8

Jeden Abend schlief Livia mit Katrines rotem Wollpullover neben sich ein. Und Joakim hatte ihr Nachthemd unter seinem Kissen liegen. Das beruhigte ihn.

Das Leben auf Åludden ging weiter – mit halber Geschwindigkeit. Die Kinder mussten jeden Morgen nach Marnäs gebracht und dort wieder abgeholt werden, und Joakim erledigte diese Aufgabe gewissenhaft. Dazwischen war er sieben Stunden lang allein auf dem Hof, fand aber keine Ruhe. Das Bestattungsinstitut rief ihn unentwegt hat und hatte immer neue Fragen zur Beerdigung. Außerdem war er gezwungen, die Banken und Firmen zu kontaktieren, um Katrine aus den Registern streichen zu lassen. Und dann meldeten sich Familienangehörige, ihre und seine, gemeinsame Freunde aus Stockholm schickten Blumensträuße, viele von ihnen wollten zur Beerdigung kommen.

Am liebsten hätte Joakim alle Telefonkabel herausgerissen und sich auf Åludden eingeschlossen. Alles verriegelt.

Selbstverständlich gab es Unmengen zu tun, Renovierungsarbeiten im Haus, im Garten und an der Fassade – aber er wollte eigentlich nur im Bett liegen, an die weiße Decke starren und den Geruch von Katrines Kleidungsstücken im Zimmer ein atmen.

Und dann war da diese Sache mit der Polizei. Wenn er genug Kraft gehabt hätte, hätte er mit jemandem gesprochen, der für interne Untersuchungen zuständig ist, wenn es überhaupt so jemanden gab – aber er hatte keine Kraft.

Die einzige Person, die von sich hören ließ, war diese junge Polizistin aus Marnäs, Tilda Davidsson.

»Es tut mir so leid«, sagte sie. »Es tut mir so furchtbar leid.«

Sie fragte nicht, wie es ihm ging, sondern entschuldigte sich ununterbrochen für die Namensverwechslung. Sie habe den falschen Namen auf dem Zettel gehabt und abgelesen – es sei ein fürchterliches Missverständnis gewesen.

Ein Missverständnis? Joakim war nach Hause geeilt, um seine Frau zu trösten, und hatte sie dann tot vorgefunden.

Er hörte dieser Davidsson stumm zu, antwortete einsilbig und stellte keine Fragen. Das Gespräch war äußerst kurz.

Nach Beendigung des Telefonats setzte er sich an den Computer und schrieb einen Leserbrief an die Ölands-Posten, in dem er kurz zusammenfasste, was nach Katrines Tod passiert war. Er endete mit den Sätzen:

Mehrere Stunden war ich in dem Glauben, dass meine Tochter ertrunken wäre, meine Frau aber leben würde. Dabei war es genau andersherum. Ist es zu viel verlangt, dass die Polizei die Lebenden und die Toten voneinander unterscheiden kann?

Ich glaube nicht, das müssen schließlich auch wir Angehörigen leisten.

Joakim Westin, Hof Åludden

Er rechnete nicht damit, dass der Verantwortliche sich bei ihm melden würde.

Zwei Tage später war er mit Åke Högström verabredet, dem zuständigen Pfarrer von Marnäs, der seine Frau beerdigen sollte.

»Wie steht es um Ihren Schlaf?«, fragte der Pfarrer über einen Kaffeebecher hinweg, nachdem sie ein letztes Mal die Details der Zeremonie durchgegangen waren.

»Gut, sehr gut«, antwortete Joakim.

Er versuchte sich zu erinnern, was sie besprochen hatten. Sie hatten den Kantor angerufen, um mit ihm zusammen die Wahl der Psalmen zu treffen, die gesungen werden sollten. Daran konnte er sich noch erinnern, aber nicht an ein einziges Lied.

Der Gemeindepfarrer war um die fünfzig, hatte ein mildes Lächeln, einen kleinen Bart und trug ein schwarzes Jackett über einem grauen Poloshirt. Die Wände seines Büros im Pfarrhaus waren voller Bücherregale, und auf dem Schreibtisch stand ein Foto von ihm, auf dem er strahlend einen glitzernden Hecht in die Kamera hielt.

»Stört Sie das Licht vom Leuchtturm?«, fragte er.

»Licht?«, wiederholte Joakim.

»Das ununterbrochene, nächtliche Blinken vom Leuchtturm von Åludden?«

Joakim schüttelte den Kopf.

»Man gewöhnt sich wohl an alles«, sagte Högström. »So wie an den Lärm vom Autoverkehr, Sie haben vorher ja auch mitten in Stockholm gewohnt, nicht wahr?«

»Ein bisschen außerhalb«, korrigierte Joakim.

Der Pfarrer bemühte sich sehr, Small Talk zu machen, um das schwermütige Gespräch ein wenig aufzulockern. Aber Joakim kostete es große Anstrengungen, die richtigen Worte zu finden.

»Am Anfang singen wir also Psalm 289, dann Psalm 256 nach der Beisetzung und Psalm 297 als Abschluss«, fasste Högström zusammen. »So sollte es sein, nicht wahr?«

»Das ist gut so.«

An die zehn Gäste trafen am Abend vor der Beerdigung aus Stockholm ein: Joakims Mutter, sein Onkel, zwei Kusinen und ein paar Freunde von Katrine und ihm. Sie bewegten sich zurückhaltend über den Hof und unterhielten sich leise miteinander. Die vielen Gäste versetzten Livia und Gabriel in Hochstimmung, sie fragten aber nicht nach, warum sie gekommen waren.

Die Beisetzung fand an einem Donnerstag um elf Uhr in der Kirche von Marnäs statt. Die Kinder waren nicht dabei – Joakim hatte sie wie immer um acht Uhr zur Vorschule und in den Kindergarten gebracht. Für sie war es ein Tag wie jeder andere, Joakim jedoch war nach Hause zurückgefahren, hatte sich seinen schwarzen Anzug angezogen und sich wieder auf das Doppelbett gelegt.

Die Wanduhr im Flur tickte, und Joakim musste daran denken, dass seine Frau sie aufgezogen hatte. Sie dürfte eigentlich nicht mehr ticken, weil Katrine nicht mehr da war, tat es aber dennoch.

Er starrte an die Schlafzimmerdecke und zählte alle Erinnerungsstücke auf. In seinem Kopf hörte er Katrine seinen Namen rufen.

Eine Stunde später saß Joakim auf einer unbequemen Holzbank, den Blick auf ein riesiges Wandgemälde geheftet. Abgebildet war ein Mann in seinem Alter, der an ein römisches Folterinstrument genagelt war. Ein Kreuz.

Die Kirche von Marnäs hatte ein hohes Kirchenschiff und war erfüllt vom Echo seiner Besucher. Das Geräusch von gefasster Trauer hing unter dem Steingewölbe.

Joakim saß neben seiner Mutter, die Trauerflor trug, mit gesenktem Kopf weinte und ab und zu aufschluchzte. Er würde nicht weinen, so wie er auch vor einem Jahr auf Ethels Beerdigung nicht geweint hatte. Die Tränen kamen immer erst später, mitten in der Nacht.

Es war zwei Minuten vor elf, als eine hochgewachsene, athletische Frau mit großen Schritten den Mittelgang hinunterkam. Sie trug einen schwarzen Mantel und einen schwarzen Trauerschleier, der ihre Augen verdeckte. Allerdings waren ihre Lippen leuchtend rot geschminkt. Das Klackern ihrer Absätze schallte durch das Kirchenschiff, und mehrere Köpfe drehten sich nach ihr um. Die Frau ging bis vor zum Altar und setzte sich in die erste Reihe, neben die vier Halbgeschwister von Katrine.

Sie war Katrines Mutter: Mirja Rambe. Joakims Schwiegermutter, Künstlerin und Sängerin. Er hatte sie seit ihrer Hochzeit vor sieben Jahr nicht wiedergesehen. Im Gegensatz zu damals schien sie an diesem Tag nüchtern zu sein.

In dem Augenblick, als Mirja Rambe sich auf die Kirchenbank setzte, begannen die Glocken zu läuten.

Weniger als fünfundvierzig Minuten später war alles vorbei. Joakim konnte sich nicht erinnern, was Pfarrer Högström gesagt oder gar welche Psalmen sie gesungen hatten. Er hatte nur die Bilder und die Geräusche von brechenden Wellen und fließendem Wasser im Kopf. Nach der Beerdigung waren sie über den eiskalten Friedhof hinüber ins Gemeindehaus gegangen. Dort kamen viele Menschen auf ihn zu und wollten mit ihm reden.

»Mir tut das alles so furchtbar leid, Joakim«, sagte ein bärtiger Mann und klopfte ihm auf die Schulter. »Wir mochten sie so gerne.«

Joakim versuchte sich auf das Gesicht des Mannes zu konzentrieren und erkannte ihn wieder – es war sein Onkel aus Stockholm.

»Danke … hab vielen Dank.«

Vielmehr gab es dazu nicht zu sagen.

Andere strichen ihm über den Rücken oder gaben ihm eine steife Umarmung. Er ließ es geschehen.

»Das ist so schrecklich … ich habe vor ein paar Tagen noch mit ihr telefoniert«, sagte ein weinendes Mädchen um die fünfundzwanzig.

Joakim erkannte sie hinter dem Taschentuch, mit dem sie sich die Augen trocknete. Es war Katrines kleine Schwester, sie wurde Sonnenblümchen genannt, erinnerte er sich. Mirja hatte jedem ihrer fünf Kinder merkwürdige Zweitnamen verliehen: Katrine wurde Katrine Mondstrahl getauft, hatte diesen Namen jedoch gehasst.

»Und sie klang so viel fröhlicher als früher«, fuhr Sonnenblümchen fort.

»Ich weiß … sie war sehr froh darüber, dass wir hierhergezogen waren.«

»Ja, und sie freute sich darüber, endlich mehr über ihren Vater zu erfahren.«

Joakim sah sie erstaunt an.

»Über ihren Vater?«, wiederholte er. »Katrine hatte doch überhaupt keinen Kontakt zu ihm.«

»Ich weiß«, nickte Sonnenblümchen. »Aber Mama hat ein Buch geschrieben, in dem sie erzählt, wer er war.«

Erneut strömten ihr die Tränen über das Gesicht, sie umarmte ihn schnell und lief zurück zu ihren Geschwistern.

Joakim blieb stumm stehen. Er erblickte Albin und Viktoria Malm, Freunde aus Stockholm, die mit seinen alten Nachbarn, den Hesslins aus Bromma, an einem Tisch zusammensaßen.

Er entdeckte auch seine Mutter, die allein an einem Tisch mit ihrem Kaffee saß. Aber er gesellte sich nicht zu ihr.

Als er sich umdrehte, sah er Pfarrer Högström, der in ein Gespräch mit einer kleinen, grauhaarigen Frau am anderen Ende des Raumes vertieft war. Er ging auf die beiden zu.

Högström wandte sich ihm mit einem freundlichen Blick zu.

»Joakim«, sagte er. »Wie geht es Ihnen?«

Joakim nickte nur. Das war eine angemessene Antwort, sie konnte alles Mögliche bedeuten. Die kleine Dame lächelte ihn angestrengt an und erwiderte sein Nicken, schien aber auch nicht so recht zu wissen, was sie sagen sollte. Dann zog sie sich zurück.

So ist das mit den Trauernden, dachte Joakim, sie riechen nach Tod und sollten möglichst gemieden werden.

»Ich habe mir über eine Sache Gedanken gemacht«, wandte er sich daraufhin an Pfarrer Högström.

»Ja, bitte?«

»Wenn man einen Menschen hier auf der Insel um Hilfe rufen hört, obwohl man sich selbst auf dem Festland befindet und mehrere hundert Kilometer entfernt ist: Was hat das zu bedeuten?«

Der Pfarrer sah ihn verständnislos an.

»Mehrere hundert Kilometer entfernt … wie sollte man da etwas hören können?«

Joakim schüttelte den Kopf.

»Aber es war so«, sagte er. »Ich habe meine Frau gehört, ich habe Katrine gehört, als sie starb. Ich war zu dem Zeitpunkt in Stockholm, aber ich habe sie gehört, als sie ertrank. Sie hat nach mir gerufen.«

Der Pfarrer sah in seine Kaffeetasse.

»Vielleicht haben Sie jemand anders rufen hören?«

Er senkte seine Stimme, als würden sie über etwas Verbotenes sprechen.

»Nein«, entgegnete Joakim mit fester Stimme. »Es war Katrine.«

»Ich verstehe.«

»Ich weiß, dass ich sie gehört habe«, sagte Joakim. »Was hat das zu bedeuten?«

»Wer weiß, wer weiß«, war Högströms Antwort, dabei klopfte er Joakim vorsichtig auf die Schulter. »Sie müssen sich jetzt ausruhen, Joakim. Wir können uns in ein paar Tagen noch einmal darüber unterhalten.«

Dann wandte er sich ab und ging.

Joakim blieb wie angewurzelt stehen und starrte an die Wand auf ein Plakat, auf dem eine Spendenkampagne für die Strahlenopfer von Tschernobyl angekündigt wurde. Zum zehnten Mal jährte sich diese Katastrophe.

Unser tägliches Brot für die Strahlenopfer, lautete die Überschrift.

Unser tägliches Tschernobyl, dachte Joakim.

Endlich wurde es Abend, und er war zurück auf Åludden. Dieser schier unendlich lange Tag würde bald ein Ende haben.

Livia und Gabriel wurden von ihrer Großmutter ins Bett gebracht. Lisa und Michael Hesslin standen neben ihrem Wagen, es war spät, und sie hatten noch eine lange Fahrt zurück nach Stockholm vor sich, waren aber trotzdem nach der Kirche mit auf den Hof gekommen.

»Vielen Dank, dass ihr gekommen seid«, sagte Joakim.

»Das ist doch selbstverständlich«, erwiderte Michael und legte seinen schwarzen Anzug auf den Rücksitz des Wagens.

Sie schwiegen, ein angespanntes Schweigen.

»Komm uns bitte bald in Stockholm besuchen«, brach Lisa schließlich die Stille. »Oder fahr mit den Kindern nach Gotland, in unser Sommerhaus.«

»Vielleicht mache ich das.«

»Wir bleiben in Kontakt, Joakim«, verabschiedete sich Michael.

Joakim nickte. Gotland klang besser als Stockholm. Er wollte nie wieder dorthin fahren.

Lisa und Michael stiegen ein, und Joakim trat einen Schritt zurück und sah ihrem Wagen hinterher.

Kaum war das Auto auf die Landstraße abgebogen und die Autoscheinwerfer nicht mehr zu sehen, drehte sich Joakim um und sah hinunter zu den Leuchttürmen.

Draußen auf seiner kleinen Insel stand der Südturm und sendete sein rotes Licht über das Wasser. Der Nordturm, Katrines Turm, war nur ein schwarzer Pfeiler in der Dunkelheit. Er hatte dort nur ein einziges Mal Licht gesehen.

Nach kurzem Zögern fand er den Weg, der zum Strand hinunterführte und den er an den vergangenen Wochenenden oft mit Katrine und den Kindern entlanggelaufen war.

Er hörte das Meer in der Dunkelheit rauschen und spürte den eiskalten Wind im Gesicht. Vorsichtig näherte er sich dem Wasser, stieg über die Grasbüschel am Strand, folgte dem schmalen Sandstreifen und erreichte dann die großen Steinblöcke, die als Wellenbrecher für die Leuchttürme aufgeschüttet worden waren.

Für Joakim klangen die Wellen wie langsame Atemzüge. Wie Katrine, wenn sie miteinander schliefen – wenn sie ihn zu sich aufs Bett gezogen, ihn fest umklammert und ihm ins Ohr gestöhnt hatte.

Sie war die Stärkere von ihnen gewesen. Katrine hatte entschieden, nach Öland zu ziehen.

Joakim erinnerte sich genau an die Schönheit, die sie empfangen hatte, als sie das erste Mal auf der Insel zu Besuch waren. Es war ein klarer, sonniger Frühlingstag Anfang Mai gewesen, und der Hof mit dem glitzernden Wasser der Ostsee im Hintergrund hatte ausgesehen wie ein Schlösschen aus Holz.

Nachdem sie alle Gebäude besichtigt hatten, waren sie Hand in Hand den schmalen Weg durch ein Meer blühender Buschwindröschen gelaufen.

Unter dem hohen, weiten Himmel wirkten die flachen Inseln vor der Küste im Norden wie magische, mit frischem Gras bedeckte Objekte im Wasser. Überall waren Vögel zu sehen: Scharen von Grauschnäppern, Austernfischern und trillernder Lerchen. Kleine Gruppen schwarzweißer Reiherenten hatten sich am Fuß der Leuchttürme versammelt, und näher am Strand schwammen Stockenten und Haubentaucher.

Joakim erinnerte sich genau an Katrines Gesichtsausdruck im strahlenden Sonnenschein.

Oh, ich möchte am liebsten für immer hierbleiben, hatte sie gesagt.

Er zitterte vor Kälte, ging aber trotzdem bis zu dem letzten Stein der Mole und sah hinunter in das schwarze Wasser.

Hier hatte sie gestanden.

Die Schuhspuren am Strand bewiesen eindeutig, dass Katrine allein auf die Mole gegangen war. Danach musste sie entweder ins Wasser gestürzt oder hineingesprungen und sofort ertrunken sein.

Warum?

Er fand keine Antwort. Er wusste nur, dass er im Augenblick ihres Todes in einem Keller in Stockholm gestanden und gehört hatte, wie sie ins Haus gekommen war.

Joakim hatte sie rufen hören. Er war sich vollkommen sicher, und das bedeutete, dass die Welt viel unbegreiflicher war, als er es für möglich gehalten hatte.

Nach einer halben Stunde in der Kälte ging er zurück zum Hof.

Seine Mutter Ingrid war das einzige Familienmitglied, das nach der Beerdigung dageblieben war. Sie saß am Küchentisch und zuckte erschreckt zusammen, als er reinkam, die Stirn in sorgenvolle Falten gelegt. Die Falten waren in den vergangenen Jahren immer tiefer geworden, verursacht durch die schwere Krankheit ihres Mannes und jede neue Krise, die sie mit Ethel durchstehen musste.

»Jetzt sind die Letzten abgereist«, sagte Joakim. »Schlafen die Kinder schon?«

»Ja, ich glaube schon. Gabriel hat sein Breifläschchen ausgetrunken und ist sofort eingeschlafen. Nur Livia war sehr unruhig … sie hob sofort den Kopf und rief nach mir, als ich mich aus dem Zimmer schleichen wollte.«

Joakim nickte und setzte eine Kanne Tee auf.

»Manchmal tut sie nur so, als würde sie schlafen«, erzählte er. »Sie will uns testen.«

»Sie hat über Katrine gesprochen.«

»Ach ja? Willst du Tee?«

»Nein, vielen Dank. Tut sie das oft, Joakim?«

»Nicht beim Einschlafen.«

»Was hast du ihr erzählt?«

»Über Katrine?«, fragte Joakim. »Nicht viel. Ich habe gesagt … dass die Mama weg ist.«

»Weg?«

»Dass sie verreist ist … so wie ich in Stockholm war, als Katrine und die Kinder schon hier lebten. Ich kann ihr im Moment nicht mehr erzählen. Ich schaffe das nicht.« Er sah seine Mutter an und wurde plötzlich nervös. »Hast du ihr heute Abend was gesagt?«

»Nein, nichts. Das musst du tun, Joakim.«

»Das werde ich auch«, versprach er. »Wenn du wieder gefahren bist und ich mit den Kindern allein bin.«

Mama ist tot, Livia. Sie ist ertrunken.

Wann würde er dazu in der Lage sein? Es erschien ihm so unmöglich, wie seinem Kind eine Ohrfeige zu geben.

»Werdet ihr wieder zurückziehen?«, fragte Ingrid.

Joakim starrte sie an. Er wusste genau, was sie hören wollte, nämlich dass er aufgab. Trotzdem tat er erstaunt.

»Zurück? Meinst du zurück nach Stockholm?«

Katrine hier allein zurücklassen?, fügte er in Gedanken hinzu.

»Ja … ich bin doch da«, sagte Ingrid.

»Ich habe kein Zuhause mehr in Stockholm«, wandte er ein.

»Du kannst doch eure Villa in Bromma zurückkaufen. Oder nicht?«

»Ich kann gar nichts kaufen, ich habe kein Geld, Mama, selbst wenn ich wollte. Unser ganzes Vermögen haben wir in diesen Hof gesteckt.«

»Aber du kannst ihn doch verkaufen …«

Ingrid verstummte und sah sich in der Küche um.

»Åludden verkaufen?«, fragte Joakim entgeistert. »Wer würde den Hof in diesem Zustand kaufen? Der muss doch erst renoviert werden … Katrine und ich wollten das ja zusammen machen.«

Seine Mutter schwieg und sah bedrückt aus dem Fenster.

»Diese Frau auf der Beerdigung, die als Letzte kam … war das Katrines Mutter? Die Künstlerin?«

Joakim nickte.

»Ja, das war Mirja Rambe.«

»Ich meinte auch sie auf eurer Hochzeit gesehen zu haben.«

»Ich wusste nicht, ob sie kommen würde.«

»Das versteht sich doch von selbst«, erwiderte Ingrid aufgebracht, »Katrine war doch ihre Tochter.«

»Aber sie hatten praktisch keinen Kontakt mehr. Ich habe sie seit der Hochzeit kein einziges Mal gesehen.«

»Waren sie verfeindet?«

»Nein … aber sie waren auch nicht befreundet. Sie haben ab und zu miteinander telefoniert, aber Katrine hat praktisch nie von Mirja gesprochen.«

»Wohnt sie auf der Insel?«

»Nein, ich glaube, sie wohnt in Kalmar.«

»Willst du dich nicht mit ihr in Kontakt setzen? Ich finde, das solltest du tun.«

»Das finde ich nicht«, entgegnete Joakim.

Er sah hinaus in den dunklen Innenhof. Er wollte niemanden treffen. Am liebsten würde er sich auf Åludden einschließen und den Hof nie wieder verlassen. Er wollte weder eine Stelle als Lehrer finden noch die Renovierungsarbeiten fortsetzen.

Er wollte den Rest seines Lebens nur noch schlafen, an der Seite von Katrine.

Theorin, Johan
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