Einundsechzig
Grotesk«, sagte Howard. »Das ist einfach grotesk.«
»Moment, Moment, Moment«, wandte sich Lewis mit einer abwehrenden Geste an Howard. »Als ich den Typ durchleuchtet habe«, dabei deutete er mit einer Kopfbewegung auf mich, »bin ich auf eine seiner Illustrationen gestoßen. Das war eine von Carlo Vachon.«
»Genau«, sagte ich. »Die hab ich für eine Zeitschrift gemacht, und sie gefiel ihm so, dass er sie kaufen wollte.«
»Es war kein sehr schmeichelhaftes Porträt«, sagte Lewis. »Sie haben ihn gezeichnet, wie er der Freiheitsstatue die Knarre unter die Nase hält.«
»Gangster lieben so was«, sagte ich. »Da sind sie wie Politiker. Selbst wenn man sie in einer Karikatur total niedermacht, wollen sie das Original gerahmt an der Wand. Lieber diese Art von Aufmerksamkeit als überhaupt keine.«
»Ich glaub’s trotzdem nicht«, sagte Howard.
»Ich wollte kein Geld dafür – nicht, dass er mir was angeboten hätte. Ich glaube, er hat sowieso erwartet, dass er es gratis bekommt. Und als wir sagten, er könne es haben, hat er mich zum Mittagessen eingeladen.«
»Sie haben also mit Carlo Vachon zu Mittag gegessen«, sagte Howard.
»Ja.«
»Wo?«
Lass dir was einfallen. »Im Tribeca Grand.« Wo Jeremy und ich uns mit Kathleen Ford getroffen hatten.
»Was haben Sie gegessen?«, fragte Howard.
Nicht mehr lügen als unbedingt sein muss.
»Keine Ahnung. Ich hatte eine Scheißangst. Ich erinnere mich an gar nichts.« Nach einer Pause fügte ich hinzu: »Aber getrunken hab ich eine Menge. Er hat mich nach meiner Familie gefragt, und da kam ich auf meinen Bruder zu sprechen, und was er macht. Das fand Vachon ausgesprochen interessant.«
Diesmal sagte Howard nichts. Er wartete ab.
Aber Thomas funkte dazwischen. »Davon hast du mir nie was gesagt. Wann war das denn?«
»Jetzt wart mal«, sagte ich zu ihm. Und zu Howard: »Vachon interessiert sich nicht besonders für den Rest der Welt, aber jemand, der sich buchstäblich mit geschlossenen Augen in New York City zurechtfindet, der sich an jedes Detail einer Straße erinnert, so jemanden könne er gebrauchen, hat er gesagt. Zum Teil aus den Gründen, die Thomas schon genannt hat, wie Unterstützung eines Agenten auf der Flucht. Nur sind es natürlich keine Agenten, sondern die Leute von Vachon.«
»Das gefällt mir aber gar nicht, Ray«, sagte Thomas. »Das hättest du mir sagen müssen.«
»Vachon ist keiner, dem man was abschlägt«, sagte ich. »Weißt du, wie viele Morde sein Clan auf dem Gewissen hat? Glaubst du, so einem Typ sag ich, er kann mich mal?«
Howard und Lewis wechselten einen Blick. Was sollten sie von dieser Räuberpistole halten? Das Gute daran war, dass ich damit Zeit gewann. Zeit wofür? Das wusste ich nicht. Aber wir lebten noch, und das war definitiv ein Gewinn. Ich fragte mich, ob und welche Bemühungen unternommen wurden, uns zu finden. Julie hatte noch vorbeikommen wollen. Was hatte sie wohl getan, als sie sah, dass das Haus leer war, von uns keine Spur, mein Wagen in der Einfahrt?
Howard wollte eben etwas sagen, da klingelte sein Handy. Er zog es heraus, erkannte die Nummer und schnitt eine Grimasse.
Er hielt sich das Telefon ans Ohr. »Hi, Morris … Nein, nein, keine Sorge, du hast mich nicht geweckt … Ja, ich bin im Bett, aber irgendwie komme ich nicht zur Ruhe … Ja, klar, ich kann ihn morgen anrufen … Mhm … bei dieser Kampagne hat er echt gute Arbeit geleistet … Nein, kein Problem, und noch mal, es tut mir leid, dass ich absagen musste. Das wäre mir heute wirklich zu viel geworden … Mhm … Also, dann … Gleichfalls. Mach’s gut.«
Howard steckte das Handy wieder ein, sah Lewis an und sagte: »Er wollte sich heute Abend mit mir treffen.«
Jetzt wandte Howard seine Aufmerksamkeit wieder mir zu. »Also, wo waren wir? Ach ja, Ihre Geschichte. Klingt, gelinde gesagt, ziemlich unglaubwürdig.«
»Was von all dem, was Sie bisher gehört haben, klingt denn überhaupt glaubwürdig?«, fragte ich ihn. »Mein Bruder stößt im Internet auf einen Mord, den Sie und Ihre Leute auf dem Gewissen haben. Klingt das glaubwürdig? Und wer würde glauben, dass sich ein Haufen Profis wie Sie so blamiert?«
Das hatte gesessen.
»Wenn Sie mir nicht glauben«, sagte ich, »dann rufen Sie ihn doch an.«
»Wie bitte?«, fragte Howard.
»Vachon. Rufen Sie ihn an.«
Howard lachte. »Grandiose Idee! Ich rufe das Oberhaupt eines der mächtigsten Verbrecherclans mitten in der Nacht an. Der würde sich bestimmt freuen.« Dann wurde er wieder ernst. »Warum sollte er Thomas nicht aus den Augen lassen? Was für einen Grund habe ich, zu glauben, dass Ihr Bruder in diesem Moment beobachtet wird?«
»Wenn Sie ein Talent wie Thomas hätten, würden Sie nicht aufpassen, dass ihm nichts passiert?«
Ich entdeckte einen Schimmer von Besorgnis in Howards Augen. Ich glaube nicht, dass er mir das abnahm, aber es völlig abzutun, schien ihm auch nicht ratsam.
»Angenommen, Ihre kleine Geschichte ist wahr«, sagte Howard. »Angenommen, Carlo Vachon ist Thomas’ Schutzengel. War es Vachon, der ihn auf dieses Fenster gebracht hat?«
Welche Antwort war besser? Ja, Vachon war hinter Ihnen her, oder nein, er hatte nicht die leiseste Ahnung von diesem Mord? Hätte ich eine Ahnung gehabt, wer in dieser Wohnung tatsächlich ums Leben gekommen war, hätte ich vielleicht die passende Antwort gewusst. Eine Zeitlang hatten wir gedacht, es sei Allison Fitch gewesen, aber die war erst vor kurzem gestorben. Bei Howards Ankunft hatte Lewis etwas von »Bridgets Leiche« gesagt. Ich wusste zwar nicht, wer Bridget war, aber vielleicht war sie ja das Mordopfer in der Orchard Street.
Während ich noch überlegte, sagte Thomas: »Ich habe es selbst entdeckt. Das habe ich Ihnen doch gesagt.«
Howard lehnte sich zurück und holte tief Luft. »Ich schwöre, ich habe keine Ahnung, was ich von dem Ganzen halten soll.« Er drehte sich um, damit er Lewis ins Gesicht sehen konnte. »Wenn das ein rein zufälliges Ereignis ist, wenn dieser Rain Man völlig unbedarft über dieses Bild im Internet gestolpert ist, dann wäre das das Ende unserer Probleme.«
»Ja«, sagte Lewis.
»Die Sache mit Clinton, die E-Mails an die CIA … wenn ich dem allen auf den Grund käme, würde ich nicht nur drei, sondern dreitausend Kreuze machen.« Er rieb sich nachdenklich das Kinn. »Aber diese andere Sache, die mit Vachon …«
»Ich kauf ihm das nicht ab«, sagte Lewis.
Howard drehte sich so, dass er Nicole ansehen konnte. »Sie sind so still.«
Nicole antwortete nicht.
»Haben Sie irgendwelche Theorien dazu?«
Sie überlegte einen Moment. »Ich glaube, wenn die ein Auge auf Thomas hätten, dann säße er jetzt nicht mehr hier. Wenn Sie meinen, Ihre anderen Sorgen haben sich in Wohlgefallen aufgelöst, dann müssen Sie nur noch die zwei hier entsorgen.«
»Ja«, sagte Howard. »Sie haben vielleicht –«
Ich glaube, ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass wir in diesem Moment alle vor Schreck erstarrten. Jemand hämmerte an die Ladentür.
»Herrgott!«, fluchte Lewis.
Howard sah mich an. »Sind sie das?« Mir fehlten die Worte. Da richtete er dieselbe Frage an Thomas.
»Vielleicht«, sagte Thomas.
Das Hämmern ging weiter. Dann rief jemand: »Howard! Howard, ich weiß, dass du da drin bist!«
Howard riss die Augen auf. In diesem Moment erweckte er zum ersten Mal seit seiner Ankunft den Eindruck, nicht mehr Herr der Lage zu sein.
»Lieber Gott«, sagte er. »Das ist Morris.«