Zweiundvierzig
Kann ich noch mal sehen?«, sagte die Frau hinter dem Tresen in dem Laden für Künstlerbedarf in Lower Manhattan.
Lewis Blocker reichte ihr das Foto. Es war ein Einzelbild aus der Aufnahme, die die Videokamera an der Tür von Allison Fitchs Wohnung gemacht hatte. Das Gesicht des Mannes mit dem Ausdruck war zwar durch das Fischauge des Türspions ein wenig verzerrt, doch für eine Identifizierung sollte es Lewis’ Meinung nach reichen.
Beim ersten Blick auf das Foto hatte sie erklärt, den Mann nicht zu kennen, dann wollte sie es sich noch einmal ansehen.
»Was genau hat der Typ denn getan?«
»Kreditkartenbetrug«, sagte Lewis. »Identitätsmissbrauch.«
»O ja«, sagte sie. »Das ist ein großes Problem.«
Lewis schätzte die Frau auf um die dreißig. Rabenschwarzes Haar, eine Haut wie Morticia Addams, rubinroter Lippenstift. Sie hatte Stecker in den Ohren, einen im rechten Nasenflügel und einen direkt unter der Unterlippe. Lewis überlegte kurz, wie viele Piercings sie wohl sonst noch hatte, und wo.
Sie hielt den Zettel in der Hand und betrachtete ihn mit schiefgelegtem Kopf. »Sein Gesicht sieht irgendwie verschwollen aus.«
»Das ist nur die Kameraaufnahme«, erklärte Lewis.
»Ich weiß nicht. Ich dachte, vielleicht kenne ich ihn doch. Aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.«
»Ich will Ihnen sagen, was der Typ macht«, sagte Lewis in der Hoffnung, dass sie eher geneigt war, ihm zu helfen, wenn sie wusste, was für ein böser Mensch er war. Er hatte ihr nicht ausdrücklich gesagt, dass er Polizist war, doch er hatte ihr kurz seine geöffnete Brieftasche hingehalten, um sie zu dieser Annahme zu verleiten. »Er besorgt sich richtige Kreditkartennummern von richtigen Leuten und bastelt sich dann mit den ganzen persönlichen Daten neue Karten. Damit geht er ein, zwei Tage lang auf Einkaufstour, dann schmeißt er die Daten weg. So lange braucht die Kreditkartenfirma meistens, um dahinterzukommen, dass ungewöhnliche Zahlungen mit dieser Karte gemacht wurden, die Eigentümer zu verständigen und die Karte zu sperren.«
Sie schüttelte den Kopf. »Krass.« Sie sagte das mit einem Anflug von Bewunderung, als wüsste auch sie gern, wie man das macht. »Ich dachte, seit alle Welt diese Chipkarten benutzt, passiert so was nicht mehr.«
»Schön wär’s!«, meinte Lewis. »Verbrecher lassen sich von einer neuen Technik nur so lange aufhalten, bis sie sie geknackt haben.«
Er sagte ihr, er glaube, der Mann sei vor etwa zwei Tagen im Laden gewesen. Vormittags.
»Da hatte ich Dienst, aber ich kann mich nicht an ihn erinnern.« Sie sah sich um und erblickte einen großen dunklen Mann, der Pinsel in die Regale sortierte. »Tarek, hast du gerade mal ’ne Sekunde?«
Tarek kam herbei und stellte sich neben Lewis an den Tresen.
»Dieser Polizist hier sucht diesen Typen da«, sagte sie. »Ich erkenne ihn nicht, aber er soll vorgestern Vormittag hier eingekauft haben.«
»Was hat er ausgefressen?«, erkundigte sich Tarek und betrachtete den Ausdruck.
Lewis erklärte es noch einmal.
»Wir kriegen unser Geld aber trotzdem«, sagte Tarek. »Wenn’s Kreditkartenbetrug ist, dann zahlt die Kreditkartenfirma dem Inhaber sein Geld zurück.«
»Ich weiß«, sagte Lewis. »Das heißt aber doch nicht, dass es nicht auch in Ihrem Interesse ist, dass wir ihn schnappen.«
»Ja, aber bei ihm würde Ihnen das nichts helfen«, sagte Tarek.
»Wie meinen Sie das?«
»Ich erinnere mich an ihn. Er hat bar bezahlt.«
»Bar?«, wiederholte Lewis. Wer in aller Welt bezahlte denn heute noch bar?
»Er hat Airbrush-Zubehör gekauft, glaube ich, und ein paar Filzstifte.«
»Wissen Sie, wer er ist? War er schon mal hier?«
»Wer er ist, weiß ich nicht, aber er war schon mal hier. Hat er zumindest gesagt. Er hat gesagt, er schaut immer rein, wenn er in der Stadt ist.«
»Er kommt von außerhalb?«
»Ja.«
»Hat er gesagt, woher?«
Tarek schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Ich habe ihn gefragt, ob er auf unserem E-Mail-Verteiler steht, und er hat ja gesagt.«
»Kann ich mir den mal ansehen?«
»Ich glaube nicht, dass ich ihn rausgeben darf. Außerdem stehen da Hunderte von Namen drauf.«
»Wofür brauchte er das Airbrush-Zeug? Wofür genau? Was macht er beruflich?«
Tarek überlegte einen Augenblick. Die Gepiercte sah ihn erwartungsvoll an. »Er hat gesagt, er ist Illustrator. Aber davon gibt’s ja zum Glück nur ein paar Millionen. Ach ja, und er hat auch noch gesagt, dass er demnächst was für irgendeine Online-Zeitung machen wird.«
»Was denn für eine?«
»Eine neue. Keine Ahnung. Irgendwas Politisches, wie die Huffington Post.«
»Die was?«, fragte Lewis. Er hatte keine Berührungsängste mit dem Internet, las aber noch immer lieber eine richtige Zeitung aus Papier.
Tarek zuckte die Achseln. »Sie wissen schon, die von dieser Frau mit dem Akzent. Man sieht sie immer wieder mal in der Show von Bill Maher.«
Lewis konnte den Typen nicht ausstehen. Scheiß Linker.
»Aber nicht für genau diese Zeitung, sondern für eine andere?«
Tarek zuckte die Achseln. »Mehr weiß ich nicht. Viel Glück.«
Lewis setzte sich in ein Café um die Ecke, bestellte sich ein Corned-Beef-Sandwich mit Dillgurke und einen Kaffee. Dann rief er Howard Talliman an.
»Kennst du die Huffington Post?«, fragte er.
»Klar«, antwortete Howard. »Wieso?«
»Weißt du was über eine ähnliche Online-Zeitung, die demnächst herauskommen soll?«
»Ich könnte mich umhören«, sagte Howard. »Warum?«
»Hör dich um und sag mir Bescheid, so schnell du kannst.«
Lewis trank gerade seinen Kaffee aus, als sein Handy klingelte. »Kathleen Ford gründet gerade eine«, sagte Howard.
»Sollte ich die kennen?«
»Ja.«
»Also ich halte es für möglich, dass sie unseren Mann engagiert hat.«
»Hast du einen Namen?«
»Noch nicht, aber bald. Hast du irgendwelche Kontaktnummern von dieser Ford?« Lewis zückte seinen Stift und seinen Notizblock und schrieb zwei Nummern auf, die Howard ihm diktierte. »Kennst du sie?«
»Wir sind uns nicht ganz unbekannt«, sagte Howard. »Aber ich würde meinen Namen nicht erwähnen. Sie hält mich für ein Reptil.«
Lewis beendete das Gespräch. Diese Kathleen Ford musste eine gute Menschenkennerin sein. Er machte sich allerdings keine Illusionen, dass sie ihn einer höheren Spezies zuordnen würde, sollte sie ihn jemals kennenlernen.