KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG

Handelt davon, was passiert, wenn ich das Geheimnis der perfekten Bowlingkugel entdecke und die Revolution spitzenmäßig den Bach runtergeht

 

Fünf Tage lang habe ich gelernt, wie man ein Mitglied der KIGSNAB-Kreuzritterfamilie wird. In der Chorgruppe habe ich vier neue Songs gelernt – »Wer möchte glücklich sein«, »Das Glück beginnt im Augenblick«, »Alles an dir ist perfekt« und »Du bist was ganz Besonderes« – und ein fettes Tamburinsolo hingelegt. Daniel und Ruth nahmen mich mit zum KIGSNAB-Videospielcenter, wo wir Der perfekte Selbstbildbauer! spielten und Wie fantastisch bist du?. Und selbstverständlich gibt’s den Gottesdienst. Jeden Tag kommen wir in der riesigen, funkelnden Bowlinghalle zusammen, denken unsere absolut positiven Ich-bin-was-ganz-Besonderes-Gedanken und schieben eine perfekte Bowlingkugel nach der anderen. Daniel sagt, das sei der Beweis dafür, dass wir alles richtig machen. Den einzigen geringfügigen Einbruch auf der Straße der Glückseligkeit gab es an Tag eins, als ich einen kleinen Anfall hatte und umringt von fünf bulligen Kommandosoldaten zu mir kam, die gigantische Milchshakebecher parat hielten. So kam ich per Strohhalm in den Genuss eines Vanillemilchshakes. Dabei erklärte Daniel, dass keinerlei Prionen mein Gehirn attackierten, ich müsse einfach nur immer und immer wieder mein Mantra aufsagen – Ich bin was ganz Besonderes; ganz besondere Menschen sterben nicht – und gegebenenfalls noch mehr Milchshakes schlürfen. Und seither geht es mir großartig.

»Du lebst in einer Traumwelt, Alter«, sagt Gonzo, als ich überlege, ob ich ein paar luftgedämpfte KIGSNAB-Super-Bowlingschuhe aus der Soforterfüllungsabteilung in der Snacketeria bestellen soll. Gonzo trägt eindeutig nicht zum Wachstum meiner Glückseligkeit bei. »Sie haben nicht mal irgendwelche Killerspiele.«

»Mmmm-hmmm.«

»Fünf Tage, Alter. Fünf beschissene Tage beim Volk der lächelnden Zombies. Ich kann keine Minute länger bowlen oder KIGSNAB-T-Shirts sehen oder Milchshakes schlürfen. Ich sage dir, diese Typen sind irre. Glaubst du nicht, dass die irre sind?«

»Nein, glaub ich nicht. Und vergiss nicht, dass du gedacht hast, sie seien Serienkiller.«

»Das ist noch nicht aus der Welt, Alter. Sie mästen uns, damit sie uns schlachten können.«

»Nein, sie helfen mir, mich zu erholen.« Ich werde es nicht zulassen, dass er mir meine Glückseligkeit miesmacht. »Warum bestellst du nicht was, mein Freund? Ein neues Jackett oder ’n paar Musik-Downloads. Du magst doch Musik.«

Gonzo schnaubt. »Ja, richtige Musik. Nicht diese bescheuerte Wir-bowlen-fürs-Universum-KIGSNAB-Scheiße, die mein Trommelfell schon die ganze Woche vergewaltigt.«

Ich atme tief durch; in meinem Kopf liste ich fünf Dinge auf, die ich an mir mag. »Weißt du was, Gonzo? Ich möcht dir dabei helfen zu finden, was ich gefunden hab. Hier, nimm einen Schlüsselanhänger«, sage ich und übergebe ihm eins der sonnengelben Werbegeschenke, die sie verteilen, wann immer du etwas auch nur annähernd Gutes tust, wie etwa die Klobrille wieder runterzuklappen. Manchmal geben sie dir einen Schlüsselanhänger auch allein dafür, dass du da bist.

Gonzo wirft den Schlüsselanhänger in einen Mülleimer. »Hey, cabrón, sollten wir jetzt nicht auf dem Weg zu Dr. X sein?«

»Solltest du jetzt nicht einen Fleck auf deiner Lunge haben?«, blaffe ich zurück und dann besinne ich mich. »Schau, Gonzo, tut mir leid. Ich möchte deinem Glück kein Leid zufügen.«

»Du fügst meinem Glück kein Leid zu, Alter. Du treibst mich nur total in den Wahnsinn.« Er wedelt mit den Händen direkt vor meinem Gesicht. »Schau dir doch diesen Ort an, Mann. Die pflegen hier eine Art Glückskult. Das ist nicht real. Du willst hier nicht bleiben.«

»Will ich wohl. Ich fühl mich großartig. Keine Symptome. Keine Albträume. Keine Feuerriesen weit und breit. Ich glaub, das könnte die Heilung sein, Gonzo. Es gibt keinen Anlass, das Universum zu retten, weil mir hier in der KIGSNAB nichts Schlimmes passieren kann.«

»Böses kann überall passieren. So ist das Leben, Amigo.«

»Okay, mein Freund, ich hab jetzt ein neues Leben und würde es dir hoch anrechnen, wenn du damit aufhörst, es in den Schmutz zu ziehen.«

Ich will nicht, dass ich mich über all das ärgern muss, also lasse ich Gonzo an der Soforterfüllungsabteilung stehen und steuere auf die Bibliothek zu. Hinter dem Schalter sitzt das Mädchen mit dem rasierten Schädel, die Bowlingfreundin von Thomas. Durchs SNAB auf ihrem KIGSNAB-Shirt zieht sich ein matter Strich. Direkt darüber ist das Wort FUCK gekritzelt.

»Kann ich dir helfen?«

»Hallo, meine Freundin«, sage ich mit breitem Lächeln. Sie lächelt nicht zurück, was seltsam ist, weil hier alle lächeln.

»Ähm, könnte ich ein Buch ausleihen?«

Sie zeigt auf die Regale, die vom Boden bis zur Decke reichen. »Bedien dich und sei glücklich.«

»Okay, danke. Hoffentlich ist der Tag so besonders, wie du es bist«, sage ich und zitiere den Satz, den ich auf einem T-Shirt gelesen habe.

Sie schnaubt. »Danke, gleichfalls.«

In der Bibliothek gibt es mehr Bücher, als ich je gesehen habe. Hoffentlich haben sie Don Quijote, damit ich meine Lektüre für Spanglisch beenden kann – nicht dass ich zurückgehen will, aber ich würde schon gern wissen, wie alles endet. Die zwei unteren Regalreihen scheinen nur mit Exemplaren von Füge deinem Glück kein Leid zu gefüllt. Also widme ich mich den nächsten beiden Reihen und dann noch einer weiteren: Hier stehen nur noch mehr Ausgaben vom selben Titel, diesmal als Taschenbuch. In der ganzen Bibliothek gibt es nichts anderes als Exemplare von ein und demselben Buch.

»Entschuldige«, sage ich und springe von der Rollleiter, »aber wo sind die anderen Bücher?«

»Wir haben keine anderen Bücher«, sagt das Bibliotheksmädchen. Sie unterstreicht in ihrem Buch aufs Geratewohl Worte und bildet daraus neue, leicht unanständige Sätze. Ich frage mich, ob sie das tun sollte, sage aber nichts.

»Aber … das ist eine Bibliothek. Oder?«

Sie spricht langsam, als ob sie mit einem kleinen Kind redet. »Wir haben herausgefunden, dass viele Geschichten oder Wörter oder sogar Ideen, die in den meisten Büchern enthalten sind, negativ oder verletzend sein können. Oder sie können deine Glücksgefühle infrage stellen oder sogar das Verständnis von Glück als Ideal. Und das war nicht in unserem Sinne.« Jetzt schenkt sie mir ein breites Lächeln, das mich an Dulcie erinnert.

»Aber geht’s denn in Büchern nicht gerade darum? Dass du über Dinge nachdenkst? Komm schon. Du musst doch ein Exemplar von Don Quijote dort hinten haben. Das ist ein Klassiker.«

Sie reißt eine Schublade auf und zieht einen Stapel Papiere hervor, sichtet die Blätter, bis sie findet, was sie gesucht hat. »Ah, ’tschuldigung. Don Quijote. Komplizierte Ideen und verwirrende Sprache. Einige Leser fanden den Roman überzogen, andere jedoch bekamen Minderwertigkeitskomplexe, weil sie ihn nicht auf Anhieb verstanden. Wir wollen bei den Menschen keine nicht positiven Erfahrungen hervorrufen. Also wurde es aus dem Bestand genommen.

»Der Fänger im Roggen

»Ein gewisser Holden Caulfield, sechzehn, sehr zornig, sehr negativ, besucht Prostituierte und sagt schlimme Wörter.«

»Der Herr der Fliegen

»Zu viel Gewalt.«

»Comics?«

»In allen Punkten indiskutabel.« Sie hakt die Punkte mit den Fingern ab. »Zu dunkel. Zu furchterregend. Superhelden haben unerreichbare Kräfte, sind deshalb nicht akzeptabel und könnten das Selbstwertgefühl von Kindern beschädigen. Und außerdem könnten leicht zu beeinflussende Kinder auf die Idee kommen, von Dächern zu springen, oder zu versuchen, das Wetter zu beeinflussen.«

»Ha – ich hab eins!«, sage ich. »Winnie-the-Pooh

Sie schüttelt den Kopf. »Bären können in Wirklichkeit nicht sprechen. Das könnte die Kleinen verwirren.«

»Gut, dann nehm ich ein Exemplar von Füge deinem Glück kein Leid zu

Sie stempelt den Leihschein und gibt mir das Buch. »Du kannst es am Ende der Woche zurückbringen. Oder wann du willst, echt. Ist nur ne Formalität. Wir finden, Dinge von Leuten zu verlangen oder sie für etwas verantwortlich zu machen, kostet Mühe, und deshalb macht es nicht glücklich. Viel Spaß!«

Mein neues Sonnentagsgemüt wird von mürrischen Gedanken bedroht. Ich schiebe sie weg, nehme in einem der ergonomisch geformten gelben Designersessel Platz und schlage Seite eins auf. »Du bist etwas ganz Besonderes, steht da in großer Blockschrift. Wie jeder.

»Hey«, sage ich zu dem Typen, der direkt neben mir sitzt. Er ist vollkommen in sein elektronisches KIGSNAB-Bowlingspiel vertieft. Die piepende digitale Punktetafel zeigt dreihundert perfekte Strikes in Folge. »Hast du das gelesen?«

»Bisschen was«, sagt er, ohne aufzuschauen. »Aber ich hab Freunde, die andere Leute kennen, die’s gelesen haben, und die haben mir alles erzählt.«

»Na ja, ich war grade ein bisschen erstaunt über diesen Satz auf Seite eins: Du bist etwas ganz Besonderes. Wie jeder

»Ja?«

»Wie kann man was ganz Besonderes sein, wenn es jeder ist?«

»Ich nehm an, man ist nur ein Teil des Besonderen.« Er macht den nächsten Strike, und das Spiel gratuliert ihm mit einem elektronischen: »Das ist fantastisch, mein Freund. Weiter so!«

»Oh«, sage ich, »danke.«

»Kein Problem.«

Seite zwei: Glück ist deine neue Bestimmung. Melde deine Ansprüche darauf an!

Seite drei: Wenn du anfängst, dich unglücklich zu fühlen, kaufe etwas.

Seite vier: Umarme das Positive!

Für eine Sekunde schaue ich hoch. Das Bibliotheksmädchen starrt durch mich hindurch. Ich gehe auf sie zu und sie schlägt schnell die Bücher am Rückgabetisch auf und stempelt sie ein bisschen zu heftig.

»Schon fertig?«, fragt sie mit gekünstelter Glücksstimme.

»Ja.«

»Hat’s dich erleuchtet? Dein Leben verändert? Deine Stimmung? Hast du deine Glückseligkeit vergrößert?« Sie fummelt an einem ihrer zehn Ohrringe im linken Ohr.

Kein Zweifel, sie spielt mit mir. Und sie ist eindeutig ziemlich heiß.

»In mir kribbelt’s vor Wonne«, sage ich, erwidere ihr Lächeln und lasse meine Finger zittern, als hätte ich eine Überdosis Koffein geschluckt. Das sieht sarkastisch aus, und ich weiß, dass Sarkasmus meinem Glück Leid zufügt. Fühlt sich aber irgendwie gut an, wie wenn ich einen Muskel strecke, den ich eine ganze Weile nicht gebraucht habe. Die Mundwinkel des Bibliotheksmädchens verziehen sich zu etwas, was einem Schmunzeln ähnelt, und das ist ein Gesichtsausdruck, der hundertprozentig echt erscheint.

»Wir treffen uns in der Bowlinghalle«, flüstert sie. »In fünf Minuten.«

 

Die Kirche ist leer, nur das Bibliotheksmädchen ist da. Sie hat sich auf meinem bevorzugten Kugelkasten niedergelassen, kaut einen riesigen Batzen pinkfarbenen Kaugummi, macht Blasen und lässt sie mit lautem Knall platzen.

»Also, erzähl mir«, sagt sie und zieht dabei eine geplatzte Blase zurück in den Mund, »wie gefällt’s dir hier?«

»Großartig.«

»Ja«, sagt sie, starrt an die Decke und schwingt mit einem Bein. »Großartig. Ganz besonders. Wir sind alle ganz besonders.«

»Genau.«

»Möchtest du dazu einen kleinen Test machen?«

»Was meinst du damit?«

»Ein kleines wissenschaftliches Experiment. Komm schon. Schieb ne perfekte Kugel. Du kannst nicht verlieren. Wenn du daran glaubst …«

»… dann kannst du es«, beende ich den Satz.

»Also, warum überprüfst du’s nicht? Denk an das Allerschlechteste, an das du denken kannst, und lass die Kugel rollen. Dann wirst du sehen, ob das Universum sauer reagiert.«

»Wenn ich traurig werde, ertönt das Alarmsignal und das Kommando taucht auf. Also kann man’s nicht wirklich testen«, sage ich.

»Hah.« Sie krempelt die Ärmel hoch und enthüllt dabei Wahnsinnsmuskeln. »Hier gibt’s ein Geheimnis«, sagt sie und guckt sich um. »Manchmal sind sie damit beschäftigt, irgendwas zu besorgen, und passen nicht auf. Wie jetzt gerade.«

Sie schnippt einen Schalter um, die Kugeln erwachen zum Leben und rollen auf ihren gut geölten, glänzenden Schienen her. Meine lila Lieblingskugel ist in Reichweite. Seit Tagen hatte ich keinerlei negative Gedanken. Ich bin außer Form. Zwar ärgere ich mich irgendwie über Gonzo, wegen dem, was er vorhin gesagt hat, ich bin aber nicht so wütend, dass ich mich echt darüber aufrege. Dulcie kommt mir in den Sinn, die Art, wie sie sich verzogen hat. Und dann schleicht sich ein Gedanke in meinen Kopf, den ich nicht beherrschen kann: Was ist, wenn ich sie nie mehr wiedersehe?

»Oooh, du guckst ganz schön deprimiert. Jetzt wirf!«

Ich werfe die Kugel auf die Bahn. Sie prallt auf und torkelt über das glatte, polierte Holz. Eigentlich müsste sie in der Rinne landen, tut sie aber nicht. Sie rollt wieder in die Mitte und ich lande einen perfekten Strike.

»Versuch’s noch mal«, drängelt das Bibliotheksmädchen.

Dieses Mal stelle ich mir alle möglichen Situationen vor: Mom und Dad und Jenna wieder bei mir im Krankenhaus. Arme Kinder, die nicht Weihnachten feiern können. Geliebte Haustiere, die eingeschläfert werden. Den Verlust all meiner Great Tremolo-CDs. Pep Rallyes. Nach wie vor lande ich einen Strike nach dem anderen. Ich kann es einfach nicht vergeigen, obwohl ich es eindeutig versuche.

»Macht nicht mehr so viel Spaß, stimmt’s? Und jetzt zum zweiten Teil des Experiments …« Das Bibliotheksmädchen zieht einen Magneten aus ihrer Tasche und fummelt mit ihm an der Bedienungskonsole herum. Dann setzt sie den Magneten auch bei den anderen Bahnen ein. »Mach dieses Mal, was sie sagen: Umarme das Positive.«

Ich schließe die Augen und murmle mein Mantra: Du kannst es, wenn du willst. Du hast es verdient zu gewinnen.

Als ich die Kugel loslasse, rollt sie in der Mitte hinunter und driftet dann zur Seite ab, rutscht in die Rinne und verschwindet, ohne einen einzigen Kegel umgestoßen zu haben. »Boah! Was ist da passiert?«

Das Bibliotheksmädchen hält den Magneten hoch. »Alles ist magnetisiert. In den Kugeln steckt ein kleiner Magnet und in den Rinnen auch. Sie stoßen die Kugel zurück. Wie ich schon sagte, du kannst nicht verlieren. Du gewinnst immer.«

»Aber wenn das Spiel manipuliert ist, dann ist das keine Leistung.«

Das Bibliotheksmädchen hält zwei Finger jeder Hand hoch und schreibt Anführungszeichen in die Luft: »Misserfolge vergrößern deine Glückseligkeit nicht.«

Ich gebe mir sechs, sieben weitere Versuche. Einmal schmeiße ich vier Kegel raus, mehr schaffe ich nicht. »Vielleicht hast du das Spiel jetzt zu schwer gemacht«, sage ich.

»Oder vielleicht bist du einfach nicht die ganze Zeit so fantastisch, besonders und perfekt.«

»Das ist brutal«, antworte ich, obwohl mir mein Bauchgefühl sagt, dass sie recht hat; ich habe mich so daran gewöhnt, nur die guten Nachrichten zu hören. »Aber was ist mit dem, was sie hier sagen: dass wetteifern deinem Glück Leid zufügt, dass wir unsere schlechten Gefühle loswerden müssen, um glücklich zu sein?«

Sie rollt mit den Augen und knurrt. »Du kannst keins deiner Gefühle ›loswerden‹! Schließlich sind wir menschliche Wesen! Wenn mich irgendein Trottel anpisst, juckt’s mich, ihm die Scheiße aus dem Hirn zu prügeln. Aber ich tu’s nicht, denn wenn wir uns die ganze Zeit mit Leuten herumprügeln würden, kämen wir niemals dazu, einzukaufen oder unseren Hund Gassi zu führen oder schön essen zu gehen. Das wär ein totales Chaos. Deshalb gibt’s die Kultur. Und die Tischmanieren.«

»Genau! Aber gerade deshalb gibt’s doch diese Kirche. Um aus uns bessere Menschen zu machen. Und um bessere Menschen zu werden, müssen wir alle negativen Gefühle loswerden.«

»Nein. Wir müssen lernen, mit ihnen zu leben. Welche von den sogenannten negativen Gefühlen können uns nützen?« Das Bibliotheksmädchen dreht die leuchtend lilane Kugel, die auf dem Gitter darauf wartet, ins Spiel gebracht zu werden. Sie eiert um ihre eigene Achse wie die Erdkugel. »Also, nehmen wir mal an, du nimmst deinen Ärger und lenkst ihn um, indem du ein Bild malst. Ziemlich bald wird dich der Idiot, der dich angepisst hat, nicht länger interessieren, weil du total in deiner Malerei aufgehst. Und dann hängt das Bild vielleicht eines Tages in einer Galerie und inspiriert andere Menschen, ihren Weg zu finden, egal was für einen. Du hast die Welt beeinflusst, nicht weil du sie umarmst und knuddelst, sondern weil du einmal die Scheiße aus jemandem herausprügeln wolltest und es nicht getan hast. Stattdessen hast du ein Bild gemalt. Und du hättest dieses Bild nicht ohne dieses Gefühl malen können, ohne dieses Gegen-irgendwas-Dampf-Ablassen. Wir Menschen können uns ohne den Schmerz nicht entwickeln.«

»Wie meinst du das?«

»Schlimmes Zeugs passiert einfach.« Sie öffnet ein Schnappmesser, schneidet eins der Kommandoseile durch, das nach einem traurigen Zwischenfall hängen geblieben ist, und wickelt es sich der Länge nach ums Handgelenk. »Menschen scheitern. Werden abgelehnt. Rasseln durch Prüfungen. Sie verlieren das große Spiel oder verirren sich auf hundert kleinen Holzwegen oder sie kriegen einen Korb oder müssen noch mal von vorn anfangen. Sie sind verwirrt und ängstlich. Oder manchmal, da haben sie das Gefühl, nirgendwo dazuzugehören. Sie sind irgendwie Teil einer universellen Ureinsamkeit. Das ist nun mal so, und du musst lernen, damit umzugehen. Und, weißt du, ein großer Vanillemilchshake ist da wirklich nicht die Antwort drauf.«

»Aber was ist, wenn wir gar nicht so fühlen müssen?«

»Aber wir fühlen so! Das macht uns doch gerade menschlich.«

»Also glaubst du nicht daran, dass Menschen glücklich gemacht werden können?«

»Das hab ich nicht gesagt«, antwortet sie und verarbeitet das Seil zu einer Art doppeltem Armband mit verschiebbarem Knoten. »Ich glaube nur nicht, dass Glück ein dauerhafter Zustand ist. Du kannst es nicht immer haben. So viel Glück macht die Menschen unglücklich. Und dann suchen sie Ärger. Sie beginnen nach der nächsten Sache Ausschau zu halten, die sie glücklich machen könnte – und sitzen in der Glücksfalle.«

Ich fühle mich wie ein Ballon, der langsam zu Boden sinkt, leicht ernüchtert, aber eigentlich froh darüber, dass die Reise zu Ende ist. Seltsam, aber ich bin irgendwie erleichtert, dass ich nicht die ganze Zeit glücklich sein muss.

»Aber, wenn du nichts davon glaubst, warum bist du noch hier?«

»Um zu tun, was getan werden muss.« Das Bibliotheksmädchen streicht mir über die Wange. »Cameron, du bist ein wirklich netter Junge. Und deshalb tut’s mir leid.«

»Tut dir was leid?«

Blitzschnell legt sie mir das Armband aus Seil um die Handgelenke und zieht den Knoten so fest, dass ich meine Hände nicht mehr bewegen kann.

»Hey!« Ich zerre dran, aber dadurch wird die Schlinge nur noch enger.

»Wehr dich nicht, Cameron, das macht es nur schlimmer.«

»Was verdammt –«

Die Alarmanlage schrillt ohrenbetäubend, lauter, als ich sie jemals gehört habe.

»Was ist das?«, sage ich und wünschte, ich könnte mir die Ohren zustopfen.

»Das, mein Freund, ist der wundervolle Klang der Revolution.« Das Bibliotheksmädchen zieht am Seil, und ich kann nichts anderes tun, als ihr zu folgen.

In der Kirche der Immerwährenden Glückseligkeit und Snack ’n’ Bowl ist die Hölle los. Menschen in KIGSNAB-Kleidung unterschiedlicher Dienstgrade rennen die Gänge entlang und brüllen, wir würden angegriffen. Von den Wänden krabbeln Kommandoeinheiten. Sieht aus wie eine irre Comicszene. Fünf Teenies mit einem Einkaufswagen laufen an uns vorüber. Zuerst denke ich, sie sind von der KIGSNAB, weil sie die großen Shirts mit dem gelben Smileygesicht tragen, aber dann sehe ich, dass die Gesichter nicht lächeln. Eins wirkt traurig, eins wütend, eins bekifft und eins zeigt einen Stinkefinger unterm Kinn. Der Einkaufswagen ist voller Bücher und Zeitungen, die sie jedem zuschleudern, den sie sehen.

Ein Typ, der eine offene Zeitung schwenkt, brüllt: »Die Welt ist im Arsch! Kauft keine Jeans mehr und zieht eure Köpfe aus dem Sand!«

»Glück ist ein faschistischer Zustand!«, kreischt einer von den Werfern. »Was ist, wenn ihr nicht chillen wollt, hä? Was ist, wenn ich meinen Hund Snuffy vermisse?«

Ein Typ in einem KIGSNAB-Sweatshirt eilt herbei und umarmt sich dabei wie wahnsinnig. »Umarmt das Positive! Umarmt das Positive!«

Das Bibliotheksmädchen schaut hoch in die Überwachungskamera an der Decke. Mit boshaftem Grinsen beugt sie sich nach vorn und küsst mich heftig auf die Lippen.

»Boah«, japse ich.

»Los, weiter«, sagt sie und zieht mich ins Aufnahmestudio der Radiostation. Sie verriegelt die Tür hinter uns, und für den Bruchteil einer Sekunde schießt mir die verrückte Idee durch den Kopf, dass ich gerade dabei bin, unter den bizarrsten Umständen meine Jungfräulichkeit zu verlieren – durch eine Art sexueller Revolution. Aber das Bibliotheksmädchen schneidet mir nur die Handfesseln auf, lässt mich stehen und geht zum Tonpult. Schalter werden betätigt, Knöpfe gedreht und die Lautstärke wird auf zehn gestellt.

»Gib mir mal diesen Rucksack vom KIGSNAB-Schrank«, sagt sie.

Ich bringe ihn ihr und bin vom Kuss immer noch ganz betäubt. Sie zieht ein zerfleddertes Exemplar von Andersons Anthologie der englischen Literatur hervor und schlägt das Buch an einer mit einem Lesezeichen markierten Seite auf. Ihre Stimme fliegt durchs Mikrofon hinaus aufs Gelände.

»Shakespeare, Leute. Verzwickt. Wunderschön. Traurig und voller Gewalt. Und die Sprache ist verdammt schwierig. Lasst euch mit ein bisschen Hamlet umhauen:

»Sein, oder nicht sein, das ist die Frage:

Ob’s mehr uns adelt wohl im Geist, die Pfeile

Und Schleudern wüsten Schicksals stumm zu dulden.

Oder das Schwert zu ziehn gegen ein Meer der Plagen

Und im Anrennen enden: sterben … – schlafen,

Mehr nicht; und sagen, dass durch einen Schlaf

Wir’s Herzweh enden und die tausend Lebenshiebe,

Die unserm Fleisch vererbt sind: ’s ist eine Erfüllung

Inbrünstig beizuwünschen. Sterben, schlafen,

Schlafen, womöglich träumen – ja, da hakt’s:

Denn in dem Schlaf des Tods, welch Träume kommen mögen –«

Die Tür erzittert unter Pochen und Hämmern. Eine Axt dringt ins Holz, was mich zu Tode erschreckt, aber das Bibliotheksmädchen presst die Lippen weiter ans Mikro:

»Wer trüg sein Bündel,

Auf dass er grunzt und schwitzt im Lebensjoch,

Wär’s nicht, dass Furcht vor etwas nach dem Tod,

Das unentdeckte Land, aus dessen Gauen

Kein Wandrer wiederkehrt, den Willen lähmt,

Und uns die Übel, die wir haben, lieber tragen

Lässt, eh wir hin zu Unbekannten fliehn?«

Mit einem schrecklichen Splittergeräusch fliegt die Tür auf und Ruth stolpert herein. Sie wirft mir, wie ich so neben dem Bibliotheksmädchen stehe, einen Blick zu, und schon beginnt ihre Unterlippe zu beben. »Cameron. Du fügst meiner Glückseligkeit gerade sehr großes Leid zu.«

Daniel ist direkt hinter ihr und schwenkt eine Taschenlampe. Er spricht in sein Funkgerät. »Roger eins-neun, wir haben einen Ernstfall im Aufnahmestudio.«

»Roger eins-neun? Ist das nicht ein Code für den Flugverkehr?«, frage ich.

Er presst die Lippen zusammen. »Es macht mich glücklich, das zu bejahen.«

Eine Kommandoeinheit erscheint auf der Bildfläche. Die Uniformierten sind breitschultrig und – heilige Scheiße! – sie tragen diesmal echte Schusswaffen. Sie packen das Bibliotheksmädchen, das versucht, sich am Mikrofon festzuhalten. Ein Kommandosoldat grapscht sich die riesige Anthologie und schlägt ihr damit auf die Hände, bis sie, vor Schmerzen brüllend, loslässt.

»Was macht ihr hier?«, schreie ich und renne auf sie zu.

Daniel nimmt eine Waffe aus dem Pistolenhalfter eines Kommandosoldaten und richtet sie auf mich. »Glückseligkeit. Unter allen Umständen.«

Er fuchtelt mit der Pistole vor meiner Nase herum, drückt mir die Mündung fest gegen den Schädel, und der Raum verschwimmt vor meinen Augen.