Haben oder nicht haben
Die Lippen formten immer und immer die gleichen Silben, jedoch stumm. Der Anblick war einerseits erheiternd und gleichzeitig extrem jämmerlich. Da stand dieser junge Mann nun seit zwei Stunden im Badezimmer und sah sich selbst dabei im Spiegel zu, wie er seine Aussprache trainierte. Fürchterlich langweilig, fand er. Dieser neue Auftrag nervte ihn. Seit zwei Wochen beobachtete er diesen jungen Schauspieler, der zwar ein besonderes Geltungsbedürfnis besaß, ansonsten vom Kopf her vollkommen dicht war. Er konnte in seine Gedanken nicht richtig eindringen. Eher aus Frust als aus Ehrgeiz beobachtete er ihn täglich einige Stunden. Dieser potenzielle Kunde trainierte täglich seine Aussprache, frisierte sich ebenfalls voller Leidenschaft die Haare und stellte einige Szenen seiner Lieblingsfilme nach. Ja, ein sonderbar erfüllter Tag – Tag für Tag. Gegen späten Nachmittag begab er sich zu seinem Job – kellern in einem angesagten Restaurant. Dort wählte er sich selbst die Gäste aus; natürlich nur, wenn der Chef nicht anwesend war. Liebend gerne beobachtete er die Gäste, ihre Mimik und Gestik. Dachte sich Geschichten aus, warum sie sich zum Beispiel einen roten Schal um den Hals geschlungen hatten oder weshalb sie zum Salat Rotwein bestellten. Wenn er keine Gäste bewirtete, wirbelte in seinem Kopf eine Rede herum. Er trainierte in jeder freien Minute Dankesreden.
Heute schneite es mal wieder und es war bitterlich kalt, somit wagten sich nicht wirklich viele Gäste in das Restaurant. Er setzte sich entspannt an einen Tisch in der Nähe der Fenster und sah den Menschen draußen zu, wie sie gegen das Schneegestöber ankämpften. Die rote Hose stach natürlich hervor – Michael war unterwegs. Sein Gesicht sah entspannt aus, wahrscheinlich hatte er seine Quote mal wieder erreicht. Er bemerkte ihn nicht, sondern schlenderte fröhlich pfeifend durch das Schneegestöber. Die Schneeflocken flogen elegant an ihm vorbei, kein Sterblicher bemerkte es. Sein Magen krampfte sich zusammen, denn ihm war klar, dass Michael wohl ein neues Opfer suchte und dann sah er sie auch schon. Eine junge Frau saß zusammen gekauert auf dem Fußboden und bettelte. Sie hatte sich einen riesigen Pulli um den hageren Körper geschlungen und starrte bleich geradeaus. Michael zeigte ein mitfühlendes Gesicht und blieb stehen. Er spürte die Herausforderung, konnte sie beinahe schmecken und rannte aus dem Restaurant. Michael hatte ihn immer noch nicht bemerkt, sondern war etwas in die Knie gegangen und redete sanft auf die junge Bettlerin ein. Er schlich sich vorsichtig ein Stück näher, um alles mitzubekommen.
„Verzweifel nicht, junge Dame! Das Leben ist voller Magie! Wenn du glaubst, wirklich glaubst, wirst du auch im Herzen belohnt!“, sagte Michael und nickte ihr aufmunternd zu.
Sie blickte ihn eiskalt an und rollte mit den Augen,
„Ja, klar! Ick will keene Drogen, sondern wat zu essen! Also, haste wat für mich?“
Michael blickte noch eine Spur mitfühlender in ihr bleiches Gesicht.
„Ich kann dir Liebe geben, Mitgefühl und Glauben!“
Sie zog eine Augenbraun hoch und grinste schräg.
„Ick verkoofe meinen Körper nich', kapiert? Also, Geld her oder verpiss dich!“
Diese Frau gefiel ihm extrem gut! Michael schüttelte kurz seinen Kopf, so leicht würde er nicht aufgeben.
„Junge Dame! Ich verstehe, dass dir das Leben bisher übel...“
„Boah! Steht uff meener Stirn jeschrieben, dass ick gerettet werden will, oder wat? Mann, zieh Leine, kapiert? Immer diese ätzenden Wohltäter!“, meckerte sie.
Seine Chance war zum Greifen nah. Er verwandelte sich schnell in einen gut gekleideten Mann und zückte seine Brieftasche. Schnell fischte er einen 50 Euro Schein heraus und warf diesen in ihre auf dem Boden liegende Mütze.
„Da, Kleene. Gönn' dir, was immer du möchtest.“, sprach er und blickte Michael herausfordernd an. Er hatte ihn sofort erkannt und die Wut war wie mit roter Tinte in sein Gesicht geschrieben.
„Hey, was soll das? Die gehört mir!“, meckerte er und sah ihn wütend an.
„Is dit geil! Eeen fuffi! Geil!“, freute sich die junge Bettlerin und stopfte den Schein flott unter ihren großen Pulli.
„Tja, Gott hat ihnen die freie Entscheidung geschenkt und so wie es aussieht, wird sie sich bald freiwillig entscheiden!“, bemerkte er grinsend.
Michael riss erschrocken die Augen auf und starrte die Bettlerin an. Eine gewisse Verzweiflung glitt über Michaels Gesicht und er freute sich heimlich etwas.
„Michael – so ist das: Mal gewinnt man, mal verliert man. Nun werde ich endlich mal wieder gewinnen.“
„Nein, bestimmt nicht!“, rief Michael und handelte erstaunlich schnell.
Er war wirklich dabei, der Bettlerin die 50 Euro abnehmen zu wollen. Ja, er wollte, denn sie rangelten auf dem kalten verschneiten Boden eifrig herum. Es sah ganz danach aus, dass die Bettlerin gewinnen würde.
„Sieht gut aus! Lass dir das Geld nicht wieder wegnehmen! Du willst doch schon seit einer Woche in dem Restaurant essen!“, feuerte er die Bettlerin an und drehte sich nach dem Restaurant um. Dort im großen Fenster erkannte er seinen eigentlichen Kunden, der das Schauspiel angewidert und ungläubig verfolgte. Da war seine Chance, denn sein Kopf war plötzlich frei! Er zwinkerte kurz und schon war der neue Gedanken eingepflanzt. Der junge Schauspieler rannte aus dem Restaurant raus und warf sich auf die beiden und verpasste Michael gekonnt einen Faustschlag direkt in den Magen.
„Mensch, ist das gemein! Geht’s dir gut?“, fragte der neue Kunde freundlich.
Die Bettlerin wischte sich kurz die Nase am Ärmel ab und spuckte auf den sich krümmenden Michael.
„Ja, allet klar.“
Die Szene war nicht nur vom ihm beobachtet worden, sondern auch von einem Reporter, der die beiden sofort interviewte. Tja, so geschah es, dass Michael nicht als Wohltäter in Erscheinung trat, sondern als widerlicher Kerl, der einer Bettlerin am helllichten Tag die Tageseinnahme abnehmen wollte. Er hatte seine Quote vollkommen erfüllt, denn der Schauspieler konnte seine Geltungssucht voll ausleben und die Bettlerin hatte ihrem Zorn freien Lauf gelassen. Michael hingegen hatte verloren und einen verdreckten roten Anzug.