später gibt es eine Presseerklärung. Bridget Sawchuck sei »plötzlich verstorben«.
Der Code für »Selbstmord«. Details werden nicht veröffentlicht.
Ein am Boden zerstörter Morris Sawchuck legt seine politischen Pläne auf Eis und bemüht sich, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen.
Währenddessen führt die Polizei eine oberflächliche Untersuchung der Umstände des Verschwindens von Allison Fitch durch. Niemand stellt einen Zusammenhang zwischen den beiden Ereignissen her. Viele Leute werden vermisst, und nach Aussagen der Mutter dieser Vermissten ist es auch früher schon vorgekommen, dass ihre Tochter längere Zeit unauffindbar blieb. Normalerweise tauchte sie wieder auf, wenn sie Geld brauchte.
Courtney Walmers, die über das Verschwinden ihrer Mitbewohnerin eher verärgert als verblüfft ist – sie vermutet, dass Fitch sich abgesetzt hat, um ihre Schulden nicht zurückzahlen zu müssen –, erhält Besuch von einem Mann, der sich als verdeckter Ermittler ausgibt. Er eröffnet ihr, dass Allison Fitch tagsüber von dem gemeinsamen Appartement aus Crack verkauft habe. Courtney, die ohnehin nicht viel von Allison gehalten hatte, ist dennoch über die Maßen schockiert. Und fassungslos, dass diese ständig pleite war, wo sie doch mit Drogen handelte. Der Ermittler informiert Courtney, dass die Wohnung noch unter Beobachtung stehe, und er den Anschein aufrechterhalten wolle, hier seien noch immer Drogen erhältlich. Er schlägt ihr vor, die Wohnung zu übernehmen, ebenso wie die letzte Miete hier und die erste in Courtneys neuer Unterkunft. Darüber hinaus will er ihr alles zurückzahlen, was Fitch ihr schuldet.
Courtney ist entsetzt. Courtney will weg. Courtney geht auf den Handel ein.
Lewis Blocker montiert die Kamera mit dem Bewegungsmelder an der Wohnungstür.
Nicole fährt nach Dayton, um Allison ausfindig zu machen.
Morris trauert.
Howard rechnet täglich mit einem Herzinfarkt.
Und dann, neun Monate später, klopft auf einmal ein Mann an die Tür dieser Wohnung, in der Hand den Ausdruck eines Fotos, auf dem ein Mord zu sehen ist. Den übrigens auch der Rest der Welt sehen kann, wenn er weiß, wo er suchen muss.