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Am Mittwochabend, kurz nachdem Mom und Elliott gegangen waren, rief Detective Barrott an. Ich hatte gedacht, es könnte eigentlich nicht mehr schlimmer kommen, doch da hatte ich mich geirrt. Barrott fragte mich, ob ich wisse, dass der Anruf, den ich gerade erhalten hätte – bei dem ich gedacht hatte, jemand habe sich verwählt –, mit Leesey Andrews’ Handy getätigt wurde. »Aber, das kann doch gar nicht sein.« Ich hielt inne, um die Nachricht zu verarbeiten. »Das ist absolut unmöglich.«
Barrott versicherte mir knapp, dass es sich so verhielt, und fragte mich, ob es meiner Meinung nach sein könne, dass es mein Bruder gewesen war, der mich hatte erreichen wollen.
»Als ich mich meldete, wurde sofort aufgelegt. Ich dachte, jemand habe eine falsche Nummer gewählt. Können Sie nicht feststellen, dass ich mit niemandem gesprochen habe?«
»Das wissen wir. Wir wissen auch, dass der Festanschluss in dieser Wohnung nicht in den öffentlichen Verzeichnissen aufgeführt ist, Ms. MacKenzie. Ich rate Ihnen, machen Sie keinen Fehler. Falls Ihr Bruder derjenige ist, der Leeseys Handy hat, und falls er noch einmal versucht, Kontakt zu Ihnen aufzunehmen, und Sie helfen uns nicht, ihn aufzuspüren, könnten Sie sich der Mittäterschaft an einem sehr schweren Verbrechen schuldig machen.«
Statt ihm zu antworten, legte ich einfach den Hörer auf.
Irgendwann zwischen vier und sieben Uhr am Donnerstagmorgen fasste ich den Beschluss, so bald wie möglich ein Treffen mit Lucas Reeves zu vereinbaren. Ich benötigte die Hilfe eines Menschen, dem ich zutraute, gründlich und unvoreingenommen zu sein. In den Unterlagen zu Macks Verschwinden hatte ich bereits gelesen, dass er praktisch mit jeder infrage kommenden Person gesprochen hatte, die meinen Bruder näher gekannt hatte. Seine Ansicht, die er in seiner Schlussbetrachtung Dad mitgeteilt hatte, war klar und deutlich. »Die Untersuchungen haben keinerlei Anhaltspunkt dafür ergeben, dass Ihr Sohn von einem so gravierenden Problem bedrängt wurde, das ihn zu einem freiwilligen Untertauchen hätte bewegen können. Ich würde daher die Möglichkeit einer psychischen Erkrankung nicht ausschließen, die er bisher erfolgreich geheim halten konnte.«
Elliott und ich waren um zwölf Uhr mittags im Büro von Thurston Carver verabredet, dem Strafverteidiger, den Elliott ausgesucht hatte, um uns zu vertreten. Um neun Uhr morgens rief ich Reeves an. Er war noch nicht im Büro, doch seine Sekretärin versicherte mir, er werde mich zurückrufen, sobald er eingetroffen sei. Ganz offensichtlich hatte sie meinen Nachnamen wiedererkannt. Eine halbe Stunde später rief er an. So kurz wie möglich klärte ich ihn über den Stand der Dinge auf. »Könnte ich vielleicht heute Vormittag zu Ihnen kommen?«, fragte ich und bemerkte, dass es sich fast wie eine verzweifelte Bitte anhörte.
Er antwortete mit tiefer und sonorer Stimme: »Ich werde meinen Terminplan ändern. Wo ist Ihr Treffen mit dem Anwalt?«
»An der Park Avenue, Ecke Forty-fifth«, sagte ich. »Im MetLife Building.«
»Meine Telefonnummer ist dieselbe geblieben, aber mein Büro ist vor zwei Jahren umgezogen. Wir sind jetzt an der Park Avenue, auf der Höhe der Thirty-ninth Street, nur ein paar Häuserblocks vom MetLife entfernt. Könnten Sie um halb elf hier sein?«
Ich bejahte und beendete das Gespräch. Ich war schon geduscht und angezogen. Der launische Wettergott hatte einen weiteren stürmischen Tag beschert. Bei einem Blick aus dem Fenster sah ich, dass die Leute Jacken trugen und die Hände in den Hosentaschen vergruben, und so entschied ich mich doch gegen ein leichtes Kostüm und schlüpfte in einen sportlichen Hosenanzug aus Samt, in dem ich weniger wie eine Anwältin und eher unauffällig wirkte. Besonders vorteilhaft sah er nicht aus. Er war dunkelgrau, und als ich in den Spiegel sah, stellte ich fest, dass er die Schatten unter meinen Augen und die ungewöhnliche Blässe meiner Haut nur noch betonte. Normalerweise trage ich tagsüber nicht besonders viel Make-up, doch diesmal nahm ich mir die Zeit, Grundierung, einen Hauch von Lidschatten, Rouge, Wimperntusche und Lippenstift aufzutragen. Jetzt habe ich mich auch noch ordentlich aufgedonnert, nur um meinen Bruder zu verteidigen, dachte ich, ärgerte mich aber sofort über die Bitterkeit meines Gedankens.
Wäre ich doch nicht zu Detective Barrott gegangen. Hätte ich doch nicht die Kassette in Macks Koffer gefunden. Sinnlose Gedanken.
Kopfschmerzen kündigten sich an, also ging ich, obwohl ich keinen Hunger verspürte, hinunter in die Küche, setzte eine Kanne Kaffee auf und röstete einen englischen Muffin. Ich trug alles in die Frühstücksecke und setzte mich an den Tisch, von dem aus man den spektakulären Blick über den East River genießen konnte. Aufgrund des stürmischen Windes herrschte sichtlich eine starke Strömung, und unwillkürlich zog ich eine Parallele zu meiner eigenen Befindlichkeit. Ich fühlte mich von einer Strömung mitgerissen, gegen die ich nicht ankämpfen konnte, und so musste ich mich wohl oder übel von ihr weitertreiben lassen, bis sie mich überwältigte oder mich freigab.
Ich war in diesen wenigen Tagen froh gewesen, dass Mom in Griechenland unterwegs war und ich die Wohnung ganz für mich hatte. Doch jetzt, wo sie wieder in New York war, hatte ich ein ganz komisches Gefühl bei dem Gedanken, dass sie nicht in ihrer eigenen Wohnung wohnte. Als ich das Gebäude verließ, verstand ich jedoch, warum. Die Fahrzeuge der Medien waren in voller Stärke angerückt, und die Reporter stürzten sich sofort auf mich, um mir eine Erklärung abzuringen. Genau so ist es ihr gestern Abend ergangen, dachte ich.
Ich hatte beim Empfang angerufen und den Portier gebeten, ein Taxi für mich zu rufen. Es wartete bereits eines auf mich, als ich hinaustrat. Die Mikrofone ignorierend, stieg ich hastig ein und sagte: »Fahren Sie erst mal los.« Ich wollte vermeiden, dass jemand mitbekam, welches Ziel ich ihm nannte. Zwanzig Minuten später saß ich im Empfangsraum von Lucas Reeves’ Büro. Pünktlich um zehn Uhr dreißig begleitete er ein angespannt wirkendes Paar, vermutlich Kunden von ihm, zur Eingangstür, schaute sich um und kam auf mich zu. »Ms. MacKenzie, bitte kommen Sie.«
Wir waren uns nur ein einziges Mal vor zehn Jahren in die Wohnung meiner Eltern begegnet, daher hatte er sich entweder an mein Gesicht erinnert, oder er war einfach davon ausgegangen, dass ich Carolyn MacKenzie sein müsse, weil sonst niemand im Empfangsraum wartete.
Lucas Reeves war noch kleiner, als ich ihn in Erinnerung hatte. Ich schätze, dass er mit Schuhen nicht viel mehr als einen Meter sechzig maß. Er besaß eine dichte grau melierte Haarmähne, die offenbar so getönt war, dass der Eindruck eines natürlichen Ergrauens entstehen sollte. Um seine Mundwinkel zeichneten sich viele kleine Falten ab, woraus ich schloss, dass er ein starker Raucher gewesen war. Seine tiefe, angenehme Stimme wirkte im ersten Moment ungewöhnlich für seine kleine Statur, doch passte sie zu seinen freundlichen Augen und seinem kräftigen Händedruck.
Ich folgte ihm in sein Büro. Statt hinter seinen Schreibtisch zu gehen, führte er mich zu einer Sitzgruppe mit zwei Sesseln, einer Couch und einem Couchtisch. »Ich weiß nicht, wie das bei Ihnen ist, Ms. MacKenzie«, sagte er, während er mir einen der Sessel anbot, »aber ich trinke um diese Zeit immer meinen zweiten Kaffee. Kann ich Ihnen auch einen anbieten? Oder möchten Sie lieber, wie meine britischen Freunde, eine Tasse Tee?«
»Ich hätte sehr gerne schwarzen Kaffee«, sagte ich.
»Wunderbar, dann wollen wir beide das Gleiche.«
Die Dame vom Empfang öffnete die Tür und streckte den Kopf herein. »Was darf ich bringen, Mr. Reeves?«
»Zweimal schwarz. Danke, Marge.« Wieder an mich gewandt, sagte er: »In diesen Zeiten der politischen Korrektheit habe ich eines Tages angefangen, den Kaffee in unserer kleinen Küche selbst zu machen. Daraufhin haben mein Assistent, meine Sekretärin, meine Empfangsdame und mein Buchhalter mich beschworen, das lieber wieder bleiben zu lassen. Sie meinten, in meinem Kaffee könne man einen Löffel zum Stehen bringen.«
Ich war so dankbar für seinen Versuch, mich ein wenig aufzumuntern, dass ich spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen. Er tat so, als bemerke er nichts. Ich hatte am Telefon angeboten, den Ordner über Mack mitzubringen, doch er hatte gesagt, dass er eine Kopie davon besitze. Sie lag auf dem Couchtisch. Er deutete darauf. »Bringen Sie mich auf den neuesten Stand, Carolyn.« Sein Blick ruhte die ganze Zeit auf mir, als ich ihm berichtete, dass Mack meinetwegen zum Verdächtigen im Fall Leesey Andrews und auch im Fall Esther Klein geworden war.
»Und jetzt glaubt die Polizei, dass Mack Leeseys Handy hat. Natürlich, unsere Nummer steht nicht in den öffentlichen Verzeichnissen, doch sie hat sich seit meiner Kindheit nicht geändert. Hunderte von Leuten dürften sie kennen.« Ich biss mir auf die Unterlippe. Sie zitterte so sehr, dass ich nicht fortfahren konnte. Ich musste daran denken, dass Mom über all diese Jahre diese Wohnung nicht aufgeben wollte, damit ihr nur keiner von Macks Anrufen entging.
Reeves’ Miene war beim Zuhören zunehmend ernster geworden. »Ich fürchte, Ihr Bruder ist ein sehr geeigneter Verdächtiger, Carolyn. Lassen Sie mich aufrichtig sein. Ich konnte damals keinen plausiblen Grund erkennen, weshalb sich ein einundzwanzigjähriger Mann mit seinem Hintergrund aus freien Stücken entscheiden sollte unterzutauchen. Ehrlich gesagt habe ich mir in den letzten Tagen, als so viel in den Medien über ihn berichtet wurde, seine Akte noch einmal vorgenommen und auch ein bisschen zusätzlich recherchiert, aus einem rein persönlichen Bedürfnis heraus. Ihr Vater hat mich damals großzügig bezahlt, und ich habe ihm in keiner Weise helfen können, Macks rätselhaftes Verschwinden zu erklären.«
Er blickte an mir vorbei. »Ah, da kommt der Kaffee, den ich nicht zubereitet habe.« Er wartete, bis die Tassen auf dem Tisch standen und wir wieder allein waren, bevor er fortfuhr. »Ich will es einmal aus der Sicht der Polizei betrachten. An dem Abend, an dem das erste Mädchen verschwand, war Ihr Bruder in diesem Club, The Scene. Aber da waren auch seine beiden Wohnungsgenossen, weitere Columbia-Studenten und ungefähr fünfzehn weitere Gäste. Es war ein kleiner Club, aber es waren natürlich noch ein Barkeeper, einige Kellner und eine kleine Band anwesend. Diese Liste, so vollständig, wie es mir möglich war, befindet sich hier in der Akte Ihres Bruders. Da die Polizei inzwischen glaubt, dass Ihr Bruder etwas mit diesem ersten Fall zu tun haben könnte, so lassen Sie uns einmal versuchen, ihren Gedankengang nachzuvollziehen. Mit der modernen Technologie wird es zunehmend einfacher, das Leben von Menschen zu verfolgen. Ich kann Ihnen mit einigem Stolz sagen, dass unsere Agentur über technische Möglichkeiten verfügt, von denen andere nur träumen können. Wir werden unsere Kenntnisse über alle Personen auf den neuesten Stand bringen, von denen wir wissen, dass sie vor zehn Jahren in diesem Club waren.«
Er nahm einen Schluck von seinem Kaffee. »Köstlich. Stark, ohne bitter zu sein. Wunderbare Eigenschaften, finden Sie nicht?«
Ich fragte mich, ob das eine Mahnung sein sollte. Hatte er meine wachsenden bitteren Gefühle gegenüber Mack, ja, sogar gegenüber meiner Mutter gespürt?
Er wartete nicht auf eine Antwort. »Sie sagten, Sie hätten das Gefühl, dass dieses Hausmeisterehepaar, die Kramers, vielleicht etwas zu verbergen hätten?«
»Ich weiß nicht, ob sie etwas zu verbergen haben«, antwortete ich. »Ich weiß nur, dass sie auffällig nervös waren, fast als ob sie beschuldigt würden, etwas über Macks Verschwinden zu wissen.«
»Ich habe vor zehn Jahren mit ihnen gesprochen. Ich werde meine Mitarbeiter prüfen lassen, ob es irgendetwas Ungewöhnliches in ihren Biografien gibt, das für uns von Bedeutung sein könnte. Aber jetzt erzählen Sie mir etwas über Nick DeMarco. Erzählen Sie mir, welchen Eindruck er auf Sie gemacht hat, ob positiv oder negativ, erwähnen Sie ruhig auch die kleinsten Nuancen.«
Ich bemühte mich, objektiv zu sein. »Nick ist jetzt zehn Jahre älter«, sagte ich. »Er ist natürlich reifer geworden. Mit sechzehn war ich in ihn verliebt, daher weiß ich nicht, ob ich mir damals ein ehrliches Bild von ihm machen konnte. Er sah gut aus, er war witzig. Im Nachhinein glaube ich, dass er durchaus mit mir geflirtet hat, und ich war damals so jung, dass ich geglaubt habe, ich bedeute ihm etwas Besonderes. Mack hat mich vor ihm gewarnt, und danach habe ich bei den wenigen Gelegenheiten, die er noch zum Abendessen zu uns kam, dafür gesorgt, dass ich nicht da war, sondern mit meinen Freunden ausging.«
»Mack hat Sie vor ihm gewarnt?« Reeves zog eine Augenbraue hoch.
»Na ja, wie das große Brüder eben so tun. Meine Verliebtheit muss mir wohl deutlich anzumerken gewesen sein, und Mack sagte mir, dass alle Mädchen hinter Nick her seien. Abgesehen davon würde ich sagen, dass Nick mir, als ich ihn neulich sah, wie jemand erschien, der zurzeit eine Menge um die Ohren hat.«
»Haben Sie mit ihm über den dritten Mitbewohner gesprochen, diesen Bruce Galbraith?«
»Ja. Nick hat keinen Kontakt mehr zu ihm. Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass er Bruce besonders mochte. Er nannte ihn sogar den ›einsamen Fremden‹. Ich habe Ihnen ja schon gesagt, dass ich in seinem Büro angerufen und eine Nachricht hinterlassen habe, aber bis jetzt hat er sich noch nicht gemeldet.«
»Rufen Sie noch mal an. Ich glaube nicht, dass Bruce Galbraith bei dem momentanen Medieninteresse für Ihren Bruder Ihre Bitte um ein Gespräch ignorieren wird. In der Zwischenzeit werde ich sofort damit anfangen, unsere Daten über die anderen auf den neuesten Stand zu bringen. Dieser Hinweis auf den Muttertag hat die Polizei darauf gebracht, eine Verbindung zwischen Mack und dem Verschwinden von Leesey Andrews zu suchen und darüber hinaus dann auch auf die vorausgegangenen Fälle der anderen jungen Frauen. Nachdem Sie diesen ominösen Anruf von Leeseys Handy aus erhalten haben, wird die Polizei nunmehr überzeugt sein, dass er dahintersteckt. Alle Spuren führen im Moment zu Mack. Ich frage mich langsam, ob nicht alles, was passiert ist, an jenem Abend in The Scene seinen Ausgang genommen hat, Wochen, bevor Mack verschwunden ist.«
Ich stürzte mich auf diesen Gedanken. »Mr. Reeves, wollen Sie damit andeuten, dass möglicherweise jemand absichtlich versucht, eine Verbindung zwischen Mack und dem Verschwinden dieser vier Frauen herzustellen?«
»Ich halte das für nicht ausgeschlossen. Wie Sie selbst gesagt haben, gab es einen ausführlicheren Artikel vor wenigen Jahren, in dem darauf hingewiesen wurde, dass Ihr Bruder nur an Muttertag anruft. Es wäre denkbar, dass sich jemand an diese Information erinnerte und sie jetzt benutzt, um den Verdacht von sich abzulenken. Es gibt alle möglichen Formen von Identitätsdiebstahl. Eine davon wäre, das bekannte Verhaltensmuster einer Person zu übernehmen, die verschwunden ist und sich nicht wehren kann. Leeseys Entführer besitzt ihr Handy. Und er könnte durchaus auch im Besitz Ihrer Telefonnummer sein, auch wenn diese nicht öffentlich zugänglich ist.«
All das ergab einen Sinn. Als ich Reeves’ Büro verließ, hatte ich das Gefühl, diesmal auf den richtigen Menschen gestoßen zu sein, auf jemanden, der nach der Wahrheit suchen würde, ohne die vorgefasste Meinung im Kopf zu haben, dass Mack ein Mörder war.