KAPITEL VIERZEHN

In dem ich aufwache

 

Weiß.

Alles, was ich sehe, ist weiß.

Glitzernd.

Weiß.

Glitzernd, glitzernd.

Weiß, weiß.

Das Weiß hat kleine Pockennarben, wie die Oberfläche des Mondes.

Wieder glitzert es und die quadratischen Platten an der Zimmerdecke geraten ins Blickfeld. Das Krankenhaus. Bin ich noch hier? Was ist, wenn nicht? Ich habe Angst, mich umzuschauen. Okay. Geh es langsam an. Augen nach links. Fenster und Heizkörper an der Wand. Augen nach rechts. Besucherstühle. Mom und Dad. Schlafend.

Mom und Dad. Sind noch hier. Alles ist noch hier.

Danke.

 

Als ich wieder aufwache, ist es Nacht. Als Erstes spüre ich, dass kein Schlauch mehr in meinem Hals steckt. Die Kehle fühlt sich trotzdem ausgetrocknet und empfindlich an, als ob ich zwei Tage ständig Kieselsteinchen gegessen hätte.

»Bist du wach?«

Ein neues Gesicht erscheint über meinem Kopf. Ich stoße ein Krächzen aus. Meine kratzige Stimme überrascht mich.

»Oh, ’tschuldigung, Mann, ich dachte, du bist wach.«

Ich schließe meine Augen und hoffe im Stillen, dass die Halluzination verschwindet. Als ich sie wieder öffne, ist das Gesicht direkt über meinem.

»Bist du okay, Amigo?«

Ich versuche zu sprechen, aber meine Kehle tut weh. »Könnten Sie. Wasser. Bitte?«

»Oh. Sicher. Kein Problem, Mann.«

In ungefähr drei Sekunden halte ich eine Tasse in meiner Hand. Ich nehme ein paar Schlückchen und spüre, wie sich meine Kehle mit jedem Schluck erweitert. Besser. »Danke, tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe. Es ist nur … Ich dachte, ich wäre, ähm, gestorben. Oder so was.«

»Ja, versteh schon, ich bin im ersten Augenblick selbst ein bisschen ausgeflippt«, sagt er.

»Dann waren Sie hier?«

»Wurde eben hereingerollt.«

Jetzt sehe ich mir die Gestalt genau an. Sein Gesicht hat was von einem Engelchen. Pausbäckchen und eine Knubbelnase. Große, dunkle, fast mädchenhaft schöne Augen, bewacht von zusammengewachsenen Augenbrauen, die auf Kummer und Misstrauen hindeuten. Abgerundet wird das Ganze durch einen riesigen Atompilz krauser Haare. Calhoun High. Schülertoilette, dritter Stock.

»Du bist der Zocker«, sage ich.

»Viermal Captain Carnage-Champion. Ich bin Gonzo, falls du dich nicht erinnerst. Das heißt, mein voller Name lautet Paul Ignacio Gonzales, aber jeder ruft mich Gonzo.«

»Cameron Smith.«

»Ja, ich weiß.«

Gonzo klettert auf sein Bett. Das sieht fast aus wie irgendein Kleinkind, das versucht, ins Bett zu krabbeln. »Also. Du bist der Typ mit dem Rinderwahnsinn. Wow.«

»Ja. Wow.«

»Wow, wow, wow.« Pause. »Das ist ne verdammte Scheiße, Mann. Wie hast du’s gekriegt?«

»Niemand weiß das wirklich«, sage ich.

»Hey, nichts für ungut, aber ist das nicht tödlich?«

Niemand sagt das so frei heraus und direkt. Gonzo hat gerade eine Eintragung in meinem Buch verdient. »Ja, sollte eigentlich. Ich bin so was wie ein Versuchskaninchen.«

»Das ist echte Scheiße, Mann.« Gonzo verstellt das Rückenteil seines Bettes. Das Ding ächzt und fährt mechanisch nach oben, bis es im rechten Winkel zum Bett steht.

»Also … und warum bist du hier?«, frage ich.

»Ich? Ich bin ein paarmal im Jahr hier.«

»Oh«, sage ich und bin mir nicht sicher, ob das was mit seiner Kleinwüchsigkeit zu tun hat.

Gonzo gießt seine Dose RAD XL Limo in eine Plastiktasse, leert sie in einem Zug und beendet das Ganze mit einem eindrucksvollen Rülpser. »Meine Mom ist felsenfest davon überzeugt, dass mit mir was schrecklich falsch läuft und ich bald sterben werde. Wenn ich einen Hautausschlag kriege, denkt sie, das ist Beriberi. Wenn ich ein bisschen abnehme, denkt sie, ich hab Darmkrebs oder nen Bandwurm. Wenn ich erkältet bin, denkt sie, das is ne Lungenentzündung. Ich glaub, ich halte den Rekord für die meisten Thoraxröntgenaufnahmen, die je von einem einzelnen menschlichen Lebewesen unter zwanzig Jahren gemacht wurden.

»Wie alt bist du?«

»Sechzehn.«

»Ich auch.« Ich trinke noch ein Schlückchen Wasser. »Weswegen bist du dieses Mal hier?«

»Ich nehm diese Wachstumshormone«, sagt er, als ob er sich nicht sicher ist, ob er sie wirklich nimmt. »Sie sollten mir helfen, größer zu werden. Hat nicht funktioniert, wie du ja wahrscheinlich schon bemerkt hast. Egal, das Zeug wurde aus Kühen gemacht – da gab’s diese große Sammelklage –, also, als meine Mom das über dich in der Zeitung gelesen hat, ist sie ziemlich ausgeflippt, wollte, dass sie, ähm, mein Blut testen und so’n Zeug, um sicherzustellen, dass ich nicht … ähm, Rinderwahnsinn kriege.« Er grinst über beide Backen wie ein Honigkuchenpferd.

»Also«, sage ich, »wie sieht es aus? Wird dein Gehirn zum Schwamm, während wir hier miteinander sprechen?«

»Nein, Mann. Aber ich hab auch diesen schlimmen Husten gehabt, weißt du, musste mich wieder röntgen lassen, um eine Lungenentzündung auszuschließen. Oder TBC. Oder Lungenkrebs.«

Das Telefon neben Gonzos Bett läutet. Er lässt es zweimal klingeln, als ob er nicht abheben will, aber beim dritten Läuten geht er dran.

»Hi, Mom. Nee, ich bin okay. Mittagessen? Irgend ne Art scheußliches Hühnerfrikassee mit Kartoffelpüree und Karotten und nem kleinen Pudding. Mom, wie kann das Hühnchen vergiftet sein – wir sind im Krankenhaus! Ich bin nicht unfair. No soy malo! Okay. Okay, okay, siento. Ja, sie haben mein Rückenmark punktiert. Nein. Keine Meningitis. Nein, ich seh das entspannt. Mom, ich habe keinen Gehirntumor. Hab ich nicht! Was meinst du? Welcher Artikel? Also, das will nicht viel heißen … aber das kriegt nicht jeder Zwerg!«

Gonzo lässt sein Rückenteil langsam in die Horizontale fahren. »Wann kommst du vorbei? Kannst du mir paar Bücher mitbringen? Und CDs? Oh, und meine Star Fighter-

DVD.«

Natürlich ist er ein Star Fighter-Typ.

»In Ordnung. Du auch. Mom. Ich kann nicht. Ich kann nicht.« Er seufzt und seine Stimme wird leiser. »Ich hab dich auch lieb.«

In dem Augenblick, als Gonzo auflegt, greift er nach dem Asthmaspray auf dem Nachttisch, sprüht sich zweimal kräftig in den Rachen und hustet sich schließlich alles mit einem großen Atemstoß aus dem Leib.

»Bist du okay?«, frage ich.

Er nickt. »Ja, Mann. Meine Mom hat mich gerade ein bisschen wahnsinnig gemacht, sonst nichts. Ich bin ihr einziges Kind. Sie hat mich ganz allein großgezogen und – Scheiße, mein Dad hat sich nichts aus Kindern gemacht, vor allem nicht aus einem Zwergenkind.«

»Oh«, sage ich.

»Hey, magst du die Copenhagen Interpretation?«, fragt Gonzo. »Hab den Remix von Words for Snow. Hast du den Werbespot für Rad XL gesehen, den sie mit dem Song unterlegt haben? ›Wenn du all die anderen Limos satthast!‹? Das ist die Härte, Mann! Hey, magst du Star Fighter

»Wer nicht?«

»Ich kenn den ganzen Film auswendig, Mann! Meine Lieblingsrolle? Wenn Odin sagt ›Diese Star Fighter sind die ganzen Mühen nicht wert. Ihr werdet ihnen helfen zu entkommen‹ und wenn er die Wächter total hypnotisiert, damit sie die Typen gehen lassen. Mann, ich wollte, ich könnte das mit Mrs Rector machen. ›Das sind nicht die Noten, die Sie mir geben wollen, Lehrerlein. Sie werden mir ein besseres Zeugnis verschaffen oder Sie spüren den gerechten Zorn meiner ultimativen Friedenswaffe.‹ Affengeil. Hey, hast du –«

Wieder läutet das Telefon. Gonzo beißt die Zähne zusammen. Er starrt den Apparat an, als ob er Angst davor hat. Diesmal lässt er es viermal klingeln. »Hi, Mom«, sagt er mit einem tiefen Seufzer. »Was hast du? Mom. Warum? Warum hast du im Internet nach dem Nährstoffgehalt des Krankenhausessens geguckt? Auf keinen Fall. Nein, haben sie nicht. Sie müssen den Tisch von Speisekrümeln säubern, bevor sie Hähnchen zubereiten, okay? Schließlich ist das ein Krankenhaus. Ich bin mir sicher, dass sie supervorsichtig sind. No hago esto. Ich frage nicht nach einer Adrenalinspritze. Mom! Du hörst mir nicht zu …«

Ich drehe mich um, stülpe mir den Kopfhörer über: Great Tremolo. Ein Knopfdruck – und die vertraute Flöten-und-Helium-Stimme meines Lieblingskitschmusikers ertränkt Gonzos zunehmend verzweifelten Streit mit seiner Mutter. Die Melodien stürzen und fallen, als ob jemand zu singen versucht, während er sich freut. Das war das Einzige, was mich in den vergangenen zwei Wochen glücklich gemacht hat, und davon werde ich nicht lassen.