|15|PROLOG

Über den Secretarius

Jene kleinen Dinge, ohne welche es die großen nicht gäbe, sollte man nicht als geringfügig verachten. Eines davon ist der Secretarius.

Herzstück und Seele der Tätigkeit des Secretarius ist die Darstellung von Gedanken in schriftlicher Form. Es ist eine wahrhaft engelsgleiche Tat, die ersten Keime und das Mark der Ideen seines göttlichen Padrone in Sprache zu fassen und mit Tinte in regelmäßigen Linien auf das Papier zu übertragen. Dem formlosen Rohstoff der Gedanken eines anderen Menschen verleiht der Secretarius mit seiner Feder Klarheit und Deutlichkeit; im Sinnbild eines Buchstabens erfüllt er die noch schattenhafte Idee mit Glanz, welche, da sie somit Licht und Geist empfangen, nun weit entfernte Dinge nah erscheinen lässt, Verhandlungen erleichtert, Zeiten abstimmt, Erinnerungen befestigt und überall dort, wohin ihre Schrift gelangt, die Welt verkleinert.

Der Secretarius ist also der engelhafte Teil der politischen Macht, ihre zur Form gewordene Kraft. Daher haben die Theologen die Würde des Secretarius jener der Engel verglichen, die Gott am nächsten sind.

Der Secretarius besitzt kein Erscheinungsbild. Aus seinem Körper, seinen Gesten, seiner Kleidung und Sprechweise formt er sich ein Dasein im Schatten, in der selbstgewählten Unauffälligkeit, Anonymität und Einsamkeit. Seine Sprache ist frei von regionalen oder lokalen Färbungen und seine gesunde, robuste Konstitution zwängt er in eine Rüstung aus strengem, schwarzem, in jugendlichem Alter allenfalls aschgrauem Tuch, wie der Castiglione in seinem Hofmann rät. Er trägt weder Schwert noch Helmbusch, enthält sich gesellschaftlicher Konversation und jeglicher Zusammenkünfte, zeigt Ernst, Aufrichtigkeit und Bescheidenheit in allen seinen Handlungen, flieht das Gespräch, wo er kann, und speist bevorzugt allein.

|16|In dieser Weise schleicht sich der Secretarius mit schneckengleichem Geschick in die Nähe seines Padrone und steigt langsam zu dessen Vertrauten auf.

Einst ward er Skribent genannt. Heute rührt sein Name vom secretum her, dem Studierzimmer und Archiv der Fürsten, wo er der Wächter geheimer Schriften ist.

Alles, was sich im Staate seines Fürsten zuträgt, sieht der Secretarius von den ersten Wurzeln an entstehen, er kennt das Nachsinnen über diesen und alle anderen Fälle, und er sieht dergleichen Überlegungen auch im Herzen seines Fürsten wie in einer starken Festung geborgen, oder besser gesagt, wie in einer heiligsten und höchst sicheren Sakristei, welcher denn auch sein Name zu ähneln scheint.

Doch aufgepasst: Zwischen dem Secretarius und seinem Padrone gibt es keine Freundschaft außer der förmlichen des bloßen Anscheins, der trügerischen Sprünge, des fortwährenden Wechselspiels von Gefälligkeiten und Huldigungen, in dessen Nebeldunst beides ununterscheidbar wird. Begünstigter und Secretarius zu sein, verträgt sich schlecht. Allein weil er dir vertraut hat, wird der Fürst deinen Verrat fürchten, er wird dich hassen wie einen Tyrannen, weil ihm dünkt, du habest seine Freiheit in der Hand, während er sein Gewissen aufs Spiel gesetzt hat. Die Würde des Secretarius ist daher flüchtig, stets gefährdet und leicht zunichte zu machen.

Wie auch Justus Lipsius rät, bewahren nur Beständigkeit und taktische Vorsicht vor Hinterhalten, leidvollen Erfahrungen und der eisernen Faust der Macht. Wo also Umsicht und Bedachtsamkeit geboten sind, verheimlicht der Secretarius, dass er weiß und versteht, spart mit seinen Gaben und hält sich bedeckt, wie Sallust junior, Secretarius des Kaiser Tiberius, von dem in Tacitus’ Annalen erzählt wird. So groß waren die verborgene Stärke seiner Seele und die Schärfe seines Verstandes, dass er Heldentaten hätte vollbringen können, und beides wurde umso mächtiger, je mehr er sie hinter einer vorgetäuschten Neigung zur Schläfrigkeit und Faulheit verbarg.

Das Amt des Secretarius ist an allen anderen Amtsgeschäften beteiligt, doch hat kein anderes Geschäft irgendeinen Anteil am Amt des Secretarius, woraus folgt, dass der Secretarius sich auf sämtliche Machenschaften der anderen versteht, wohingegen niemand etwas |17|von seinen Machenschaften weiß. Als wichtigstes Mitglied im Rat des Fürsten muss der Secretarius Ohren und Verstand allerorten gebrauchen, die Zunge jedoch nur innerhalb der Ratssitzung. Da er für Sendschreiben und verschlüsselte Kodizes der Kanzleien verantwortlich ist, unterliegt er der Schweigepflicht.

Sein ganzes Leben ist stumme Überredungskunst.

Das Mysterium der Zeit
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