In dem ich mich ins Krankenhaus begebe, mich mit einem Engel treffe und anderen seltsamen, ärgerlichen Dingen begegne
»Cameron?«
Die Stimme klingt so, als ob sie aus einem Tunnel zu mir vordringt. Au Scheiße! Blende mich nicht so mit deinem Licht!
»Cameron, hörst du mich?«
Ja, ich höre dich. Kannst du mich hören? Weil ich es nämlich wirklich verdammt ernst gemeint habe wegen dem Folterinstrument, das du als Stiftlampe tarnst. Aus irgendeinem Grund scheinst du es amüsant zu finden, mir direkt in die Pupillen zu leuchten. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Leute wegen dieser Scheiße als Kriegsverbrecher bestraft werden.
Die Flötenstimme von Frau Dr. Arschloch fließt mir wieder ins Ohr. »Wenn du mich hörst, Cameron, gib irgendeinen Laut von dir.«
Hallo! Hörst du mir nicht zu? Ich hab doch gesprochen. Oder?
»Wenn du nicht sprechen willst, kannst du meine Hand drücken oder nicken, falls du mich verstehst.«
Ich nicke und mein Hirn hämmert im Kopf.
»Gut. Sehr gut, Cameron.« Gott sei Dank geht die Lampe aus, ich kann mich wieder nach drinnen und nach draußen treiben lassen und schnappe Wortfetzen der Unterhaltung zwischen Frau Dr. Arschloch und meinen Eltern auf.
»Wir geben ihm … gegen seine Beschwerden …«
Ich treibe im Raum. Es ist hübsch hier. Ein Komet saust vorbei. Ein Stern. Die Buddhakuh dreht sich auf ihrem lotusblumengeschmückten Hamburger-Pastetchen. Sie hebt einen Huf zum Zengruß und ich werde von der Kuh gesegnet. Amen.
»Wir hätten gern Ihr Einverständnis für eine experimentelle Behandlung, die im Versuchsstadium bereits zu einigen Erfolgen geführt hat. Dabei wurden Prionen zerstört, die das Gehirn angreifen. Das könnte den Fortschritt der Erkrankung verlangsamen.
Das klingt gut. Schmeißen wir einfach ein paar bösartige Prionenärsche raus. Jederzeit. Und ein bisschen mehr Morphium wäre auch nicht schlecht. Oooh, eben bin ich durch die Milchstraße geflogen. Affengeil.
»… ein paar Nebenwirkungen …«
»Ich weiß nicht …« Das ist Moms Stimme.
Etwas pulst über meinem Kopf. Huh. Was ist das? Es ist rund und finster.
»… zweimal am Tag …«
»… weiß nicht mal, dass wir hier sind …« Dads Stimme.
Die Buddhakuh schwirrt hoch und verschwindet im großen schwarzen Loch über mir. Ich das nicht mögen, Captain. Zeit für Umkehrschub.
»… Unterschreiben Sie einfach hier und wir können loslegen …«
Was unterschreiben? Hey. Umkehrschub aktiviert. Warum kommt dieses Loch immer näher? Das ist nicht fair. Mom? Dad? Dr. Arschloch? Wer auch immer? Zieht mich zurück. Ich komme zu nah an dieses Ding, bedrohlich nah, Mann. Im Ernst. Ich nicke. Ist da draußen jemand, der mich nicken sieht? Ist da draußen jemand? Irgendjemand?
Tag Drei
Ich öffne die Augen. Mir gegenüber an der Wand hängt das gerahmte Bild eines Engels, St. Jude. Richtig. Ich bin im Krankenhaus.
Neben mir steht eine Dame in rosafarbener Krankenhaustracht, die an einem Beutel herumfummelt, der am Infusionsständer hängt. Sie ist kräftig gebaut und könnte mir wahrscheinlich in den Hintern treten, wenn sie wollte. Ihre Haut ist kaffeebraun, ohne eine Spur Milch. Um ihren Hals trägt sie ein Schlüsselband, an dem eine Schar Engel hängt und ihr Namensschild; GLORY BEAUVAIS steht drauf.
»Bist du wach?«, fragt sie mich mit starkem Akzent.
»Ja«, sage ich mit krächzender Stimme.
»Gut. Ich muss deine Werte messen.« Glory ist anscheinend kein Freund von Geplauder und netten Worten. Sie legt mir die Manschette des Blutdruckmessgeräts um den Arm, pumpt sie auf und beobachtet das Ticken der Ziffern auf dem Gerät. Als sie damit zufrieden ist, reißt sie den Klettverschluss der Manschette mit lautem Ratsch auf. »Hundertzwanzig zu siebzig. Gut. Ein bisschen Fieber. Ich sag’s dem Doktor, mal sehen, ob wir dir etwas dagegen geben können. Hast du Schmerzen?«
Oh, toll. Der Süßwarenladen ist offen! »Ja«, keuche ich, »ne Menge Schmerzen.«
Glory spitzt ihre von jedem Lippenstift unberührten Lippen. »Ich werd dir ne Dosis Aspirin geben.«
»Ich glaub, ich brauch mehr als das«, sage ich.
Sie reagiert nicht drauf. »Ich sag dem Doktor Bescheid. Dein Frühstück kommt gleich.«
Der alte Knacker auf der anderen Seite des Flurs hustet die ganze Zeit. Ich fange an, die Huster zu zählen. Achtundzwanzig in eineinhalb Minuten. Um den Lärm zu übertönen, zieh ich mir Soaps rein. Das funktioniert nicht wirklich, aber jetzt bin ich wenigstens von der Geschichte einer Frau und ihrer bösartigen Zwillingsschwester gefesselt, die sich aus Gründen, die ich nicht durchschaue, gar nicht ähnlich sehen. Und der alte kranke Kerl von gegenüber hustet sich die Lunge aus dem Hals.
Falls es dich gibt, Gott, kannst du nicht ihn zu dir nehmen statt mich?
Tag Fünf
Jetzt ist es offiziell. Ich hasse Haferschleim. Krankenhaushaferschleim ist grau und hat die Konsistenz von Klebstoff. Du kannst zwei Päckchen Zuckeraustauschstoff reinkippen und einen ganzen Liter Milch und trotzdem schmeckt’s nach nichts. Wenn so meine letzten Tage aussehen sollten, dann drückt mir lieber jetzt das Kissen aufs Gesicht. Dad war heute Morgen hier. Nun ist Mom an der Reihe. Sie hat mir ein paar neue Comics mitgebracht, echt cool von ihr. Ich muss wohl eingeschlafen sein. Als ich aufwache, sitzt sie auf dem hässlichen Krankenhausstuhl und steckt Fotos in ein großes Buch. Sie lächelt mir leicht zu. »Ich dachte mir, ich könnte das Fotoalbum von unserer Reise nach Disney World endlich mal fertig machen.«
»Mom, ich war fünf, als wir da waren.«
»Weiß ich. Ich hab immer gesagt, ich komm noch dazu.« Sie gibt mir ein Foto in die Hand. »Erinnerst du dich?«
Auf dem Bild stehen wir alle vor dem Eingang von Tomorrowland. Ich grinse wie ein Wahnsinniger.
»Du hast diesen Ort geliebt. Wir haben alle Vergnügungsfahrten, bei denen du dabei sein konntest, mindestens viermal gemacht.«
»War das bevor oder nachdem ich in Small World ausgeflippt bin?«
»Danach«, sagt sie mit einem traurigen kleinen Lächeln. Mom durchsucht die Schuhschachtel mit den Fotos. Eins nach dem anderen nimmt sie heraus und lässt es wieder fallen. »Ich weiß nicht, wo ich die alle unterbringen soll.«
Schließlich macht sie die Schachtel zu und lässt sie zusammen mit dem halb fertigen Fotoalbum in ihre Büchertasche gleiten – in die Vergessenheit.
Tag Neun
Das Kiffertrio besucht mich. Wenn man ihnen beim Reden zuhört, ist das so, als ob man ein Volleyballspiel verfolgt und die Spieler nicht auseinanderhalten kann.
Rachel: Ey, Alter, ein paar von den Schwestern sind ganz schön heiß. Die eine mit dem dunklen Haar und dem Pferdeschwanz. Ist die ein Szenefreak? Piercing und Wissenschaft?
Kevin: Ist sie schon mal reingekommen, mit aufgelöstem Haar, und hat geflötet: »Oh, Cameron, dass es so sein wird, hätte ich mir nie träumen lassen!«
Rachel: Du Schwein. Hör auf, so über meine zukünftige Freundin zu reden.
Kyle: Obwohl – das könnte total so was wie ne Letzter-Wunsch-Kiste sein. Tu es! Schieb ne heiße Schwestern-Nummer, bevor du abtrittst.
Kevin: Sie stopfen dich doch mit guten Pillen voll? Mein Onkel kam zu ner Gallenblasenoperation rein und sie gaben ihm so was wie Lasst-mich-Gott-sehen-Ocontinsowas. Das war die einzige Woche, in der er nicht als totales Arschloch rumlief. Wir wollten ihm das Zeug sogar in seine Wasserversorgung kippen.
Rachel: Hast du’s gehört? Die Schülermitverwaltung verkauft goldene Schleifchen, um Geld und was weiß ich für dich zu sammeln. Die ganze Schule trägt sie schon. Mrs Rector hat sogar in ihre Schnapskasse gegriffen, um eins zu kaufen, und das, obwohl sie dich gar nicht mag.
Kevin: Eigentlich sollten die Schleifchen schwarz-weiß sein, weißt du, wie’n Kuhfell. Aber das hatten sie schon für ne andere Krankheit gemacht.
Kyle: Tut mir echt leid, Alter, dass du im Krankenhaus liegen musst.
Rachel: Scheiße.
Kevin: Ja, definitiv die Oberscheiße.
Sie nicken unisono mit den Köpfen.
Kevin: Hey! Wir haben dir den neuen Director’s Cut von Star Fighter mitgebracht, Episoden eins bis vier.
Kyle: Die einzigen, die man sehen muss.
Rachel: ’tschuldigung, die Plastikhülle ist weg, aber wir haben uns die Filme letzte Nacht reingezogen. Dachten uns, das macht dir nichts aus. Die Kopie ist so scharf, da kannst du alles sehen, zum Beispiel wenn Star Fighter sich rumschlägt mit Dark –
Kevin: – Matter? Das Feuer dieser ultimativen Friedenswaffe sieht nicht mal computergeneriert aus. Einfach geil!
Rachel und Kyle: Ja. Geil.
Sie legen die DVDs ans Ende des Bettes, wo ich sie auf meinen Zehen balanciere.
Rachel: Also, Alter. Ernsthaft. Bevor du ins Gras beißt, glaubst du, dass du bei dieser Krankenschwester noch ein Wort für mich einlegen kannst?
Die Tür geht auf, und eine alte Dame, die aussieht wie ein winziges Vögelchen, schlurft herein. Ihren Infusionsständer benützt sie als Gehstock.
»Ähm, ich glaube, Sie sind im falschen –«, beginne ich.
Sie hält den Finger vor die Lippen und bringt mich zum Schweigen. »Die werden hier nicht nach mir suchen.«
»Wer?«
Ihre Augen weiten sich. »Die! Ich muss hier raus. Ich lauf davon.«
Ihr drahtiges graues Haar fällt in langen, wirren Strähnen vorne über ihr Krankenhausnachthemd. Ich frage mich, ob sie eine Alzheimerpatientin oder so was ist und ob ich nach der Schwester rufen sollte. Ich taste nach dem Rufknopf, aber der ist außer Reichweite. Die alte Lady krümmt sich und hustet. Das ist der Husten von der anderen Seite des Flurs.
Sie lässt sich auf dem Stuhl neben meinem Bett nieder und legt ihre knochige Hand auf meinen Arm. »So sollte ich nicht sterben.«
»Wie sollten Sie denn sterben?«
Ihre Augen leuchten verträumt. »In einem Haus am Meer, in einem Schlafzimmer im Obergeschoss. Es ist ein Spätfrühlingstag und durch das geöffnete Fenster strömt der Duft der Lilien aus dem Tal herein. Und vor dem Haus ist ein Garten und der ist mit Lampions aus Papier geschmückt, und die Kinder – die Kinder jagen Glühwürmchen, und ihre Eltern lachen und unterhalten sich, als ob sie alle Zeit der Welt haben. Ich will in einem Haus am Meer sterben. Und ich will aus diesem Leben gehn, als ob das Leben nichts weiter ist als ein Pullover, der mit den Jahren ausgeleiert ist und abgenutzt – einen, den man nicht mehr braucht. So soll es sein. Aber nicht hier. Niemals hier.« Sie schaut mich direkt an. »Ich glaube, du solltest nicht sterben, bevor du nicht bereit bist. Bevor du nicht den letzten Lebenstropfen aus dir herausgepresst hast.«
Die Dame geht vielleicht auf die neunzig zu. Ich würde sagen, sie hat ganz schön viele Tropfen aus sich herausgepresst. Ich möchte sie dafür anbrüllen, dass sie so lange Zeit hatte. »Tja, vermutlich liegt das nicht in unserer Hand«, sage ich bitter.
»Blödsinn! Das sagen sie immer und deshalb willst du ohne zu kämpfen aufgeben.« Sie kommt mir so nahe, dass ich ihren Alte-Leute-Geruch in der Nase habe – muffig und altmütterlich, wie ein Zimmer, das niemand mehr betritt. »Ich hab sie gesehen, da draußen, sie haben auf dem Rasen gebrannt und waren so groß wie Häuser und so hell, so hell.«
Meine Nackenhaare stehen senkrecht.
»Sie haben diese durchgedrehten Feuerriesen gesehen?«
Sie nickt, mit ängstlichen, großen Augen.
»Was sind sie?«, flüstere ich.
»Chaos. Zerstörung. Das Ende aller Hoffnung. Oh ja, wir leben in fürchterlichen Zeiten. Ich muss hier weg!«
Im Gang erscheint ein Krankenpfleger. »Mrs Morae, kommen Sie schon. Sie sollten nicht hier sein.«
»Ich geh hin, wohin ich will!«, blafft sie zurück.
»Also, Mrs M, machen Sie keine Fisimatenten.« Der Pfleger kommt näher, wie ein großer Schatten, und für einen Augenblick sehe ich in diesem Schatten die Konturen von etwas Schrecklichem – dann verändert es sich. Da ist nichts weiter als ein dunkler Fleck an der farblosen Wand.
»Sehen Sie, wir wollen doch nur Ihr Bestes. Zurück ins Bett, Mrs M«, sagt der Pfleger und fasst ihren Arm.
»Ist schon gut«, sag ich ihm, »sie kann bleiben, wirklich!«
»Sag ihnen, dass sie einen Fehler machen«, zischelt sie, während sie hustet und der Pfleger sie behutsam davonführt. »Ein Haus am Meer. Sag’s ihnen!«
Ich bin eingeschlafen, aber meine Träume sind voller schlimmer Ereignisse – Feuer verschlingen die Welt. Über uns tut sich ein schwarzes Loch auf und zieht alles in sich hinein, als ob wir niemals existiert hätten. Kranke Kühe stürzen auf den Feldern zu Boden wie gasvergiftete Soldaten in einem Krieg vor langer Zeit. Der Engel im matten Brustpanzer klopft mit den Händen gegen eine Fensterscheibe, während Schnee schon seine Wimpern und sein Haar bedeckt. Mit pochendem Herzen wache ich auf, weiß nicht genau, wo ich bin oder was passiert ist, ob ich etwa die Unterhaltung mit der alten Lady nur geträumt habe.
Ein Haus am Meer. Dort wäre ich jetzt gerne. Und ich wünschte, ich müsste nur einen Knopf drücken, um hier rauszukommen und all das Zeugs hinter mir zu lassen.
Tag Dreizehn
Glory war zwei Tage weg. Heute ist sie wieder da, in ihrer rosafarbenen Schwesterntracht, die gut zur dunklen Hautfarbe passt. Ich fühle mich nicht so großartig. Manchmal denke ich, ich sehe den Punkerengel in der Ecke sitzen. Er liest ein Comicheft. Auf dem Cover ist der vom Pech verfolgte Kojote, den gleich ein Amboss treffen wird. Als ich das Mom erzählte, füllten sich ihre Augen mit Tränen, und seither verliere ich kein Wort mehr über seltsame Engelserscheinungen.
»Zeit für deine Medizin«, ruft Glory ohne jedes Trara.
Ich spüle die Medikamente runter, auch wenn sie schwer zu schlucken sind. Mein Körper scheint von Mal zu Mal schwächer zu werden.
»Okay«, sagt Glory, nachdem meine Blutdruckwerte für die Nachwelt aufgezeichnet sind, »brauchst du noch was?«
»Nein«, sage ich und beobachte sie, wie sie ihren Rollwagen zur Tür schiebt. »Doch.«
Glory hält an und blickt zurück. Da gibt’s kein »Was brauchst du denn, mein Herzchen?« oder »Oh, mein armes, tapferes Häschen«. Nö. Sie steht nur da und wartet. Und ich weiß, sie ist sogar ein bisschen verärgert. Irgendwie macht sie mir das sympathisch. Wir sprechen die gleiche Sprache.
»Werd ich wieder gesund?«
Für ein paar Sekunden wird Glorys stocksteifer Körper weicher. »Das musst du den Arzt fragen, Cameron.« Ich mag es, wie sie meinen Namen ausspricht, als ob er drei Silben hätte, nicht nur zwei.
»Es ist nur … wissen Sie, niemand sagt mir irgendwas.«
Glory wirft einen Blick den Flur hinunter, wo sie noch Krankendaten erfassen und Patienten untersuchen muss. »Weil niemand was darüber weiß, wie das alles zusammenhängt und warum. Warum Gott die Guten oder die Jungen zu sich nimmt oder warum wir leiden müssen. Ich weiß auch nicht, warum er mir mein kleines krebskrankes Mädchen genommen hat, als sie gerade mal fünf Jahre alt war.« Sie atmet tief durch, als ob der Schmerz noch ganz frisch ist. »Ich weiß es nicht und ich werd’s wohl nie erfahren.«
Mein Atem stockt. Ich fühle, dass ich etwas sagen sollte, aber irgendwie glaube ich nicht, dass Glory der Ich-brauche-dein-Mitleid-Typ ist.
»Drück einfach den Knopf, wenn du was brauchst«, sagt sie, diesmal ein bisschen sanfter.
Tag Fünfzehn
Chet King besucht mich. Obwohl BSE nicht wirklich ansteckend ist, hat er sich herausgeputzt und trägt volle Schutzkleidung – weißer Papierkittel, Atemschutzmaske und Handschuhe. Er sieht aus wie ein riesiger paranoider Medizinschneemann oder irgendein exzentrischer Popstar. Er hebt eine Hand und das erinnert mich an diese Winkekatzen in japanischen Restaurants.
»Hi, Champ«, sagt er schließlich. »Jenna hat mich gebeten, mal kurz vorbeizuschauen. Nicht, dass ich nicht kommen wollte, weißt du …« Hinter der Maske klingt seine Stimme dumpf. »Hey! Hast du’s gehört? Die Trainer haben uns erlaubt, das All-Star-Spiel dieser Woche dir zu widmen. Jeder von uns betet für dich, Bruder.«
Ich stelle das Fernsehgerät ein bisschen lauter. Ich verpasse ungern eine einzige brillante Sekunde meiner Soaps.
Chet räuspert sich. »Also, ähm, wie geht’s dir so?«
»Gut, bis auf diese lästige Sache mit dem Sterben.«
»Genau darüber wollte ich heute mit dir reden.« Chet klingt so ernst, dass ich tatsächlich die Stummtaste drücke. »Du weißt, Cameron, dass niemand jemals wirklich stirbt. Jedenfalls niemand, der Jesus Christus als Herrn und Erlöser anerkennt.«
Chet fällt neben meinem Bett auf die Knie und betet darum, vor meiner nicht ansteckenden Krankheit geschützt zu werden. Dann nimmt er meine Hand in seine behandschuhte, die – heilige Scheiße! – aussieht wie eine Monsterpranke. Wie kommt es, dass ich nicht so männliche Hände habe? Falls irgendwo eine Reinkarnation verfügbar ist, beantrage ich große Hände.
»Gott, ich bete dafür, dass du die Furcht von Camerons Geist nimmst und ihm seine Sünden vergibst. Im Namen deines Sohnes, Jesus Christus, unseres Erlösers. Amen. – Cam«, sagt Chet mit leiser, sakraler Stimme, »möchtest du noch etwas hinzufügen?«
»Nein, ich glaube, du hast alles Grundsätzliche abgedeckt.«
»Möchtest du nicht deine Sünden beichten und Jesus um Vergebung bitten?«
Ich weiß nicht, warum mich dieser Satz ausrasten lässt. Ich wünschte, ich könnte mir alle Schläuche und Drähte vom Leib reißen und mit meinen Fäusten auf Chet King – dieses Mal mit voller Absicht – einhämmern.
»Sollte nicht vielmehr Jesus bei mir um Vergebung bitten?« Dafür, dass er mich mit sechzehn aus dem Rennen nimmt, ohne dass ich jemals Sex hatte?«
Chet schüttelt den Kopf. »Ich weiß, dass dieser Ärger nur eine Schutzmauer ist, Cameron.«
»Nein, ist er nicht. Ich bin wirklich stocksauer.«
»Er ist nur eine Schutzmauer gegen den Schmerz in deiner Seele. Ich kann das sehen. Und Gott auch.«
Jetzt würde ich am liebsten schreien: Wenn Gott meinen Schmerz sehen kann, warum, zum Teufel, nimmt er ihn nicht von mir? Wenn Gott wirklich existiert, warum erlaubt er all die schrecklichen und unfairen Dinge, die passieren? Was für ein sadistischer Fiesling ist er eigentlich?
»Du glaubst, dass ich nicht weiß, wie sich das anfühlt, im Bett zu liegen, sich zu bemitleiden und sich zu fragen, warum gerade einem selbst etwas Schreckliches passiert ist?«, sagt Chet. »Ich war mir nicht mal sicher, ob ich je wieder würde laufen können. Football, das war mein Leben, und jetzt werde ich niemals mehr spielen. Aber ich hab’s akzeptiert, Cameron. Und weißt du, warum?«
»Weil du erkannt hast, dass es ein Sport für geistig Minderbemittelte ist?«
Für einen Augenblick ballen sich Chets Hände in den Handschuhen zu Fäusten, bevor sie sich wieder entspannen. »Weil ich Jesus Christus in mein Herz und in mein Leben gelassen habe. Und ich weiß, dass das, was mir passiert ist, kein Zufall war. Gott hat Größeres mit mir vor und daran muss ich glauben.«
Die Frage rutscht mir einfach so aus dem Mund, ohne dass ich darüber hätte nachdenken können. »Und was, wenn nicht Gottes Wille dahintersteckt, Chet?«
»Tut er aber. Ich weiß das.«
»Nein, Chet, was ist, wenn das einfach ein Scheißzufall war, was dir passiert ist? Was ist, wenn’s nur Pech war, so was Zufälliges wie das Flügelschlagen eines Schmetterlings in Südamerika, der deinen Wirbelbruch ausgelöst hat? Was ist, wenn’s überhaupt keinen göttlichen Plan gibt und wir total auf uns selbst gestellt sind?« Ich weiß nicht, was für eine Antwort ich hören will oder ob es überhaupt eine Antwort gibt. »Hast du jemals darüber nachgedacht, Chet?«
»Nein. Nein, hab ich nicht«, sagt er selbstgewiss. »Und du tust mir leid, wenn du so tickst.«
Ja, denke ich und verschließe meine Augen vor den Chet Kings dieser Welt. Ich tu mir auch leid.
Tag Soundso
Das Husten auf der anderen Seite des Flurs hat aufgehört.
Hey, Cameron. Pssst. Wach auf!
Nein. Nicht aufwachen. Schlafen. Müde.
Caaaammerrrronnnn! Komm schon. Wir müssen reden. Es gibt viel zu tun, okay?
In meinem Kopf nimmt sie Gestalt an. Ein schmales feenhaftes Gesicht mit diesem breiten, vollen Mund. Ihr Haar ist kurz und stachelig. Pink. Und, jawoll, die Flügel sind ausgebreitet. Mit Farbspray sind Schablonenmuster der Buddhakuh draufgesprüht.
Schau mal, sagt sie.
Sie knipst einen Schalter auf ihrem Brustharnisch an, und die Buddhakühe auf den Flügeln schweben rauf und runter, wie auf einer behämmerten digitalen Werbetafel.
Cool, was?
Wer bist du?, frage ich.
Warum findest du das nicht selbst heraus?
Wie?
Sie legt die Hände an ihren Mund, als ob sie laut rufen wollte. Stattdessen flüstert sie. Wach auf.
Noch etwas später
Ich kann nicht schlafen. Jedes Mal, wenn ich wegdöse, denke ich an die alte Lady, Mrs M, und an das, was sie gesagt hat. Falls sie es gesagt hat. Vielleicht habe ich es nur geträumt.
Mein Kopf tut weh. Meine Lungen tun weh. Die Arme. Die Beine. Alles.
Ich schalte den Fernseher an, damit die Zeit vergeht. Immer die gleiche Scheiße auf YA! TV. Irgendeine Show namens Drinnen, Draußen & Dahinter – Blick auf die Musik. Als Gast: Parker Day. Er hat sich mit seinem »seriösen Outfit« aufgebrezelt: schwarze Hose, schwarzer Rollkragenpulli, schwarze Nerd-Brille, obwohl das Arschloch sicherlich gar keine braucht. Sie haben ihn sogar in irgendeiner düsteren, windgepeitschten Heidelandschaft aufgenommen, um ihm diese gewisse Tragik zu verleihen.
»Ihr kennt die Geschichte der Copenhagen Interpretation, es sei denn, ihr wart in einer Zeitschleife«, sagt Parker, als sie zum Voice-Over übergehen und ihn kommentieren lassen. »Aufgewachsen in einem Fischerdorf der Inuit und zum musikalischen Weltruhm gelangt, lebten die Mitglieder der Copenhagen Interpretation ihren Traum als Musiker und Botschafter des Weltfriedens. Die Veröffentlichung ihres Debütalbums, Small World, brachte sie ins Rampenlicht der Öffentlichkeit. Bald darauf folgte ihr Meisterwerk Words for Snow. Viele behaupten, die Schwingungen ihrer Musik erzeugten ein Wohlgefühl, ja sogar Euphorie, und ihre Konzerte beförderten harmonische Stimmungen. Wie Leadsänger Thule sagte: ›Was ist so schwer daran, freundlich zu sein?‹ CI tourte mit ihrem allgegenwärtigen Dolmetscher« – man sieht einen Typen im Hawaiihemd am Mikrofon – »durch die Welt und die Welt war nicht mehr dieselbe wie vorher.«
Eine schnell geschnittene Bildmontage flackert über den Bildschirm, untermalt von einem Soundtrack der Copenhagen Interpretation: eine vernebelte Aufnahme der vier Bandmitglieder, von Kopf bis Fuß eingehüllt in schwere Mäntel und Kapuzen, wie Polarforscher; dann ein anderes Nebelbild von ihnen, in demselben Outfit, wie sie auf einem Festival spielen, und noch ein verschwommenes Foto der Musiker im Schnee.
»Und dann, eines Tages, auf der Höhe ihres Ruhms«, Parkers Stimme fährt fort, als der Bildschirm langsam schwarz wird, »waren sie einfach … weg. Mitten im großen Benefizkonzert für Frieden und gegen Krieg und Barbarei verschwanden sie einfach. Waren sie die Opfer eines falschen Spiels? Waren sie des Ruhmes überdrüssig? Waren sie außerirdische Besucher von einem musikalisch weiterentwickelten Planeten? Oder, wie einige andeuten, haben sie sich – die dunkle Seite des Ruhms – in einer Orgie aus Drogen und Gewalt gegenseitig aufgefressen? Nach der Pause sind wir wieder da und erforschen …«
Mehr davon ertrage ich nicht. Ich zappe zu den Nachrichten. Ein aufpolierter Moderator präsentiert das tägliche Grauen. Kindersoldaten. Zerbombte, blutbefleckte Marktplätze. Schreiende Dorfbewohner. Schmelzende Polkappen, verwirrte Eisbären. Kniende Gestalten in schwarzen Kapuzen hinter Stacheldraht. Ein Flächenbrand in einem anderen Staat. Leute, die den Brand beobachten und in deren Sonnenbrillengläsern sich das Feuer spiegelt. Mensch, irgendjemand auf diesem Planeten muss den Resetknopf drücken. Der Moderator lächelt und sie wechseln zu einer netten Story über eine zu Ende gehende Captain Carnage-Meisterschaft.
Nacht
Ich kann nicht atmen.
Scheiße. Meine Lungen. Sind dicht. Nichts mehr. Geht rein. Nur ein Zug. Luft. Schmerz.
Dad. Steht auf. Ängstlich. »Cameron? Cameron!«
Kann seinen Namen nicht rufen. Kann nicht. Nach Hilfe. Rufen. Keine Luft. Dads Augen. So verängstigt. Rennt hinaus. Schreit.
Dad. Zurück. Glory auch. Ein Typ in Grün. Zieht einen. Rollwagen. Wichtige. Maschine.
Glory. Zieht sich. Handschuhe über. Blitzschnell. »Okay, Baby, halt mal still für mich.«
Sie hat nie. Scheiße. Hat mich nie. Baby genannt. Typ in Grün. Plastikschlauch. Noch mehr Leute. Rennen. Greifen. Nach. Meinem Körper. Ich bebe. Ich kann. Nicht. Nicht aufhören.
»Wir müssen intubieren«, bellt Glory. »Gebt ihm die Spritze, jetzt.«
Arme. Drücken mich. Nieder. Zur Seite. Schmerz. Meine Hüfte. Spritze dringt ein. Medizin. Brennt wie Feuer.
Atme, Cameron.
Glorys Gesicht. Entschlossen. Verbissen. »Haltet ihn gut.« Finger. Öffnen. Meinen Mund. Schlauch. Kommt. Oh, Scheiße. Plastik. Wie ne Schlange. Zu viel. Ich. Ersticke. Will. Schreien. Würge. Ersticke. Mein Herz. Verzweifle. Schreie. »Die Hölle da draußen? Meldung, Soldat, Meldung!«
Aufhören. Kann nicht. Aufhören. Bebe. Überall. Panik. Wie eine Welle. Die mich. Mitnimmt. Runterzieht.
Glory. Ganz nahe. »Locker, locker, is gut, Baby, brauchst nicht kämpfen, nur noch ne Minute und es ist vorüber.«
Angst. So viel Angst. Anhalten. Muss bleiben. Aufwachen. Kämpfen. Hat die alte Lady gesagt.
Im Blick. Bild. An der Wand. Engel.
Medikamente. Machen meinen Kopf. Schwer. Dann leicht.
Das Bild. Der Engel. Im Blick. Schau.
Flügel. Bewegen sich. Schweben.
Wie Schnee. Der fällt.