Zwei Wochen später
Handelt davon, was passiert, wenn ich Chet King in den Bauch boxe, und das nicht einmal absichtlich
»Alles okay, Alter?«
Ich schaue in den Spiegel überm Waschbecken der Jungstoilette und versuche, das Unheimliche in meinem Kopf zu beruhigen. Kiffer Kevins Stimme klingt, als ob sie aus den Tiefen eines Tunnels kommt.
»Ich mein’s ernst. Du siehst nicht gut aus.«
»Ich glaub, ich hab was Verdorbenes gegessen«, vermute ich. Was wirklich Verdorbenes. Etwas, das mich in meinen genetischen Urschlamm zurückschleudern könnte.
Kevin grinst, als ob er Bescheid wüsste. »Auuuu Mann! Hast du Psychopilze gesammelt? Du bist voll auf dem Trip zum Club Mushroom Med, gib’s zu, Alter!«
Im Spiegel wirkt mein Gesicht blasser und ausgemergelter als sonst. Meine Pupillen sind erweitert und meine Augen wirken gequält. Die Nervenenden unter meiner Haut scheinen zu zucken und zu brennen.
»Du siehst aus wie’n Wrack, mein Freund. Warum lässt du nicht los? Heb einfach ab und genieß den Trip.«
»Geht nicht. Ich bin kurz davor, aus Spanglisch rauszufliegen. Wenn ich noch mal fehle, bin ich draußen.«
Die Schulglocke läutet. In meinem Kopf klingt das wie ein Gongschlag, der durch ein Dutzend Verstärker gejagt wird.
»Komm schon«, sagt Kiffer Kevin. »Ich setz mich neben dich und helf dir.«
»Du bist in meinem Spanglischkurs?«, frage ich.
»Äh … ja.« Kevin schüttelt seinen Kopf und lacht. »Das ganze Jahr schon. Erinnerst du dich nicht?«
Nein. Tu ich nicht.
»Ja, versauen wir’s gemeinsam«, sage ich und folge Kevin, weil ich mich selbst an den Weg zum Klassenzimmer nicht mehr richtig erinnern kann.
»Ihr solltet alle die genannten Kapitel von Don Quijote übers Wochenende gelesen haben. Ich erinnere euch daran, dass das Teil des staatlichen Tests sein wird«, sagt Mr Glass, wischt die Tafel ab und schreibt das Wort THEMA in die Mitte. Dann unterstreicht er es, nur für den Fall, dass wir es übersehen. »Wer möchte die heutige Diskussion eröffnen?«
»Was soll das für ne Diskussion sein, wenn wir eigentlich nur wiederkäuen müssen, was die von uns in der Prüfung erwarten?«, wirft das Gothic Girl hinter mir ein.
Mr Glass blickt in die Runde, auf der Suche nach jenen, die seinen Lasst-uns-den-Zwang-locker-angehen-Rap gerne mitmachen. Er weiß, dass er mich besser übersieht. Die eigenartigen Muskelzuckungen in meinen Beinen hören nicht auf. Und aus den Augenwinkeln heraus glaube ich Flammen an der Wand züngeln zu sehen. Wenn ich meinen Kopf drehe, verlöschen sie wieder. Ich habe einfach zu wenig geschlafen, sage ich mir. Ohne anständig gedopt zu sein, halte ich es einfach nicht länger aus als ein, zwei Stunden. Ich bin so erschöpft, dass ich schon Scheiße sehe.
»Noch jemand?«, fragt Mrs Rector, als niemand direkt auf Mr Glass antwortet. »Miss Rodriguez?«
Unsere zukünftige Abschlussrednerin enttäuscht nicht. »Sansón Carrasco findet einen Weg, um Don Quijote dazu zu bringen, sein Leben, seinen Platz in der Gesellschaft und schließlich auch seinen Tod zu akzeptieren.«
»Sehr gut – und wie gelingt ihm das? Denken Sie dran – Sie müssen in der Prüfung Beispiele aus dem Text zitieren. Denken Sie nicht zu viel darüber nach. Übermäßiges Nachdenken kann Ihnen im FUK-Test zum Verhängnis werden.«
»Also, anstatt ihm zu sagen, dass er verrückt ist oder dieses und jenes nicht tun darf, ermutigt er ihn, all die Abenteuer weiter zu bestehen. Aber Sansón tarnt sich und begleitet ihn heimlich.«
»Genau. Und warum tut er das … Mr King?«
»Meinen Sie mich? Äh, ’tschuldigung, Mr Glass, ich hab’s nicht gelesen.«
»Warum nicht, Mr King?«
»Ich lehne es aus religiösen Gründen ab.«
Mr Glass verdreht die Augen, als Chets Sportsfreunde zu kichern beginnen.
Mein Kopf fühlt sich an, als würde er gleich explodieren. Als müsste ich jetzt schreien oder jemanden niederschlagen. Und genau das passiert. Mein linker Arm kriegt eine Fehlmeldung und schlägt aus.
Mr Glass schielt in meine Richtung. »Ja, Mr …« Er muss seinen Klassenplan zu Hilfe nehmen, um sich an meinen Namen zu erinnern. »Smith? Sie wollen sicher etwas dazu sagen?«
»Nein. Ich …« Das Summen in meinen Ohren wird immer schlimmer.
»Aufhören!«
Die Footballtypen beginnen die nervige Titelmelodie eines Science-Fiction-Klassikers zu summen. Ihr Gelächter dröhnt durch die Klasse und Mrs Rector muss sie zum Schweigen bringen. Es ist, als ob etwas vor meinen Ohren detoniert. Ich presse meine Hände an den Kopf. Aufhören, aufhören, aufhören!
»Kommen Sie, Mr Smith, wagen Sie sich aus Ihrem Schneckenhaus.« Ja, Sie können mich auch mal, Mr Glass. Oh Mann, mein Kopf! »Warum reist der verkleidete Sansón Carrasco heimlich Don Quijote nach? Um ihn hereinzulegen?« Aufhören. Bitte. »Um ihn in eine Falle zu locken? Um ihm zu helfen? Warum …?«
»Weil …« Das Summen in meinem Kopf ist so heftig, dass ich es nicht länger aushalte. »Weil … Leckt mich doch am Arsch!«
Mrs Rectors Mund steht offen. Mr Glass ist ausnahmsweise einmal sprachlos. Irgendjemand schnauft: »Oh mein Gott!«
Mr Glass’ Lippen werden schmal. »Mr Smith, verlassen Sie den Klassenraum.«
»Es tut mir leid, ich … aaaaahhhh!« Mein Körper brennt vor Schmerz. »Gottverdammt!«
Mrs Rector deutet mit einer dramatischen Geste auf die Tür. »Raus. Aus. Meinem. Klassenzimmer. Sofort.«
»Ist schon gut, Señora Rector«, sagt Kiffer Kevin. »Cameron beruhigt sich wieder. Er hat nur eben ein paar magische Pilze gegessen, das ist alles.«
Dank dir, Kev. Ich versuche meinen Rucksack zu packen, aber meine Muskeln sind anscheinend von einem anderen Planeten. Arme und Beine zittern und zucken wie die Glieder eines falsch programmierten Tanzroboters, sehr zur allgemeinen Erheiterung der Klasse.
Mrs Rectors Stimme nimmt diesen Da-stehe-ich-drüber-Ton an. »Es reicht. Könnte bitte jemand Mr Smith zum Büro von Direktor Hendricks begleiten?«
»Aber sicher, Mrs Rector.« Chet King springt hoch und richtet sich vor mir zu seiner ganzen Größe auf. »Komm schon, Bruder. Das ist nicht mehr lustig.«
An einem gewöhnlichen Tag hätte ich Chet King für beides gehasst: für seine Gefängniswärterpose und dafür, dass er mich »Bruder« nennt. Aber das ist kein gewöhnlicher Tag, und alles, was ich spüre, ist, dass ich total durchgeknallt bin und mein Körper auf keins meiner verzweifelten Kommandos aus Richtung Kopf reagiert. Chets Hand legt sich auf meinen Arm und das brennt wie Feuer.
»Ahhh, Scheiße!«, schreie ich. Mein spastischer Arm schlägt aus und stößt Chet in den Bauch. Er ist ein großer Kerl, aber der Hieb trifft ihn völlig unvorbereitet. Zuerst schlägt er mit den Knien auf dem Boden auf, dann folgt der Rest. Sofort werfen sich die Sportsfreunde auf mich. Jeder ihrer Griffe scheint meine blanken Nervenenden zu berühren. Nur ganz vage ist mir bewusst, dass ich Worte brülle, die »einer friedlichen Klassenatmosphäre völlig unangemessen« sind.
Das ist wohl der Grund dafür, dass Chet schließlich auf mich einschlägt und mich wegschleppt.
Der Verhaltenskodex der Calhoun Highschool, den wir alle zu Beginn des Schuljahrs unterzeichnen mussten, legt die Umgangsformen ziemlich genau fest. Beliebten Footballspielern in den Magen zu schlagen ist definitiv verboten. Ich werde für fünf Tage wegen regelwidrigen Verhaltens vom Unterricht ausgeschlossen und, dank Kevin, des Drogenmissbrauchs verdächtigt.
Mom musste mich mit ihrem Turdmobil abholen. Sie fühlt sich so gekränkt und – ich kenne meine Mutter – besorgt, dass wir während der Fahrt kein Wort reden – totales Schweigen ist die elterliche Reaktion darauf, dass du absolute Scheiße gebaut hast. Aber der eigentliche Spaß beginnt ja erst noch. Dad wird angerufen und kommt deshalb früher nach Hause (Tut mir leid, Raina!). Es folgt eine Unterredung hinter verschlossener Tür, bei der wir vier im Wohnzimmer sitzen: Mom, Dad, ich und die Enttäuschung. Ich fühle mich wie eine Kamera, die Mom in Großaufnahme filmt: ängstlich, leicht neben der Kappe. Sicher ist das ein Reflex auf ihre Verunsicherung als Mutter. Und dann Dad: angespannt, kontrolliert, stocksauer, entschlossen, die Dinge in Ordnung zu bringen.
Mom: Wir wollen doch nur wissen, ob du ein Problem hast, Cameron.
Dad: Ganz offensichtlich hat er ein Problem, Mary, das ist nicht die Frage.
Mom: Na ja …
Dad: Was hast du da eigentlich verzapft, Cameron? Macht es dir etwa Spaß, vom Unterricht ausgeschlossen zu werden?
Mom: Ist es Marihuana, mein Schatz? Hast du schlechten Stoff geraucht?
Dad: Wenn Colleges jetzt in deine Schülerakte schauen, glaubst du, dass sie dir dann noch den roten Teppich ausrollen? Mein Gott, wir können froh sein, wenn wir dich an einem staatlichen College unterbringen.
Mom: Du hast doch nicht etwa Leim geschnüffelt oder so was, mein Schatz? Bitte. Das Zeug kann nämlich dein Hirn zerstören.
Dad: Und einem Jungen in den Magen schlagen? Großartig. Einfach großartig.
Mom: Oh Gott, es ist doch nicht etwa Crystal? Ich habe einen Bericht darüber gesehen. Die Nasen der Leute mussten rekonstruiert werden.
Schnitt. Die Kamera schwenkt in Großaufnahme auf einen Teenager, der sich gerade die Frage stellt, ob er seinen Eltern die Wahrheit sagen soll, und der abwägt, ob sie ihm glauben oder nicht.
Ich: Mom. Dad. Ich bin nicht auf Droge, nur –
Schnitt. Totale.
Mom: Bist du deshalb bei Buddha Burger gefeuert worden? Weil du Drogen genommen hast? Du musst vorsichtig sein, wenn du mit heißem Öl hantierst, mein Schatz.
Dad: Mary. Bitte.
Mom: Ich wollte es ja nur wissen.
Dad: Das gehört nicht hierher.
Mom spielt mit ihren Modeschmuckohrringen. Sie sollte sich mal die Haare färben lassen. Die Ansätze sind schon grau.
Ich: Weiß nicht, was passiert ist. Ich hab mich einfach miserabel gefühlt, okay?
Dad: Also fingst du an, herumzugrölen und einen Klassenkameraden zu schlagen. Das ergibt keinen Sinn, Cameron.
Schnitt. Halbtotale auf den Teenager, wie er um Worte kämpft. Es ist schon zu lange her, dass er versucht hat, mit seinen Eltern zu sprechen. Es kommt ihm vor, als ob sie auf der anderen Seite des Ozeans lebten und eine andere Sprache sprächen.
Mom: Vielleicht sollte er mit einem Therapeuten sprechen, Frank?
Dad: Da wird er beeinflusst, Mary. Wir sind die Eltern, hier und jetzt. Sag uns die Wahrheit, Cameron. Wer hat dir Drogen verkauft?
Mom: Oh, Cameron. Du verkaufst doch keine Drogen, oder?
Ich: Mom. Dad. Ich bin nicht auf Droge. Jedenfalls diesmal nicht.
Mom: Nicht in dieser Zeit? Oh, Cameron.
Ich: Könnt ihr beide mal chillen, nur für eine Sek –
Dad (lacht): Chillen? Chillen?
Mom: Mein Schatz, wir machen uns …
Dad: Das ist absurd …
Mom: … doch nur Sorgen um dich.
Dad: Gut. Du stehst offiziell unter Hausarrest. Deine Zimmertür wird entfernt. Bis auf Weiteres verlierst du dein Recht auf Privatsphäre. Hast du verstanden?
Schnitt. Großaufnahme Gesicht Teenager, wie er auf einen Fleck an der Wand starrt.
Ich: Ja, ja.
Mom: Möchtest du noch etwas sagen, mein Schatz?
Extreme Nahaufnahme des Flecks, der wie ein schwarzes Loch aussieht.
Ich: Nein.
Der Aufnahmewinkel erweitert sich, bis alles so unscharf erscheint, dass wir nichts mehr sind als ein Farbfleck auf dem Bildschirm.
Nachdem ich nun ganz und gar nach Dads Pfeife tanzen muss und bestimmt wurde, dass ich freiwillig einen Drogenberater und einen Seelenklempner aufzusuchen habe, sitze ich am Küchentisch und lese. Das ist so ziemlich alles, was mir bleibt, angesichts der Tatsache, dass ich auf unabsehbare Zeit Hausarrest habe. Jenna tanzt hinter mir herum, auf ihrem Weg zum Kühlschrank, wo sie nach Futter sucht, das sie dann nicht essen will, weil es sie fett machen könnte. Fett, das ist für sie so was wie ein hässlicher schwarzer Fleck auf der perfekten Fassade.
»Ich hab gehört, wenn man Eiscreme zu lange anschaut, verwandelt sie sich in ein Mastschwein«, sage ich.
»Ich rede nicht mit dir.«
»Ich bin zerknirscht.«
»Du hast Chet geschlagen!« Jenna ist so angepisst, dass sie tatsächlich einen Becher nicht fettfreien Pudding nimmt.
»Lass ihn drin, wenn du ihn sowieso nicht aufisst«, sage ich.
Sie knallt die Kühlschranktür zu und zieht den Deckel des Bechers mit dramatischer Geste ab. »Du weißt, warum du Chet nicht magst?«
Das ist eine rhetorische Frage, aber ich kann’s nicht lassen und muss trotzdem antworten. »Du meinst, abgesehen von der Tatsache, dass er ein egozentrischer Angeber ist?«
»Du magst ihn nicht, weil er sich um andere Menschen kümmert. Seine Vorträge können Menschenleben retten! Hast du schon jemals so was getan, Cameron? Hast du jemals irgendetwas für irgendjemanden getan, nur weil du dir wirklich Sorgen um einen Menschen gemacht hast? Nein. Du weißt wahrscheinlich nicht einmal, wie sich das anfühlt.«
Das ist der Zeitpunkt, an dem ich einsteige und sage: Warum? Das ist nicht wahr. Ich mach mir über alle möglichen Leute Gedanken. Und über die Umwelt. Und über gefährdete Farmtiere. Insgeheim arbeite ich an einem Plan, jedem Menschen, aus dem ich mir etwas mache, ein gefährdetes Farmtier zu schenken, damit er die Tiefe meiner Gefühle erkennt. Aber die Wahrheit ist, dass sie meine wunde Stelle getroffen hat. Chet ist nicht der Engel, für den sie ihn hält, aber ich bin der Letzte, der über irgendjemanden Scheiße kippen sollte.
Jenna interpretiert mein Schweigen als Eingeständnis. »Du wirst die Beziehung zwischen Chet und mir nicht ruinieren. Ab sofort will ich von dir weder angesprochen noch zur Kenntnis genommen werden, und zwar in jeder Hinsicht. Verstanden?«
»Du. Ich. Keine Interaktion. Hab’s verstanden.«
»Gut.«
Sie nimmt einen Löffel Pudding, leckt jedes Fitzelchen ab, stellt den Becher zurück in den Kühlschrank und wirft den Löffel mit Geschepper ins Spülbecken.