29
Es dämmerte. Joakim stand in der Küche am Fenster und sah, wie der Schneefall immer dichter wurde. Sie würden weiße Weihnachten auf Åludden feiern.
Sein Blick wanderte zum Scheunentor. Das war geschlossen, und es führten auch keine Fußspuren dorthin. Seit dem gestrigen Abend hatte er dem Dachboden keinen Besuch mehr abgestattet, aber er konnte nicht aufhören, an den verborgenen Raum zu denken.
Ein Ort für die Toten, mit Kirchenbänken.
Ethels Jacke hatte er ordentlich zusammengelegt auf einer der Bänke gefunden, neben anderen Erinnerungsstücken anderer Verstorbener. Er hatte sie liegen lassen.
Katrine hatte sie dorthin gelegt. Sie musste den Raum entdeckt und dann die Jeansjacke auf eine der Bänke platziert haben, ohne ihm davon zu erzählen. Er hatte noch nicht einmal gewusst, dass Katrine im Besitz dieser Jacke gewesen war.
Seine Frau hatte also Geheimnisse vor ihm gehabt.
Beim nächsten Telefonat mit seiner Mutter erfuhr er, dass sie Katrine die Jacke geschickt hatte. Bis dahin hatte er angenommen, seine Mutter habe alle Kleidungsstücke ihrer Tochter auf dem Dachboden in Kisten verwahrt.
»Nein, ich habe sie heruntergeholt und eingepackt«, erzählte Ingrid. »Und sie dann an Katrine geschickt … das war irgendwann im August.«
»Und warum?«, fragte Joakim.
»Na ja, sie hatte mich darum gebeten. Katrine rief mich an und wollte die Jacke geliehen bekommen. Sie wolle etwas überprüfen, sagte sie. Und deshalb habe ich sie ihr geschickt. Hat sie dir davon nicht erzählt?«
»Nein.«
»Habt ihr euch nicht ausgetauscht?«
Joakim schwieg. Er wollte am liebsten antworten, dass sie selbstverständlich miteinander geredet, sich vollkommen vertraut hatten – aber ihm fiel ihr seltsamer Blick an jenem Abend ein, als sie erfuhren, dass Ethel umgekommen war.
Katrine hatte Livia ganz fest in den Arm genommen und Joakim aus feuchten Augen angesehen, als sei etwas Wunderbares geschehen.
Als es draußen dunkel wurde, begann Joakim mit den Vorbereitungen für das Festessen. Bereits am dreiundzwanzigsten Dezember das Weihnachtsessen zu servieren war vielleicht etwas verfrüht, aber er wollte so schnell wie möglich mit den Feierlichkeiten beginnen.
So war es auch schon im letzten Jahr gewesen. Seine Schwester ertrank Anfang Dezember, und ihr Name wurde an den Feiertagen kein einziges Mal erwähnt – stattdessen hatten Katrine und er noch mehr Geschenke gekauft und noch mehr Essen zubereitet. Sie hatten die Apfelvilla mit vielen Lichtern und Dekorationen geschmückt.
Natürlich hatten sie beide die Nähe von Ethel gespürt, Joakim hatte jedes Mal an sie denken müssen, wenn Katrine ihr Glas mit dem alkoholfreien Sekt gehoben und ihm zugeprostet hatte.
Er blinzelte die Tränen weg und blätterte konzentriert in seinem Kochbuch Die besten Rezepte für Weihnachten. Er mühte sich redlich ab in der Küche, während draußen im Hof die Schatten immer länger wurden.
Er briet Würstchen und Fleischklöße. Er schnitt den Butterkäse in Scheiben, schnitt den Kohl in schmale Streifen und wärmte die Rippchen im Ofen auf. Er grillte den Weihnachtschinken, schälte Kartoffeln und bepinselte das frisch gebackene Rosinenbrot mit Sirup und Wasser. Er legte Aal, Hering und Lachs auf eine Platte und bereitete das Lieblingsessen der Kinder zu: gegrilltes Hühnchen und Pommes frites.
Joakim stellte eine Schüssel nach der anderen auf den Küchentisch. Rasputin bekam unter dem Tisch ein Schälchen mit frischem Thunfisch serviert.
Gegen halb fünf rief Joakim Livia und Gabriel zu Tisch.
»Essen ist fertig.«
Sie stürzten in die Küche und blieben wie angewurzelt vor dem Tisch stehen.
»Viel Essen!«, staunte Gabriel.
»Das nennt man Weihnachtsbuffet!«, sagte Joakim. »Man nimmt einen Teller und legt sich von allem ein bisschen darauf.«
Livia und Gabriel taten, wie er gesagt hatte, allerdings nur mit Einschränkungen. Sie nahmen etwas von dem Hühnchen, den Pommes, Kartoffeln und ein bisschen von der Soße. Aber Fisch und Kohl rührten sie nicht an.
Sie gingen in den Salon und setzten sich an den großen Tisch unter dem Kronleuchter. Er goss Apfelsaftschorle ein und wünschte seinen Kindern eine schöne Weihnachtszeit. Er hatte erwartet, dass sie ihn fragen würden, warum er einen vierten Teller gedeckt hatte, aber das taten sie nicht.
Er glaubte nicht wirklich daran, dass Katrine plötzlich auftauchen würde. Aber so konnte er zumindest den leeren Platz betrachten und sich vorstellen, dass sie bei ihnen wäre.
So wie es hätte sein sollen.
Auch seine Mutter hatte jahrelang zu Weihnachten einen Extrateller gedeckt und gehofft, dass ihre Tochter doch noch auftauchen würde. Aber Ethel kam nicht.
»Darf ich aufstehen, Papa?«, fragte Livia nach zehn Minuten.
»Nein«, antwortete Joakim ein wenig zu scharf.
Ihr Teller war bereits leer gegessen.
»Aber ich habe alles aufgegessen.«
»Bleib bitte sitzen.«
»Aber ich will Fernsehen gucken.«
»Ich auch«, rief Gabriel, der allerdings bei Weitem noch nicht mit dem Essen fertig war.
»Es gibt Pferderennen«, erklärte Livia, als sei das ein ausschlaggebendes Argument.
»Bleibt bitte sitzen«, wiederholte Joakim noch strenger als zuvor. »Das hier ist wichtig. Wir feiern doch zusammen Weihnachten!«
»Du bist doof«, schimpfte Livia und starrte ihn wütend an.
Joakim seufzte.
»Wir feiern doch zusammen Weihnachten!«, wiederholte er, allerdings ohne große Überzeugung.
Die Kinder verstummten und blieben sitzen. Nach einer Weile stand Livia auf und ging, gefolgt von Gabriel, in die Küche. Beide kamen mit einem Teller voller Fleischklöße zurück.
»Es schneit ganz doll, Papa!«, sagte Livia.
Joakim sah, wie dicke Flocken vor dem Fenster herumwirbelten.
»Das ist doch wunderbar. Dann können wir morgen Schlitten fahren.«
Livias schlechte Laune verschwand, so schnell wie sie gekommen war, und bald darauf diskutierte sie mit ihrem Bruder über die Geschenke, die schon unter dem Weihnachtsbaum lagen. Keinen von beiden schien der vierte Stuhl am Tisch zu interessieren, nur Joakim sah dauernd auf den leeren Platz.
Was hatte er denn erwartet? Dass die Eingangstür sich öffnete und Katrine hereinspazierte?
Die alte Bauernuhr, die an der Wand stand, schlug einmal – es war halb sechs, und schon lange war die Welt draußen in Dunkelheit gehüllt.
Nachdem Joakim seine letzten Fleischklöße aufgegessen hatte, bemerkte er, dass sein Sohn im Begriff war einzuschlafen. Er hatte doppelt so viel gegessen wie sonst. Jetzt saß er mit schweren Augenlidern am Tisch und starrte auf seinen leeren Teller.
»Gabriel, möchtest du schlafen gehen und dich ein bisschen ausruhen?«, fragte er. »Dann kannst du heute Abend länger aufbleiben.«
Zuerst nickte Gabriel stumm, dann aber hatte er eine Bedingung.
»Aber später spielen wir. Du und ich. Und Livia.«
»Das können wir gerne tun.«
Plötzlich wurde Joakim bewusst, dass Gabriel Katrine vielleicht schon vergessen hatte. Welche Erinnerungen hatte er von sich selbst als fast Dreijähriger? Keine.
Er pustete die Kerzen aus, deckte ab und stellte das restliche Essen in den Kühlschrank. Dann brachte er Gabriel ins Bett.
Livia wollte noch nicht schlafen. Sie wollte Pferderennen sehen. Joakim trug den kleinen Fernseher in ihr Zimmer und stellte ihn an.
»Alles gut?«, fragte er. »Ich wollte kurz noch mal rausgehen.«
»Wohin denn?«, fragte Livia. »Willst du die nicht reiten sehen?«
Joakim schüttelte den Kopf.
»Ich komme ja gleich wieder«, versprach er.
Er kehrte zurück in den Salon, holte Katrines Geschenk unter dem Weihnachtsbaum hervor, zog sich einen warmen Pullover und dicke Stiefel an und steckte noch eine Taschenlampe ein.
Er war so weit.
Vor dem Wandspiegel blieb er kurz stehen. In dem unbeleuchteten Flur konnte er sein Spiegelbild kaum erkennen. Es schien, als könnte er durch sich hindurch die Konturen des Raumes erkennen. Joakim fühlte sich wie ein Geist, wie einer der Wiedergänger von Åludden. Er betrachtete die feine, weiße englische Papiertapete hinter dem Spiegel und den Strohhut, der an der Wand hing. Symbole für ein Leben auf dem Land.
Auf einmal kam ihm alles so sinnlos vor – warum hatten sich Katrine und er eigentlich jahraus, jahrein damit beschäftigt, Häuser zu renovieren und einzurichten? Die Objekte waren immer größer geworden, und kaum war das eine Projekt abgeschlossen, hatten sie mit dem nächsten begonnen und sich die größte Mühe gegeben, alle Spuren früherer Bewohner zu beseitigen. Warum?
Ein leises Miauen riss ihn aus seinen Gedanken. Auf dem Läufer vor der Tür saß eine zusammengekauerte, kleine vierbeinige Gestalt.
»Willst du mit raus, Rasputin?«
Er ging auf die Verandatür zu, aber der Kater folgte ihm nicht. Er starrte ihn nur an und schlich dann in die Küche.
Der Wind fegte über den Hof und ließ die kleinen Scheiben der verglasten Veranda erzittern.
Joakim öffnete die Tür und wurde sofort von einem Windstoß gepackt. Der Wind war böig, wurde immer stärker und verwandelte die Schneeflocken in nadelscharfe Hagelkörner, die über den Hof schossen.
Vorsichtig stieg er die Stufen hinunter und blinzelte mit halb geschlossenen Augen in den Schnee. Der Himmel über dem Meer war so dunkel wie noch nie zuvor, als wäre die Sonne für immer verschwunden. Die Wolkendecke war ein bedrohliches Schattengebilde aus grauen und schwarzen Feldern – gewaltige Schneewolken, die sich im Nordosten gebildet hatten, näherten sich der Küste und hingen tief über dem Wasser.
Ein Sturm braute sich zusammen.
Joakim ging über den gepflasterten Innenhof, durch Wind und Schneehagel. Er musste an Gerlofs Warnung denken, wie schnell man sich im Nebelsturm verirren konnte – aber auf den Wiesen und Feldern lag bisher nur eine dünne Schneedecke, und ein kurzer Ausflug zur Scheune schien ihm ungefährlich.
Er ging zum Scheunentor und schob es auf.
Kein Geräusch war zu hören.
Ein Lichtschein im Augenwinkel ließ ihn stehen bleiben. Es kam von den Leuchttürmen, die Scheune verdeckte zwar den Nordturm, aber der Südturm sendete sein rotes Licht über den Hof.
Joakim betrat die Scheune, der Wind drückte gegen seinen Rücken, als wolle er ihm folgen. Mit großer Mühe schob er das Tor hinter sich zu und schaltete das Licht an.
Die Glühlampen hingen wie schwache gelbe Sonnen in dem weiten schwarzen Raum. Sie reichten nicht aus, um die dunklen Schatten vor den Steinmauern zu verscheuchen.
Durch das Dach war das Heulen des Windes zu hören, aber die Balken bewegten sich nicht. Dieses Gebäude hatte schon so viele Stürme überstanden.
Auf dem Heuboden war die Wand mit Katrines Namen und denen der vielen anderen Toten. Aber auch an diesem Abend stieg er nicht die Leiter hinauf, sondern ging an den Futtertrögen vorbei, an denen das Vieh jeden Winter gestanden hatte.
Joakim ließ sich auf die Knie sinken und legte sich auf den Bauch. Dann schob er sich vorsichtig durch die schmale Öffnung unter den Holzbrettern der Wand. In der einen Hand die Taschenlampe, in der anderen Katrines Geschenk.
Hinter der falschen Wand richtete er sich auf und schaltete die Taschenlampe ein. Ihr Lichtstrahl war ziemlich schwach, und sie würde bald neue Batterien benötigen, aber immerhin konnte er die Sprossen der Leiter erkennen, die hinauf in die Dunkelheit führte.
Es war kein Laut zu hören.
Jetzt stand er vor der Entscheidung, stehen zu bleiben oder zu klettern. Er zögerte. Einen Augenblick lang durchschoss ihn der Gedanke, dass ein Sturm aufzog und Livia und Gabriel allein im Haus waren.
Dann hob er seinen rechten Fuß und stellte den Stiefel auf die unterste Sprosse der Leiter.
Joakims Mund war trocken, und sein Herz schlug ihm bis zum Hals, aber seine erwartungsvolle Vorfreude war größer als seine Angst. Mit jeder Sprosse kam er der schwarzen Luke näher. Er wollte an keinem anderen Ort der Welt sein.
Katrine war in der Nähe, das spürte er.