Alter Ego



Ob sie nun im Auto fuhr, einkaufen ging, sich in einer U-Bahn oder S-Bahn aufhielt oder einfach außerhalb ihrer Wohnung sich bewegte. Immer schauten die Menschen sie interessiert an. Als würden sie sie irgendwie kennen. Sie sorgte nicht wirklich für Aufsehen, kein Chaos oder Tumulte. Die Leute starrten sie an, blieben manchmal stehen und sahen ihr hinterher. Hätte man einen von ihnen gefragt, was an der Frau besonderes war, hätte diese Person vielleicht „Charisma“ erwidert. Die Ausstrahlung dieser Frau war schwer in Worte zu fassen. Ihr Blick war eindringlich und jeder Widerstand zwecklos. Aus ihren Augen schoss der Charme kleine fiese Pfeile und niemand konnte widerstehen. Dazu kam ihr Humor, denn sie nahm sich selbst kaum ernst. Ihre blonden Haare gingen ihr bis zu den Hüften und sie trug sie meistens zum Zopf gefunden. Wegen ihres zackigen Gangs flog der Pferdeschwanz flott nach links und rechts. Sie bewegte sich meistens unbewusst und dennoch war die Zufriedenheit über ihren eigenen Körper stets zu sehen. Sie war mit sich selbst im Reinen und genau das strahlte sie auch aus. Dazu kam ein überdurchschnittliches Selbstbewusstsein, das sie wie einen undurchdringlichen Panzer trug. In ihr brannte ein eiserner Wille, der ähnlich wie ein unsicherer Kompass in unterschiedliche Richtungen ausschlug. Folglich musste ihr nur jemand die richtige Richtung weisen.

Dieser Jemand hatte sie schon einige Jahre beobachtet. Genau dieser Jemand war Lu und er erfreute sich an dieser Frau immer mehr. Sie hatte einige Prinzipien, konnte diese jedoch aus einer Laune heraus einfach ignorieren. Typisch Frau: Wechselhaft und dann besonders manipulierbar. Wenn er sich langweilte, drang er gerne in ihre Gedanken ein und wurde niemals enttäuscht. Sie verwebte böse Gedanken auf amüsante Weise mit guten Absichten. Schon sonderbar, dass Michael sie noch nicht bemerkt hatte. Dem Erzengel würde sie sicherlich gut Contra bieten können. Lu schwelgte manchmal in heimlichen Visionen, wie sie Michael verbal schlagen könnte. Wahrlich diese Visionen lenkten ihn von seinem doch recht eintönigen Arbeitsalltag ab.

Heute folgte er ihr wieder, denn seine nächste potenzielle Kundin lag auf ihrem Arbeitsweg. Sie kam aus der U-Bahnstation heraus und hielt plötzlich verschreckt inne. Kurz vor der Brücke war wieder ein Stand aufgebaut worden – sie kräuselte angewidert die Nase und kniff die Augenbraun zusammen. Lu freute sich über ihre direkte Ablehnung und freute sich schon auf ihre nächste Reaktion, denn seine neue potenzielle Kundin war eine der Anwerberinnen. Zeitungsabos mussten unters Volk gebracht werden und sie konnte diese Leute nicht leiden. Ja, sie kannte sogar seine potenzielle Kundin!

Zunächst griff sie wie gewohnt nach ihrem Ipod und erhöhte die Lautstärke, wählte ein Lied von ihrer Lieblingsrockband. Lu wusste, dass sie sich dafür entschieden hatte, dass sie ihrer Bekannten bewusst aus dem Weg gehen wollte. Aufmerksam verfolgte er ihren großen Bogen, den sie um den Zeitungsstand gedachte zu tun. Doch die Bekannte/potenzielle Kundin hatte sie sehr schnell erkannt und rannte mit ausgestreckten Armen auf sie zu. Sie verkrampfte sich sofort im Nacken und tat so, als hätte sie sie nicht bemerkt, doch die Bekannte war hartnäckig und sprang ihr fast vor die Füße.

Oooooohhh... Ist dit schön, dass ick dich hier treffe!“, rief sie freudig erregt.

Hmmm...Ja, total der Wahnsinn. Ick kann meine Freude kaum bändigen. Schönen Tach noch!“, presste sie mit Mühe hervor und wollte sich an ihr vorbeidrücken.

Doch die Bekannte war wirklich hartnäckig und hüpfte ihr wieder vor die Füße.

Hey, wat machste denn heute Abend?“

Sie rollte mit den Augen und räusperte sich laut.

Ick werde mal schauen, ob ick mich heute erfolgreich töten kann. Vielleicht nehme ick noch wen mit....“, erklärte sie und blickte der Bekannten tief in die Augen.

Flöten? Hä? Versteh' ick nich'!“

Schon klar. Tschüss!“

Wieder wollte sie fliehen und wurde wieder mit einem Hüpfer daran gehindert.

Du mein Schatzi und icke wollte heute einen kuscheligen Videoabend machen. Da habe ick och an dich gedacht!“

Sie riss erschrocken die Augen auf und unterdrückte ein Bäuerchen.

Aha. Welche Rolle gedachtest du, soll ick dabei übernehmen? Die kuschelige oder eher noch etwas perverser?“

Die Bekannte kicherte mädchenhaft.

Ach, du bist immer so witzig!“

Hmh....“, grummelte sie und rückte die Sonnenbrille fester auf ihren Nasenrücken.

Du, warum fummelst du immer an deiner Sonnenbrille herum?“, fragte die Bekannte plötzlich.

Janz einfach: ick kann dit!“

Wieder kicherte die Bekannten mädchenhaft.

Mein Schatzi meinte letztens, dass du was mit den Augen hast. Stimmt dit?“

Sie holte tief Luft und knurrte gut hörbar.

Ja, ick kann schlechten Geschmack immer zu schnell erkennen. Dann schmerzen meine Augen immer. Wirste wohl nich' verstehen können. Macht nix. So, ick bin echt in Eile. Tschüss!“

Sie verzog den Mund, manche hätten es für ein kurzes Lächeln halten können. Erfolgreich quetschte sie sich an der Bekannten vorbei und ging im Stechschritt Richtung S-Bahnstation.

Seine potenzielle Kundin blickte ihr traurig hinterher und seufzte.

Hmh...ick wünschte, ick wäre so lustig wie sie.“, flüsterte sie traurig.

Lu riss die Augen auf und verzog den Mund zu einem zahnlosen Grinsen. Ja, Geltungssucht, Eitelkeit war die Basis für sein Angebot. Diese extrem einfach strukturierte junge Frau wollte ernst genommen werden. Sie wollte Respekt! Sie wollte schlagfertig sein! Wie dämonisch göttlich!

Er verwandelte sich in einen jungen Mann und schlenderte betont langsam zum Zeitungsstand. Sie bemerkte ihn zunächst nicht, also stellte er sich direkt vor sie und winkte. Nach gefühlten Minuten bemerkte sie ihn endlich und setzte ihr bestens Lächeln auf.

Hallo! Du kannst auf jeden Fall ein kostenloses Testabo jut gebrauchen!“, fing sie routiniert an.

Er ließ das Verkaufsgespräch entspannt über sich ergehen und unterschrieb den Vertrag flott. Danach nickte er ihr zu und klopfte ihr anerkennend auf die Schulter.

Das war ein super Verkaufsgespräch! Sehr kompetent!“

Hä? Wie bitte?“

Schon gut. Du hast das ganz toll gemacht! Außerdem bist du sehr witzig! Ick musste mich echt total zusammenreißen, dass ick nicht lache. Das ist jetzt janz ernst jemeint!“, erklärte er und lächelte sie zuckersüß an.

Sein Lob schlug voll ein, denn sie errötete zaghaft und bedankte sich brav.

Danke, echt. Das tut jut. Sonst werde ick immer nur angemeckert. Die Menschen haben nie Zeit für mich und sie schimpfen viel.“

Du verschwendest hier auch dein Talent! Du hast ein süßes Gesicht, einen gut geformten Körper und einen super Humor! Du solltest auf eine Bühne!“

Sie blickte ihn etwas misstrauisch an.

Meinste? Ehrlich?“

Na, klar! Du wirst bestimmt bald entdeckt werden. Aber niemand wird an deine Tür klopfen, du musst schon selbst was machen. Auffallen ist die Devise. Ick sach nur: Rote Nasen!“

Sie hing an seinen Lippen, saugte jedes Wort gierig auf. Lu freute sich dämonisch.

Ick hab' aber keene rote Nase.“, sagte sie traurig.

Du, die Farbe an sich ist doch unwichtig. Hauptsache, du fällst auf!“, beruhigte er sie und zwinkerte kurz.

Das Angebot war in ihrem Kopf und sie starrte mit großen Augen ins Leere, denn Lu war verschwunden. Für sie unsichtbar stand er immer noch vor ihr und grinste breit. Dieser Auftrag war wirklich simpel.



Auf dem Rückweg holte sie sich an dem kleinen Brötchenstand noch eines ihrer geliebten Quarkbrötchen und wollte es schon auf dem Weg genussvoll essen. Jedoch hielt sie verwundert inne. Auf der Warschauer Brücke war quasi der Teufel los. Die Leute grölten und blockierten die komplette Straße.

Hmh? Wir haben doch Sommer und net Silvester!“, brummelte sie erstaunt.

Von rechts ertönte eine Polizeisirene und direkt vor ihr ging ein junger Mann lachend in die Knie. Er wälzte sich auf dem Boden und gackerte laut. Sie verstaute das Quarkbrötchen in ihrer Tasche und ging in die Hocke.

Hey, Meister. Wat issn so lustig?!“, erkundigte sie sich.

Der junge Mann japste nach Luft und sah sie direkt an.

Dat ist nich' zu glauben! Die Frau ist so witzig! Ick hab schon Bauchschmerzen!“

Wat für 'ne Frau?“

Na, auf der Mitte der Brücke! Die hat 'ne pinke Clownsnase uff und zieht die geilsten Sprüche ab! Seit über einer Stunde bringt sie die Massen hier zum Brüllen! Genial! Ick brauch erstmal 'ne Pause, sonst platze ick noch!“

Sie erhob sich und drängelte sich an den lachenden Menschen vorbei. In der Mitte stand ihre Bekannte, die sie absolut nicht ausstehen konnte. Mit einer pinken Clownsnase auf der Nase verrenkte sie sich in alle Richtungen und brachte damit die Leute zum Grölen. Sie musste mehrmals mit den Augen zwinkern, weil sie einfach nicht glauben konnte, was dort passierte. Die einfach Strukturierte – kurz ES genannt – unterhielt die Massen auf der Warschauer Brücke!

Dit gibt’s net!“, wisperte sie.

Ihre Bekannte genoss das massenhafte Grölen und verneigte sich gekonnt. Als sie sich wieder aufrichtete, war sie von Polizisten eingeschlossen und ihr Blick fiel auf sie.

Scheiße, die hat mich erkannt!“, flüsterte sie und fühlte Panik in sich aufsteigen.

Da! Da vorne! Die da ist mein Vorbild! Quizfrage!“

Ihr Herz rutschte ihr in die Hose, denn alle auf der Brücke starrten sie an.

Ok, bevor Teile von ihr altern, ick stell die Quizfrage mal! Wat machen drei schwule Männer mit einer Lesbe?“

Gespanntes Schweigen. Selbst die Polizisten hingen an ihren Lippen und sahen sie abwartend an.

Na, janz einfach, Leute! Zwei halten sie fest und der dritte macht ihr die Haaareeee! Bloß bei ihr ist es längst zu spät!“

Das massenhafte Lachen brachte die Warschauer Brücke leicht ins Schwingen und sie wäre vor Scham am liebsten im Erdboden versunken.

Lu hatte sich dämonisch gut amüsiert und eine grandiose Kundin gewonnen. Doch die junge Frau, die letztlich bloß gestellt worden war, hetzte peinlich berührt direkt nach Hause. Ihre Wut, ihr Zorn und Scham hatten sich zu einer köstlichen Mischung verbunden.

Lu musste unbedingt wissen, wie sie diese Mischung nutzen würde. Denn bisher hatte sie diese Mischung seiner Meinung nach ungünstig benutzt – nämlich gar nicht. Sie hatte ihre Wut einfach an einem großen Kissen ausgelassen. Getreu ihrem Prinzip: Aus etwas Negativem etwas Positives machen und Wut rauslassen. Oder so ähnlich. So ganz konnte er ihre Gedankengänge nie verstehen.



Nun war er für sie unsichtbar mit in ihrer kleinen Zweizimmerwohnung. Sie atmete schwer, hatte die Zähne zusammen gebissen und lief wie ein eingesperrtes Tier herum.

Ihre Hände waren zu Fäusten geballt und ihr Blick fiel immer wieder zu dem großen platten Kissen auf dem schwarzen Sofa.

Er war extrem gespannt, was sie tun würde. Sie starrte plötzlich das Kissen an.

NEIN!“, presste sie hervor und schleuderte das Kissen direkt in die Küche.

Sie tauchte unter der Hängematte durch und stellte sich vor die großen Wohnzimmerfenster. Immer noch schwer atmend hielt sie ihre Fäuste hoch und kniff die Augen zusammen.

Jetzt reicht's mir! Ick will dit net mehr! Ick habe dazu keine Lust mehr! Ständig dieser Ideenklau, diese Parasiten! Es ist an der Zeit, dass ick mich mitteile!“, brüllte sie und ignorierte das Gepolter der Nachbarn unter ihr.

Geschwind drehte sie sich um und hechtete zu ihrem Laptop. Kaum war das Schreibprogramm sichtbar, hämmerte sie wild auf der Tastatur rum und lachte heiser. Als hätten die Ideen seit Jahren darauf gewartet, endlich zusammengefügt zu werden, so schnell schrieb sie, ohne korrigieren zu müssen. Eine Seite nach der anderen wurde im Laptop gespeichert.

Lu stand mit verschränkten Armen hinter ihr und las eifrig mit. Sie hatte schon immer eine gehässige Ader in sich gehabt und nun ließ sie alles raus.

Als er plötzlich Rosenduft in der Nase hatte, ärgerte er sich dieses Mal keineswegs.

Na, was gibt's?“, fragte er leise.

Tja, ich wollte mal schauen, ob sie es endlich geschafft hat. Sieht ganz gut aus, oder?“, bemerkte Michael und beugte sich von der linken Seite zum Bildschirm rüber.

Ja, ich schätze schon.“

Ja, stimmt. Wie lange schreibt sie schon?“

Seit mindestens einer Stunde, schätze ich.“

Wunderbar. Dann hoffe ich, dass sie nicht wieder so schnell den Fokus verliert.“

Lu sah Michael fragend an.

Na, ist doch klar! Jeder braucht doch eine Richtung! Sie hier braucht einen Fokus, damit ihre Visionen, die sie glücklich machen, endlich real werden. Sag bloß nicht, dass deine letzte Kundin dir nicht besonders viel Spaß bereitet hat!“

Lu lachte heiser und nickte.

Na, also! Weder du, noch ich werden sie wohl als Auftrag bekommen, aber wir können uns auf jeden Fall heimlich von ihr unterhalten lassen, oder?“

Ich schätze schon, denn Gott hat Humor.“

Richtig!“

Nebenbei, du siehst heute besonders metrosexuell aus.“

Michael rollte mit den Augen.

Danke. Ich werde dir niemals verzeihen, dass du diesem Fussballspieler flüssiges Make-up gegeben hast.“

Och, sei doch nicht traurig. Dafür will sich doch dieser Schauspieler aus dem Filmgeschäft zurückziehen und Rapper werden. Das hat doch bisher ganz gut funktioniert, oder?“

Sehr witzig, Lu! Im Himmel bin ich im Moment die Lachnummer!“

Tja, wie schon erwähnt, Gott hat eben Humor!“

Lu zündete sich eine dicke Zigarre an und verschwand mit einem Plopp. Michael las noch ein paar Seiten mit und streichelte ihr kurz über die linke Wange. Danach verschwand er mit einem leisen Flügelrascheln. Sie hielt im Schreiben inne, denn sie wunderte sich, dass es plötzlich nach Rosen und Zigarren in ihrer Wohnung duftete.







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Teufel