58
Um sechzehn Uhr dreißig saß Nick DeMarco in seinem Büro, als das Telefon klingelte. Es war Captain Larry Ahearn, der ihn knapp und bestimmt dazu aufforderte, sich sofort in sein Büro zu begeben.
Nick schluckte und kündigte an, dass er kommen werde. Sobald er aufgelegt hatte, rief er seinen Anwalt Paul Murphy an.
»Ich fahre sofort los«, sagte Murphy. »Wir treffen uns dort am Empfang.«
»Ich hab noch eine bessere Idee«, sagte Nick. »Ich wollte sowieso in fünfzehn Minuten wegfahren, und das heißt, dass Benny schon da draußen wartet und seine Runden um den Block dreht. Ich rufe Sie an, wenn ich im Wagen sitze. Wir fahren bei Ihnen vorbei und nehmen Sie mit.«
Um fünf nach fünf fuhren sie mit Benny am Steuer auf der Park Avenue in südlicher Richtung. »Ich habe den Eindruck, dass sie nur darauf aus sind, Sie zu verunsichern«, meinte Murphy. »Das Einzige, und zwar wirklich das Einzige, was sie als Hinweis gegen Sie vorbringen können, sind zwei Dinge: Erstens, dass Sie Leesey an Ihren Tisch gebeten haben, um mit ihr zu plaudern, und zweitens, dass Sie einen schwarzen Mercedes-Geländewagen fahren, was Sie zu einem von Tausenden von Besitzern von schwarzen Mercedes-Geländewagen macht.«
Er sah DeMarco direkt in die Augen. »Natürlich wäre es besser gewesen, wenn Sie mir diese Überraschung erspart hätten, als wir letztes Mal da waren.«
Murphy hatte seine Stimme fast zu einem Flüstern gesenkt, doch trotzdem stieß ihn Nick mit dem Ellbogen in die Seite. Er wusste, dass Murphy auf die Tatsache anspielte, dass Bennys zweite Frau ein richterliches Kontaktverbot gegen ihn erwirkt hatte. Er wusste auch, dass Benny über ein außergewöhnlich gutes Gehör verfügte und ihm nichts entging.
Der Verkehr schleppte sich so unerträglich langsam vorwärts, dass Murphy beschloss, Ahearn anzurufen. »Nur um Ihnen mitzuteilen, dass wir im üblichen Fünfuhrverkehr festsitzen und nichts daran ändern können.«
Ahearns Antwort war schlicht. »Kommen Sie einfach, so schnell es Ihnen möglich ist. Wir haben nicht vor wegzugehen. Fährt DeMarcos Fahrer Benny Seppini den Wagen, in dem Sie sitzen?«
»Ja.«
»Bringen Sie ihn mit.«
Es war zehn vor sechs, als Nick DeMarco, Paul Murphy und Benny Seppini das große Dezernatsbüro durchquerten, um zu Ahearns Zimmer zu gelangen. Alle spürten sie, wie die kühlen Blicke der anwesenden Detectives auf ihnen ruhten, während sie durch die Reihen der Tische gingen.
In Ahearns Büro war die Atmosphäre noch eisiger. Wiederum wurde Ahearn von Barrott und Gaylor flankiert. Vor dem Schreibtisch waren drei Stühle aufgestellt. »Setzen Sie sich«, sagte Ahearn kurz.
Benny Seppini sah DeMarco an. »Mr. DeMarco, ich glaube, ich sollte lieber …«
»Lassen Sie diese alberne Tour. Sonst nennen Sie ihn auch immer nur Nick«, unterbrach ihn Ahearn. »Und jetzt setzen Sie sich.«
Seppini wartete, bis DeMarco und Murphy ihre Plätze eingenommen hatten, dann setzte er sich auf den dritten Stuhl. »Ich kenne Mr. DeMarco seit vielen Jahren«, sagte er. »Er ist ein bedeutender Mann, und wenn ich nicht allein mit ihm bin, nenne ich ihn Mr. DeMarco.«
»Das ist wirklich rührend von Ihnen«, sagte Ahearn sarkastisch. »So, jetzt hören Sie sich mal das hier an.« Er drückte auf die Wiedergabetaste eines Rekorders, und Leesey Andrews’ Stimme, die ihren Vater um Hilfe anflehte, erfüllte den Raum.
Als Ahearn das Gerät abschaltete, folgte ein Moment bedrückten Schweigens, dann sagte Paul Murphy: »Und warum haben Sie uns diese Aufnahme vorgespielt?«
»Das will ich Ihnen sagen«, antwortete Ahearn. »Ich dachte, es könnte vielleicht Ihren Mandanten an die Tatsache erinnern, dass Leesey Andrews bis zum gestrigen Tag aller Wahrscheinlichkeit noch am Leben war. Wir dachten, es könnte ihn vielleicht sogar dazu bewegen, uns zu sagen, wo wir sie finden können.«
DeMarco sprang von seinem Stuhl auf. »Ich weiß genauso wenig wie Sie, wo sich das arme Mädchen befindet, und ich würde alles geben, um ihr Leben zu retten, wenn ich könnte.«
»Ich bin überzeugt, dass Sie das würden«, entgegnete Barrott mit beißendem Sarkasmus. »Sie fanden sie doch ziemlich süß, nicht wahr? Deshalb haben Sie ihr ja auch Ihre Visitenkarte mit der Adresse Ihrer gemütlichen Loft-Wohnung zugesteckt.«
Er hielt ihm die Karte vor die Nase, räusperte sich und las dann vor: »›Leesey, ich verfüge über einige Kontakte im Showgeschäft, und es wäre mir eine Freude, Ihnen behilflich zu sein. Rufen Sie mich an, Nick.‹«
Er knallte die Karte auf den Tisch. »Sie haben ihr die Karte an jenem Abend gegeben, stimmt’s?«
»Nick, Sie müssen diese Frage nicht beantworten«, warnte Murphy.
Nick schüttelte den Kopf. »Es gibt keinen Grund, sie nicht zu beantworten. Als sie an meinen Tisch kam, hab ich ihr gesagt, dass sie eine wundervolle Tänzerin sei. Sie vertraute mir an, dass sie davon träume, nach dem College ein Jahr Auszeit zu nehmen, nur um zu sehen, ob sie es vielleicht auf die Bühne schaffen könnte. Und ich kenne eine ganze Menge von bekannten Persönlichkeiten. Deshalb habe ich ihr die Karte gegeben. Was ist dabei?« Er begegnete Ahearns misstrauischem Blick.
»Sie scheinen aber vergessen zu haben, das zu erwähnen«, stellte Ahearn fest. Aus jeder Silbe, die er hervorstieß, hörte man Verachtung.
»Ich bin jetzt zum dritten Mal hier«, sagte Nick, der nun spürbar unruhig wurde. »Und jedes Mal tun Sie so, als ob ich etwas mit ihrem Verschwinden zu tun hätte. Ich weiß, dass Sie irgendeinen Weg finden können, um meine Ausschankgenehmigung im Woodshed einziehen zu lassen, selbst wenn Sie irgendwelche Verstöße dafür erfinden müssten …«
»Hören Sie auf, Nick«, ging Murphy dazwischen.
»Nein, das werde ich nicht. Ich habe nichts mit ihrem Verschwinden zu tun. Als ich das letzte Mal hier war, haben Sie angedeutet, dass ich mich finanziell übernommen hätte. Damit lagen Sie absolut richtig. Wenn Sie das Woodshed schließen lassen, bin ich so gut wie bankrott. Ich habe ein paar Fehler gemacht, das will ich nicht abstreiten, aber ich wäre doch niemals dazu fähig, ein Mädchen wie Leesey Andrews zu entführen oder ihr etwas anzutun.«
»Sie haben ihr Ihre Visitenkarte gegeben«, warf Bob Gaylor ein.
»Hab ich, ja.«
»Wann sollte sie denn in Ihrem Loft anrufen?«
»Mein Loft?«
»Sie haben ihr eine Visitenkarte mit der Adresse Ihrer Loft-Wohnung und der Festnetznummer dort gegeben.«
»Blödsinn. Ich hab ihr eine Karte mit meiner Büroadresse gegeben, Park Avenue 400.«
Barrott warf ihm die Karte hin. »Na, dann lesen Sie doch selbst.«
Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, als Nick DeMarco die Visitenkarte lange ungläubig anstarrte, bevor er zu einer Erwiderung ansetzte. »Das war genau vor zwei Wochen«, sagte er mehr zu sich selbst als zu den anderen. »Ich habe ein paar Visitenkarten machen lassen, nur mit der Loft-Adresse. Sie kamen an jenem Tag aus der Druckerei. Ich muss eine davon in meine Brieftasche gesteckt haben. Ich dachte, dass ich Leesey eine von meinen Bürokarten gegeben hätte.«
»Sicherlich haben Sie diese Karten anfertigen lassen, um sie eventuell hübschen Mädchen wie Leesey zuzustecken, nicht wahr? Warum würden Sie sonst eine Visitenkarte mit Adresse und Telefonnummer Ihrer Loft-Wohnung benötigen?« , sagte Barrott.
»Nick, wir könnten jetzt sofort aufstehen und hier rausgehen«, sagte Murphy.
»Das ist nicht nötig. Ich habe meine Wohnung in der Fifth Avenue zum Verkauf ausgeschrieben. Ich habe die Absicht, im Loft zu wohnen. Ich habe zu viele Freunde, die ich lange nicht mehr gesehen habe, weil ich zu sehr damit beschäftigt war, zu den angesagten Restaurant- und Clubbesitzern zu gehören. Dass ich diese Visitenkarten anfertigen ließ, war ein Zeichen für die Zukunft.« Er legte die Karte zurück auf den Tisch.
»Gehört die Schwester von Charles MacKenzie, Carolyn, auch zu den Leuten, die Sie in Zukunft in Ihrem Loft empfangen wollen?«, fragte Barrott. »Nettes Foto von Ihnen beiden, wie Sie gestern Abend Hand in Hand zu Ihrem Wagen eilen. Fand ich richtig rührend.«
Ahearn wandte sich an Benny Seppini. »Benny, mit Ihnen wollten wir auch reden. Am Abend, bevor Leesey verschwand, sind Sie mit Nicks, Verzeihung, ich meine natürlich mit Mr. DeMarcos schwarzem Mercedes-Geländewagen zu sich nach Hause nach Astoria gefahren, ist das richtig?«
»Nein, ich bin mit seiner Limousine nach Hause gefahren.« Bennys narbiges, grobporiges Gesicht begann sich zu röten.
»Haben Sie keinen eigenen Wagen? Sie bekommen doch sicherlich genug bezahlt, um sich einen leisten zu können.«
»Das kann ich beantworten«, unterbrach Nick, bevor Benny etwas erwidern konnte. »Als mir Benny letztes Jahr erzählte, dass er sich ein neues Auto kaufen wolle, habe ich gemeint, es sei doch dumm, dass er Versicherung und Unterhalt für ein Auto bezahlen müsse und ich gleichzeitig die Miete für drei Stellplätze in einer Garage mitten in Manhattan zahle, zu den üblichen astronomischen Preisen. Also schlug ich ihm vor, mit dem Geländewagen zwischen seiner Wohnung und Manhattan hin und her zu pendeln und dann in der Garage in die Limousine umzusteigen, um mich zu meinen Terminen zu fahren.«
Ahearn ignorierte ihn. »Schön, Benny, Sie sind also demnach an dem Abend vor genau zwei Wochen, dem Abend, bevor Leesey verschwunden ist, mit dem schwarzen Mercedes-Geländewagen, den Ihr Arbeitgeber Ihnen freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat, nach Hause zu Ihrer Wohnung in Astoria gefahren.«
»Nein. Mr. DeMarco hatte den Geländewagen in der Garage bei seinem Loft stehen, weil er am nächsten Morgen mit seinen Golfschlägern zum Flughafen fahren wollte. Ich habe ihn mit der Limousine zum Woodshed gefahren und gegen zehn Uhr dort abgesetzt. Danach bin ich zu mir gefahren.«
»Und dann sind Sie in Ihre Wohnung und irgendwann zu Bett gegangen.«
»Richtig. Das war so gegen elf Uhr.«
»Benny, in Ihrem Viertel ist es ziemlich schwierig, einen Parkplatz zu bekommen, stimmt’s?«
»Überall in New York City ist es schwierig, einen Parkplatz zu bekommen.«
»Aber Sie hatten Glück. Sie haben direkt vor dem Eingang zu Ihrem Wohngebäude einen Platz für den Wagen Ihres Arbeitgebers gefunden. Ist das richtig?«
»Ja, ich hatte Glück. Ich habe ihn geparkt, dann bin ich rauf in die Wohnung und zu Bett gegangen. Ich hab dann Jay Leno eingeschaltet. Er war an dem Abend wirklich witzig. Er hat die ganze Zeit Witze gemacht über …«
»Es interessiert mich nicht, worüber er Witze gemacht hat. Mich interessiert nur, dass die schwarze Mercedes-Limousine von Mr. DeMarco nicht die ganze Nacht dort gestanden hat. Ihr Nachbar von 6D hat gesehen, wie Sie gegen fünf Uhr fünfzehn in der Früh, als er zur Arbeit ging, in eine Parklücke vor dem Gebäude eingebogen sind. Nun erzählen Sie uns mal, wo Sie gewesen sind, Benny. Haben Sie einen Notruf von Mr. DeMarco erhalten? Gab es irgendeine Art von Problem?«
Benny Seppinis Miene wurde zornig und störrisch. »Das geht Sie nichts an«, brauste er auf.
»Benny, besitzen Sie ein Handy mit Prepaid-Karte?«, fragte Ahearn in scharfem Ton.
»Das brauchen Sie nicht zu beantworten, Benny«, rief Paul Murphy dazwischen.
»Warum nicht? Natürlich hab ich eins. Wegen der Wetten. Hundert Dollar mal hier, mal da. Wollen Sie mich jetzt verhaften?«
»Haben Sie nicht zufällig aus Jux so ein Handy mit Prepaid-Karte als Geburtstagsgeschenk für Nick, ich meine, für Mr. DeMarco gekauft?«
»Antworten Sie nicht, Benny!«, kam es entschieden von Paul Murphy.
Benny stand auf. »Warum nicht? Ich werde Ihnen sagen, was in dieser Nacht passiert ist. Ich habe gegen Mitternacht einen Anruf von einer sehr netten Dame bekommen, die getrennt von ihrem Mann lebt, einem ziemlichen Dreckskerl und Säufer. Sie hatte Angst. Ihr Mann weiß, dass wir uns mögen. Er hat ihr so eine blödsinnige Nachricht auf ihr Handy gesprochen und irgendwelche Drohungen ausgestoßen. Ich konnte nicht mehr schlafen, daher hab ich mich angezogen und bin rübergefahren. Sie wohnt ungefähr eine Meile von mir entfernt. Ich hab vor dem Haus im Wagen gesessen und gewartet, ob er nach der Sperrstunde auftaucht. Ich bin bis fünf Uhr dort geblieben. Dann bin ich wieder nach Hause gefahren.«
»Das war wirklich sehr ritterlich von Ihnen, Benny«, sagte Ahearn. »Wer ist diese Frau? Wer ist dieser Kerl, der ihr droht?«
»Er ist ein Polizist«, sagte Benny. »Einer der besten von New York. Sie hat erwachsene Kinder, die ihn für den besten Menschen auf der Welt halten und meinen, er habe lediglich ein kleines Alkoholproblem. Sie will keinen Ärger. Ich will keinen Ärger. Und deshalb werde ich dazu nicht mehr sagen.«
Paul Murphy stand auf. »Das reicht jetzt«, erklärte er Ahearn, Barrott und Gaylor. »Ich bin sicher, dass sich Bennys Angaben als richtig erweisen werden, und ich weiß auch, dass mein Mandant alles in seiner Macht Stehende tun würde, um der vermissten jungen Frau zu helfen.« Er warf ihnen der Reihe nach einen strafenden Blick zu. »Warum hören Sie nicht endlich auf, den Falschen zu verdächtigen, und machen sich nicht lieber auf die Suche nach dem wahren Entführer von Leesey Andrews? Und warum verschwenden Sie Ihre Zeit, angebliche Hinweise und Indizien zusammenzusuchen, während es vielleicht noch eine Chance gibt, ihr Leben zu retten?«
Die drei Beamten sahen wortlos zu, wie Murphy, DeMarco und Seppini aufbrachen. Als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, sagte Ahearn: »Diese Geschichte ist ziemlich dünn. Natürlich könnte sich Benny ein Alibi verschafft haben, indem er eine Weile vor dem Haus seiner Freundin wartete, aber er hätte immer noch jede Menge Zeit gehabt, um auf einen Hilferuf von Nick zu reagieren und Leesey aus der Loft-Wohnung zu schaffen.«
Stumm blickten sich die drei Männer an. In ihren Mienen spiegelte sich abgrundtiefe Frustration, während ihnen noch einmal Leesey Andrews’ verzweifelter Hilferuf in den Ohren klang.