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Tilda hatte später nur vage Erinnerungen daran, dass ihr jemand die Steintreppe zur Veranda hochgeholfen hatte. Die Kälte war nach wie vor beißend, aber der Wind schien langsam abzuflauen. Joakim Westin begleitete sie auf dem frisch geschaufelten Weg von der Scheune zum Wohnhaus. Hohe Schneeberge türmten sich zu ihrer Rechten und Linken auf.
»Haben Sie Hilfe geholt?«, fragte er.
Sie nickte.
»Sie wollten so schnell wie möglich kommen … aber ich weiß nicht, wann das sein wird.«
Sie gingen an einer Schneewehe vorbei, aus der die Zipfel eines Kleidungsstückes herausschauten. Von einer Lederjacke.
»Wer liegt dort?«, fragte Westin.
»Er heißt Martin Ahlquist«, antwortete Tilda mechanisch.
Sie schloss die Augen. Sie würde noch viele Fragen zu dieser Nacht beantworten müssen: was schiefgelaufen war, was sie hätte anders machen müssen – die meisten Fragen jedoch würde sie sich selbst stellen. Doch dazu hatte sie jetzt keine Kraft.
Im Wohnhaus war alles still. Joakim brachte sie in ein großes Zimmer am Ende des Flurs, in dem eine bezogene Matratze auf dem Boden lag. In der Ecke stand ein Kachelofen, der eine wohlige Wärme verströmte. Sie legte sich hin, und langsam löste sich ihre Verspannung. Ihre Nase schmerzte, und das getrocknete Blut verstopfte die Atemwege – mit geschlossenem Mund bekam sie keine Luft.
Das Heulen des Windes war noch deutlich zu hören, aber irgendwann schlief Tilda ein.
Sie schlief fest. Nur ab und zu wurde sie von pochenden Kopfschmerzen oder den Bildern von Martins Körper im Schnee geweckt. Oder sie schreckte plötzlich voller Angst hoch, wieder in der dunklen Scheune zu sein, wo bleiche Arme mit langen dünnen Fingern nach ihr griffen.
In den Morgenstunden, die Dämmerung war gerade angebrochen, beugte sich ein Schatten über sie. Sie zuckte zusammen.
»Tilda?«
Es war Joakim Westin. Er sprach langsam und deutlich wie mit einem kleinen Kind.
»Ihre Kollegen haben soeben angerufen, Tilda. Sie werden bald hier sein.«
»Sehr gut«, stammelte sie.
Ihre Stimme klang wegen der gebrochenen Nase belegt und dumpf. Sie schloss ihre Augen.
»Und Henrik?«, fragte sie.
»Wer?«
»Henrik Jansson. Der Mann, der auf der Veranda lag … wie geht es ihm?«
»Ich glaube, ganz gut«, erwiderte Joakim. »Ich habe ihm einen neuen Druckverband angelegt.«
»Und Tommy? Ist er zurückgekommen?«
»Nein, der ist weg. Die Polizei wird schon nach ihm suchen, wenn sie da ist.«
Tilda nickte und versank wieder in einen tiefen Schlaf.
Eine unbestimmbare Zeit später wurde sie von lautem Brummen und gedämpften Stimmen geweckt, konnte die Geräusche aber nicht zuordnen.
Dann vernahm sie Joakims Stimme neben sich.
»Die Räumfahrzeuge kommen nicht durch, Tilda. Sie haben sich einen Panzer von der Armee ausgeliehen.«
Kurz darauf füllte sich der Raum mit vielen Stimmen und Körpern, die sich hin und her bewegten. Ihr wurde recht unsanft aus dem Bett geholfen.
Mit einem Schlag war die wohlige Wärme weg, und sie stand draußen in der Kälte. Wenigstens war es fast windstill. Sie wurde einen geräumten Weg entlanggeführt, der gesäumt war von aufgehäuften Schneewällen.
Weihnachten, schoss ihr durch den Kopf.
Eine Tür wurde zugeschlagen, eine andere geöffnet, und sie durfte sich auf eine Schlafpritsche legen, über der eine gedimmte Glühbirne hing. Dann ließ man sie in Ruhe.
Stille.
Sie befand sich in einem Panzer. Auf dem Boden lag ein regungsloser Körper in einem Plastiksack.
Jemand hustete. Tilda hob den Kopf und sah nur wenige Meter entfernt eine weitere Person unter einer grauen Wolldecke liegen. Sie bewegte sich.
Es war ein Mann. Er lag mit dem Rücken zu ihr, aber sie erkannte ihn an seiner Kleidung wieder.
»Henrik!«, rief sie.
Sie bekam keine Antwort.
»Henrik!«, rief sie ein wenig lauter, trotz der Schmerzen in den Rippen.
»Was ist?«, fragte er zurück und drehte den Kopf.
Endlich konnte sie sein Gesicht deutlich sehen, das Gesicht des Bodenlegers und Einbrechers Henrik Jansson. Er sah aus wie ein ganz normaler Fünfundzwanzigjähriger, nur dass er sehr müde wirkte und kalkweiß im Gesicht war. Tilda atmete schwer.
»Henrik, diese verdammte Axt hat mir die Nase gebrochen.«
Er schwieg.
»Haben Sie noch mehr als das auf dem Gewissen?«, fragte sie.
Auch darauf erhielt sie keine Antwort.
»An der Landzunge hier unten hat es im Herbst einen Todesfall gegeben«, begann sie. »Eine Frau ist ertrunken.«
Sie hörte, wie Henrik auf seiner Pritsche herumrutschte.
»Die Leute sagen, sie hätten ein Boot an dem besagten Todestag die Küste entlangfahren hören. War das Ihr Boot?«
Da riss Henrik die Augen auf.
»Das war nicht meins!«
»Nicht Ihres? Das Boot eines anderen?«
»Ich hab’s sogar gesehen«, sagte Henrik.
»Haben Sie das wirklich?«
»Ich war an dem Tag beim Bootssteg bei den Bootshäusern, als sie …«
»Katrine Westin«, ergänzte Tilda.
»Sie hat Besuch bekommen«, erzählte er weiter. »Von jemandem in einem großen weißen Boot.«
»Kannten Sie das Boot?«
»Nein, aber es war viel größer als meins, für Langstrecken gebaut … mehr so eine kleine Jacht. Das hat bei den Leuchttürmen festgemacht, dort hat jemand auf das Boot gewartet. Ich glaube, sie war das …«
»Okay.«
Tilda überkam eine unbeschreibliche Erschöpfung. Sie konnte nicht mehr sprechen.
»Ich habe es gesehen!«, betonte Henrik.
Ihre Blicke trafen sich.
»Wir müssen … wir werden später darüber sprechen. Sie werden wohl einige Verhöre über sich ergehen lassen müssen.«
Henrik stieß als Antwort nur einen langen Seufzer aus.
Dann versanken sie beide erneut in Schweigen. Tilda wollte nur die Augen schließen und schlafen, damit sie den Schmerzen und ihren Gedanken an Martin entkam.
»Haben Sie heute Nacht was gehört?«, fragte Henrik unvermittelt.
»Wie bitte?«
Eine Tür wurde zugeschlagen, dann heulte der Motor des Panzers auf, und das Fahrzeug setzte sich langsam in Bewegung.
»Ein Knacken?«
Tilda wusste nicht, wovon Henrik redete.
»Ich habe nichts gehört«, übertönte sie das Rumpeln.
»Ich auch nicht«, bestätigte Henrik. »Kein Knacken. Ich glaube, die Lampe war schuld … oder das Brett. Aber jetzt ist es wieder still.«
Er war mit einem Messer niedergestochen worden und auf dem Weg ins Gefängnis, und trotzdem hatte Tilda den Eindruck, dass er geradezu erleichtert klang.