DISKURS XXII

Darin man einem heimlichen Dialog beiwohnt, der viele Überraschungen über Naudé und die sogenannten Starken Geister bereithält.

Traurig und voll bedrückender Gedanken verliefen die ersten Minuten auf den Klippen von Gorgona. Tropfnass von den Zehen bis zum Gürtel, wie wir waren, wurden wir trotz der milden Winter, derer sich die toskanischen Inseln bekanntlich erfreuen, von Kälteschauern geschüttelt. Jeder wühlte aufgeregt in seinen Hosentaschen, dem Reisesack, dem Mantel, um zu überprüfen, welch hochwichtiges Papier, welches Säckchen Goldmünzen, welcher Reisepass in den Fluten verlorengegangen war. Mir war es zum Glück gelungen, das, was ich den Klauen der Barbaresken hatte entreißen können, nicht an das Meer zu verlieren.

Naudé hielt seinen schweren, sperrigen Tornister aus hartem Leder mit der kostbaren Kopie der Bibel noch immer an seine Brust gepresst. Unsere erste Sorge war, eine geschützte Schlucht zu finden, wo wir ein wenig ausruhen und, von Ali Ferrarese unbeobachtet, vielleicht ein Feuerchen anzünden konnten. Während wir uns vorantasteten, stießen wir uns schmerzhaft die Knie an den Klippen und rissen uns die |174|Hände auf, wenn wir uns an den spitzen Felsen festhielten, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Endlich fanden wir eine kleine Nische in einem Felsen, wo die Windböen ein Feuer nicht ausblasen würden. Mit Hilfe einiger an der salzigen Luft vertrockneter Algen und etwas Gestrüpp entfachten wir ein Feuer, das die Körper nur schwach, die Herzen aber zur Genüge erwärmte. Alle Nazarener unter uns, die einen inständig, die anderen eher mechanisch, aus Gewohnheit, sprachen als Zeichen der Dankbarkeit für die Errettung aus der Gefahr dreimal das Te Deum. Nur Guyetus, dieser Ungläubige, sagte kein Wort. Die beiden Barbaresken, die das erhabene Dankgebet nicht kannten oder vergessen hatten, falteten widerwillig die schwieligen Hände zum Zeichen des Gebets und versuchten, es uns mit einem wirren Stammeln nachzutun, konnten aber stets nur die letzte Silbe jedes Wortes wie ein Echo wiederholen.

Dann betteten sich alle, so gut es irgend ging, auf die Steine, mit dem einzigen Wunsch, festen Boden unter den Knochen zu spüren. Auch ich verlangte nichts weiter, als den neuen Tag abzuwarten und mich nicht aus dieser kleinen, gastfreundlichen Höhle fortbewegen zu müssen. Als der Wind nach einer Weile umschlug, mussten wir das Feuer löschen, da es uns einräucherte. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass du bei guter Gesundheit warst und nur Schlaf brauchtest, legte ich mich wie ein Wilder auf den harten Boden und fiel fast sofort in eine schwarze Hypnose ohne Wünsche und Träume.

Wie befürchtet, währte der Schlaf kürzer als erhofft. Schon immer hatte ich unter Insomnie gelitten, und vielleicht war mein armer Leib von der überstandenen Gefahr noch nicht genügend erschöpft, jedenfalls genügte ein leichter Stoß am Arm, mich zu wecken. Ich blieb reglos liegen, und mein suchender Blick traf auf deine weit geöffneten Augen, die mich anstarrten. Du gabst mir stumm, mit einer Kopfbewegung zu verstehen, dass ein dunkler Umriss sich von der kleinen Höhle entfernte. Und sofort folgte die nächste Überraschung: Ein zweites Individuum ging in die gleiche Richtung wie das erste. Anscheinend planten diese beiden etwas. Waren es die Barbaresken?

Kaum hatte das verdächtige Paar sich entfernt, erhoben wir beide uns so leise wie möglich und schickten uns an, ihnen zu folgen. Alle anderen waren eingeschlummert, wie es schien.

Die beiden Verschwörer konnten sich noch nicht weit von unserem Versteck entfernt haben. Der Mond schien jetzt etwas heller, doch die |175|Gefahr, hinzufallen und sich zu verletzen, wenn man zu schnell zwischen den Klippen voranging, war dennoch groß. Bald hörten wir eine flüsternde Stimme und eine andere, die von Zeit zu Zeit einsilbig antwortete. Die beiden waren stehengeblieben und sprachen miteinander. Als wir die Stimmen erkannten, waren wir erleichtert. Nicht die beiden Barbaresken unterhielten sich dort in der Dunkelheit, sondern Guyetus und Schoppe. Letzterer sprach leise, aber in einem aufgeregten, misstrauischen Tonfall. Das Gespräch fand sozusagen auf neutralem Boden statt, darum sprachen beide Italienisch und duzten sich, eine Vertrautheit, die sie sich gegenüber Dritten nicht gestatteten und die Schoppes Eloquenz nicht im Mindesten schmälerte:

»… also auch bei dir genau dasselbe Vorgehen. Der Brief aus Italien, die Einladung und die Geschichte von den Handschriften. Sicher hast du auch an einen Scherz gedacht.«

»Natürlich, Caspar, aber dann …«, versuchte Guyetus mit einem leicht ungeduldigen Unterton zu antworten.

»Ich weiß, du hast dich in Florenz informiert, wie ich auch, und hast erfahren, dass Poggio Bracciolini, als es ans Krepieren ging, tatsächlich einen Berg Handschriften hinterlassen hat.«

»Genau«, pflichtete der andere lakonisch bei und gähnte ostentativ, wie um Schoppe nicht zu weiteren indirekten Fragen zu ermutigen.

Der Deutsche kam aus der Deckung: »Lass uns offen sprechen: Du bist einer von diesen Starken Geistern, einer vom Schlage Naudés.« Er nannte den Namen, mit denen die Freunde des Bibliothekars von Mazarin sich gerne bezeichneten. »Eine Sippe von Atheisten, kurz gesagt, und vergib mir, wenn ich kein Blatt vor den Mund nehme, ein Luxus, den ich mir in meinem Alter wohl erlauben darf«, präzisierte er, als wäre er in jungen Jahren jemals diplomatisch gewesen, »aber persönlich glaube ich, dass du über gewissen Seichtheiten stehst, entschuldige das Wortspiel. In der Tat misstraust du Gabriel ja auch. Obwohl er, wie es scheint, aus einem ganz anderen Grund hier ist, nicht wegen der Papiere des Mönchs, könnte er, wie du weißt, als Erster an das ganze Zeug herankommen und dich reinlegen.«

»Auch du könntest mich reinlegen, Caspar.«

»Oh! Haha!«, lachte Schoppe verlegen, »diese Frage existiert für mich gar nicht, ich meine, wir reden doch jetzt als Freunde, und ich möchte, dass wir Freunde bleiben. Ich könnte dich gar nicht verraten, immerhin hast du mich vor den Korsaren gerettet. Was ich dir jetzt sagen |176|will: Du bist doch vertraut mit Du Puy, mit der Tetrade, mit dieser ganzen Sippschaft aus Pariser Ungläubigen: Ménage, Luillier … Aber Gabriel traust du nicht, hab ich recht? Und ich weiß genau, warum. Sprechen wir Klartext: Du bist ein richtiger Gelehrter. Er hingegen hat Medizin studiert und ist nicht einmal promoviert. Nun gut, man hat ihm den Titel in Paris verliehen, bloß weil er eine schöne Abschiedsrede an die Doktoranden gehalten hat, wie nennt ihr das in Frankreich, den …?«

»Der Paranimf.«

»Eben, der Paranimf. In Wirklichkeit hat man ihn an seiner Fakultät nicht einmal zu den Abschlussexamen zugelassen, weil er sich zu lange ein feines Leben in Italien gemacht hat.«

»Caspar, ich bitte dich, zwing mich nicht, ausfallend zu werden«, unterbrach ihn der andere ungeduldig. »Ich habe jahrelang das Steinleiden gehabt, man hat mich sogar operiert, um diese verfluchten Steinchen zu entfernen. Wir sind auf dieser Insel gestrandet. Jetzt hältst du mich wach, weil du unter vier Augen mit mir sprechen willst. Gut, auch das. Aber ich sage dir: Ich schmiede nicht gerne Ränke hinter dem Rücken von ehrbaren Kollegen. Ist das klar?«

»Ehrbar?«, schnaubte Schoppe. »Und was hat er in Rom mit diesem Bouchard getrieben? Aus Bouchards Tagebüchern hat man nach seinem Tod erfahren, dass das schamlose Päderasten waren, die sogar auf der Straße Anstoß erregten.«

Ich sah dich zusammenzucken: Naudé gehörte also auch zu jener verabscheuungswürdigen Sorte Menschen, die dich zu ihrem eigenen Vergnügen als Kind kastrieren ließen. Fast meinte ich in der Finsternis zu sehen, wie dein Körper zu Stein wurde und du in unergründliche Grübeleien versankst. Ansonsten sagten dir diese Namen wenig oder gar nichts; für mich hingegen war das ganze Gespräch, gelinde gesagt, eine Sensation. Nicht wegen des quälenden Gedankens an den Schatz des Mönchs – die Leidenschaften der Gelehrten waren mir bereits bekannt. Nein, das, was Schoppe gesagt hatte, ließ einige trübe Hintergründe in Naudés Leben erkennen, private wie mit seinen Studien verbundene. Doch vor allem wurde mir jetzt klar, dass mein kurzer Dialog mit Naudé auf dem Rettungsboot heimliche, unaussprechliche Reaktionen in ihm ausgelöst haben musste. Ich hatte von Bouchard gesprochen, und jetzt hörte ich den bestens informierten Schoppe sagen, dass er in das unsägliche Treiben des Bibliothekars verwickelt war. |177|Und ich dachte an dich, Atto, daran, wie schwierig es ist, Abstand von dem zu gewinnen, was sogar in der Gelehrtenrepublik viele mit Nachsicht oder Einverständnis behandeln.

»Jene, die schlau machen, nennen sie sich!«, stieß Schoppe angewidert hervor, »nur um die Sache nicht beim Namen zu nennen: sie sind alle Päderasten. Komm schon, mein Freund, erzähl mir nicht, dass in Frankreich nicht darüber geredet wird!«

»Caspar, das sind keine Themen für mich. Über solche Dinge kann ich nicht sprechen. Ich habe nur meine Studien, wie du sehr gut weißt, und jetzt hör auf damit, sonst jage ich dich zum Teufel.« Der alte Pariser Philologe blieb hart.

»Schon gut, nicht doch, sag so etwas nicht, mein Freund.« Schoppe trat einen Schritt zurück, legte seinem Gegenüber beschwichtigend eine Hand auf die Schulter und fragte dann wie aus der Pistole geschossen:

»Der Mönch – was hältst du davon?«

Guyetus zögerte.

»Ich weiß nicht … Ich weiß nicht, ob er in Lyon ist oder woanders. Meiner Meinung nach könnte er überall sein, vielleicht sogar irgendwo im Großherzogtum, vielleicht in Florenz.«

Guyetus verriet Schoppe nicht, dass Philos Ptetès möglicherweise auf Gorgona war.

»Aber dann müssen wir aufs Festland zurückkehren!«, rief der temperamentvolle deutsche Herr aus.

»Für mich ist es zu spät. Ich bin müde und habe genug von der ganzen Geschichte. Ich möchte nach Paris zurück, wenn wir lebend hier herauskommen.«

An dieser Stelle brach das Gespräch ab. Guyetus kehrte zu seinem Lager zurück, und wir mussten uns in den Schatten ducken wie Eidechsen, um nicht entdeckt zu werden. Schoppe folgte, begierig, das Gespräch fortzusetzen.

Wir warteten geduldig, bis die beiden sich hingelegt hatten und von ihrem Lager nicht mehr der leiseste Laut zu hören war. Erst dann kehrten auch wir auf unsere improvisierten Schlafstätten zurück.

Das Mysterium der Zeit
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