Kapitel 11
Es war früh am Morgen. Feiner Regen schwebte wie Staub in der Luft, legte sich auf die Blätter, sammelte sich dort und fiel hier und da in dicken Tropfen von den Bäumen. Der Wald roch frisch und kräftig. Unter den Baumkronen war es noch sehr dunkel, weil sich die Wolkendecke an keiner Stelle öffnen wollte. Die Sonne hatte nicht genug Kraft, um durchzudringen, und dadurch schien der gesamte Wald noch zu schlafen. Nur ab und zu hörte man einen Vogel zwitschern, aber nie sehr lang. Es war ungewöhnlich still an diesem Morgen. Umso deutlicher waren die Schritte des Hirsches zu hören, der aus dem Unterholz heraus eine Lichtung betrat. Immer wieder blickte er wachsam auf und horchte in alle Richtungen. Da fiel der Schuss. Ein ohrenbetäubendes Krachen zerriss die Luft, und das Echo schien kilometerweit durch den Wald widerzuhallen. Die Hinterläufe des Hirsches brachen ein. Er röchelte und kämpfte noch einige Augenblicke darum, nicht niederzugehen, weil er wusste, dass das seinen Tod bedeuten würde. Doch die Kräfte verließen seinen Körper, und er fiel auf den aufgeweichten Boden. Seine Beine zuckten. Mit weit geöffneten Augen tat er seine letzten Atemzüge. Dann starb er.
Am östlichen Rand der Lichtung lagen Grabowski und Schmidt hinter der Wurzel eines umgefallenen Baumes auf der Lauer. Aus dem Lauf von Grabowskis Gewehr stieg eine feine Rauchfahne empor. Gehorsam, aber ungeduldig saßen ihre beiden Weimaraner neben ihnen. Sie jaulten und stierten mit ihren leuchtenden, bernsteinfarbenen Augen auf das getötete Tier.
Schmidt und Grabowski waren alte Freunde, die sich während des Studiums kennengelernt und schnell ihre Vorliebe für das Fischen und Jagen geteilt hatten. Zwischen ihnen gab es immer so etwas wie einen Wettstreit, auch wenn sie es nie zugegeben hätten. Wer fing den größeren Fisch, wer schoss den kapitalsten Zwölfender, wer konnte die Spuren am besten lesen? Alleine ging keiner von beiden auf die Jagd. Wenn der andere im Urlaub oder krank war, wartete man eben, bis er wieder zurück oder genesen war. Sie mussten die Jagd zusammen erlebt haben und hinterher darüber erzählen, streiten und fachsimpeln.
»Guter Schuss! Für dein Alter«, sagte Schmidt. Grabowski lächelte, weil er so etwas erwartet hatte. Schmidt zog ihn immer mit seinem Alter auf, obwohl der mit 53 nur zwei Jahre jünger war als Grabowski. Sie gaben ihren Hunden das Kommando. Die Tiere stürmten drauflos und hatten nur wenige Sekunden später den Hirsch erreicht. Die beiden Jäger liefen hinterher. Ihre Stiefel versanken tief im Matsch. Ihre Hunde kreisten aufgeregt um den Kadaver herum, schnüffelten, jaulten, ließen aber rasch von ihm ab und liefen dann scheinbar einer anderen Fährte hinterher. Kreuz und quer über die Lichtung. Sie waren fast außer sich. Die Hunde drückten ihre Schnauzen in die feuchte Erde und buddelten kurz, aber nur um gleich wieder weiterzulaufen und dasselbe an anderer Stelle zu wiederholen.
»Was ist denn mit denen los?«, fragte Schmidt.
»Vielleicht ein Fuchsbau«, vermutete Grabowski. Die Weimaraner gruben nun gemeinsam an einer Stelle.
»Ich glaub, sie haben ihn!«, sagte Grabowski leise und nahm sein Gewehr wieder in Anschlag. Schmidt tat es ihm gleich, und sie gingen vorsichtig auf die Stelle zu. Ein Bau oder eine Höhle war nicht zu erkennen. Doch es lag etwas in der schwarzen Erde. Sie gingen näher und zerrten ihre Hunde an den Halsbändern zurück. Fast gleichzeitig erkannten sie den Arm und schreckten derart heftig zurück, dass sie rücklings in den Dreck fielen. Die Hunde hatten einen menschlichen Arm ausgegraben. Die weiße Haut leuchtete im schwarzen Morast. Und an einem Finger konnte man sogar einen Ring erkennen. Es war eine Frauenhand, und ihr restlicher Körper musste unter ihnen begraben liegen.
Schröders Wecker zeigte 7 Uhr 03 an, als das Telefon klingelte und ihn aus seltsamen Träumen riss.
»Schröder?«
»Hallo, hier ist Bernd!«
Schröder verstand nicht, was Wegener um diese Zeit von ihm wollen konnte, dass er überhaupt noch etwas von ihm wollen konnte.
»Was ist los?«
»Wir müssen reden. Kann ich dich gleich abholen?«
»Ich bin in fünf Minuten fertig!«
»Gut. Bis gleich!«
Wegener legte auf. Schröder sah eigentlich nur einen Grund für diesen Anruf. Sie mussten Annette Krügers Leiche gefunden haben, und irgendwie musste sich herausgestellt haben, dass Mike nicht der Täter sein konnte.
Schröder stand vorsichtig auf, um seinen Rücken zu schonen, sagte seinem Vater Bescheid und verließ dann leise die Wohnung. Unten auf der Straße musste er nicht lange warten, bis er Wegeners Wagen kommen sah. Er stieg zu ihm ein und schloss die Tür. Wegener sagte nichts, sah ihn nicht an, setzte einfach nur den Blinker und fuhr los. Schröder musste eine Weile warten, bis Wegener zu sprechen begann.
»Ich brauche deine Hilfe. Wir haben da etwas entdeckt, das du dir ansehen musst.«
»Warum ich?«
»Weil du wahrscheinlich recht hattest.«, sagte Wegener und sah zu ihm herüber. Schröder erkannte eine unendliche Besorgnis in seinen Augen.
Nach zwanzig Minuten Fahrt erreichten sie einen Waldweg, in den Wegener einbog und ihm ein paar hundert Meter folgte, bis mehrere Polizeiautos in Sicht kamen. Auf der rechten Seite des Weges führte ein kleiner Wassergraben entlang, über den an dieser Stelle zwei dicke Stahlplatten gelegt worden waren. Wegener parkte hinter dem letzten Auto, und sie stiegen aus. Schröder erkannte Reifenspuren von Baggern, die über die provisorische Brücke in den Wald hinein verliefen. Ohne ein Wort zu sagen, folgte Schröder Wegener in den Wald.
Als sie die Lichtung erreichten, waren dort drei kleinere Bagger und über vierzig Polizisten mit Spaten und Suchhunden im Einsatz. Schröders Kehle schien auf einmal zuzuschwellen. Er bekam kaum noch Luft. Angst staute sich in ihm auf, Angst vor dem, was er gleich sehen würde. Er war nur noch Augenblicke, nur noch ein paar Schritte davon entfernt, dem ins Auge zu blicken, was ihn sein ganzes Leben verfolgen würde. Sein Leben und das vieler anderer Menschen auch, änderte sich genau jetzt und hier auf dieser Lichtung. Und das nicht zum Guten. Das Böse hielt Einzug in dieser Welt, in dieser Stadt, in Schröders Leben. Das Böse selbst, denn etwas Vergleichbares hatte es nicht gegeben. Hier begann es. Hier war der Ursprung. Ab jetzt würde nichts mehr so sein wie vorher.
Sieben Gräber waren bereits ausgehoben. Schwarze Leichensäcke lagen neben ihnen. Unter der Anweisung eines Polizisten hob ein Bagger gerade ein weiteres Loch aus, und als er die Schaufel in die Höhe hob, zerbröckelte die feuchte, dunkle Erde und eine halb verweste Leiche wurde sichtbar.
»Großer Gott!«, entfuhr es Schröder.
»Was tut ihr hier eigentlich?«, schrie er Wegener an.
»Das ist ein Riesenareal, wie sollen wir denn …«
»Doch nicht so! Ihr zerstört alle Beweise! Und das, das ist pietätlos!« Er deutete auf die exhumierte Leiche. Wegener gab dem Polizisten ein Zeichen, den Motor abzustellen.
Schröder konnte nicht begreifen, was hier geschah. Vor ein paar Minuten hatte er noch zu Hause im Bett gelegen, hatte sich gesorgt, wie sein Vater das Frühstück ohne ihn zubereiten sollte, und jetzt stand er hier auf dieser Lichtung, in einer völlig anderen Welt. Das hier konnte nicht real sein. Bagger hoben Leichen aus der Erde. Spürhunde schlugen ununterbrochen an. Polizisten wendeten sich ab, brachen zusammen, weinten, übergaben sich.
»Sieben Leichen haben wir bis jetzt gefunden. Keiner weiß, wie viele noch da liegen«, sagte Wegener. Schröder hätte gern etwas gefragt, hätte gern etwas erwidert, doch er konnte jetzt einfach nicht sprechen. Fassungslos blickte er auf diesen Rummelplatz des Schreckens, während Wegener sich abwandte, eine Hand auf seine Schulter legte und ihm einen Satz ins Ohr sagte. Dieser Satz, der nicht nur ein Zugeständnis war, sondern auch eine Entschuldigung.
»Du kriegst deine Soko!«
Kapitel 12
»Komm, wir gehen«, sagte Schröder zu Mike. Der Junge hatte auf seiner Pritsche gesessen und die Wand angestarrt. Nachdem er aus einem tiefen Schlaf erwacht war und sich hier in der Zelle wiedergefunden hatte, erinnerte er sich nur verschwommen an die Nacht im Verhörraum und dass er am Rande der Erschöpfung eine Tat gestanden hatte, die er nicht begangen hatte.
Schreiend hatte Mike gegen die Zellentür geschlagen, gerufen, dass er es nicht gewesen war, dass er Annette nicht umgebracht hatte, aber nichts war passiert. Niemand hatte die Tür aufgeschlossen, niemand hatte mit ihm gesprochen, ja, es schien ihn nicht einmal jemand gehört zu haben. Seine Hände schmerzten, sein Kopf auch.
Schröder in der Tür zu sehen, war gut. Er hätte sich keinen anderen gewünscht, nicht mal seine Eltern, weil er wusste, dass nur Schröder ihm helfen konnte. Er hatte ihm geglaubt und für ihn gekämpft. Und jetzt holte er ihn hier raus. Der Albtraum war vorbei. Was ihn persönlich anbetraf, hatte Mike recht. Er war frei und konnte wieder nach Hause gehen. Doch der wahre Albtraum begann erst jetzt.
Schröder fuhr Mike nach Hause. Mike war immer noch so erschöpft, dass er kein Wort sprach, auch wenn er sich gern bei dem Kommissar bedankt hätte.
»Du musst das nicht auf sich beruhen lassen.«, sagte Schröder irgendwann. Mike sah ihn verständnislos an.
»Die haben dich zu einer Falschaussage genötigt. Das war ein Geständnis unter Folter. Du solltest mit deinen Eltern einen Anwalt aufsuchen.« Wahrscheinlich würde er das auch tun, doch im Moment fühlte Mike sich einfach nur leer. Er konnte nichts mehr fühlen, auch keine Wut. Aber die würde noch kommen. Bis dahin würde er sich diese eine Frage immer und immer wieder stellen, und er stellte sie jetzt Schröder. Er würde sie ihm ehrlich beantworten.
»Was ist nur mit ihr passiert?«
Schröder vertrat die Meinung, dass die Angehörigen ein Recht darauf hatten, alle Informationen über die Tatumstände und den Stand der Ermittlungen zu erhalten. Nur in ganz seltenen Fällen hatte er Dinge verheimlicht oder abgemildert. Er wusste, dass Mike früher oder später davon erfahren würde, aber er konnte ihm einfach nicht sagen, was sie heute morgen entdeckt hatten. Nicht jetzt. Schröder zuckte nur mit den Schultern und zwang sich dazu, aufmunternd zu lächeln.
Schröder hatte darum gebeten, dass er Mike nach Hause bringen durfte, und Wegener war sehr erleichtert darüber gewesen. Er wollte diesem Jungen nie wieder begegnen. Zuerst war Mike seine Rettung gewesen, dachte er. Doch nachdem sich die Fakten so grausam gewandelt hatten, konnte der Junge ihm sogar gefährlich werden. Das erzwungene Geständnis würde zum Politikum werden, das ihn seinen Job kosten konnte. Aber daran wollte und konnte er jetzt nicht denken.
Im Revier lief eine riesige Maschinerie an. Unter strengen Geheimhaltungsauflagen wurden Experten kontaktiert, um eine Soko für diesen Fall zusammenzustellen. Das Archiv des Reviers wurde kurzerhand zu einer Einsatzzentrale umgebaut. Alles musste unglaublich schnell passieren. Inzwischen glaubte jeder im Revier, dass es ein nächstes Opfer geben würde. Der Countdown hatte begonnen, und nur der Mörder wusste, wie schnell heruntergezählt wurde.
Wegener hatte ein erstes Treffen für 15 Uhr anberaumt. Schröder war anschließend in die Kriminaltechnik und in die Gerichtsmedizin gefahren, um über alle neuen Erkenntnisse genauestens Bescheid zu wissen. Er hatte sich bereits eine Strategie zurechtgelegt, wie er den Fall angehen wollte. Er war neugierig auf die Experten und konnte es kaum erwarten, endlich gemeinsam mit ihnen an die Arbeit zu gehen.
Um kurz vor drei war er in der Einsatzzentrale, in der noch die letzten Aktenschränke entfernt wurden. Tische und Stühle wurden hineingetragen, und die ersten Beamten tauchten auf. Schröder setzte sich in die erste Reihe ganz nach außen, sodass er sich einen Überblick über die Personen verschaffen konnte. Trostmann und Keller waren auch da. Am liebsten hätte er auf sie verzichtet, doch es wurde jeder Mann gebraucht. Es stand ihnen eine Unmenge an Arbeit bevor. Wegener trat ein, schloss die Tür und stellte sich vor die versammelte Mannschaft.
»So, herzlich willkommen an alle! Mein Name ist Wegener. Ich bin der Chef der Abteilung und freue mich, dass Sie alle so schnell meiner Anfrage gefolgt sind, um uns bei diesem Fall zu unterstützen! Heute früh haben wir im nördlichen Teutoburger Wald, nordöstlich von Osnabrück, siebzehn Leichen gefunden.«
Ein Raunen ging durch den Raum. Mit einer solchen Anzahl hatte hier niemand gerechnet.
»Einen derartigen Fall hat es in Osnabrück und in Deutschland meines Wissens noch nicht gegeben. Ich bin froh, dass Spezialisten aus Hannover, Braunschweig, Hamburg und Berlin den Weg zu uns gefunden haben. Des Weiteren stehen wir auch per Internet und Telefon mit anderen Forensikern und Kriminologen in Kontakt.
Dieser Raum hier, der eigentlich das Archiv ist, wird unsere Einsatzzentrale werden. Gegen 18 Uhr heute Abend wird der Raum fertig eingerichtet sein mit Computern, Monitoren und allem, was wir brauchen werden. Sie müssen dieses kleine Chaos hier entschuldigen, aber unsere Kapazitäten sind doch sehr beschränkt.
Unsere Arbeit wird sich in den nächsten Tagen zunächst einmal auf die Identifizierung der Leichen konzentrieren. Ich habe bereits kleinere Teams eingeteilt, und wenn Sie noch Fragen haben, was die Koordination betrifft, wenden Sie sich bitte an mich!«
Schröders Wut auf Wegener kehrte zurück. Er tat schon wieder Dinge, die eigentlich in Schröders Zuständigkeit lagen. Aber er würde sich nicht das Heft aus der Hand nehmen lassen. Das hier war seine Soko. Und er hatte bereits einen Plan.
»Für alles Weitere möchte ich Ihnen nun die Leitung dieser ›Soko 17‹ vorstellen!«
Es war gut, dass Wegener jetzt endlich an ihn abgab. Noch mehr hätte er sich auch nicht angehört. Schröder stand langsam auf und drehte sich zu dem Team um. Da hörte er Wegeners Stimme in seinem Rücken.
»Frau Elin Nowak von der Kripo Hamburg!«
Schröder sah, wie eine junge Frau, die hinten links gesessen hatte, aufstand und nach vorne kam. Sein Kopf schnellte zu Wegener herum. Der spürte seinen fassungslosen Blick, versuchte ihn aber zu ignorieren. Schröder konnte nicht glauben, dass Wegener ihn derart eiskalt abservierte.
»Frau Nowak ist Kriminalpsychologin und als Profiler im gesamten Bundesgebiet im Dauereinsatz, kann man sagen. Sie hat sehr viel Erfahrung mit Serienverbrechen gesammelt und ist die erste Wahl für diese Soko gewesen.«
Schröder setzte sich und durchbohrte Wegener mit seinen Blicken. Elin Nowak machte einen Schritt nach vorn. Ihre dunklen Augen stachen aus ihrem blassen Gesicht hervor. Sie waren zu dunkel für ihre blonden Haare, dachte Schröder. Sie hatte eine angenehme Ausstrahlung, auch wenn sie unterschwellig verschlossen und ein wenig abweisend wirkte. Elin erhob ihre Stimme.
»Vielen Dank! Guten Tag! Ich will nicht lange Reden schwingen, dazu haben wir keine Zeit. Wir werden in den nächsten Tagen und Wochen eine Flut an Informationen verarbeiten müssen. Daher schlage ich vor, dass wir den Dienst hier um 6 Uhr in der Zentrale beginnen. Jeden Tag um 9 Uhr möchte ich ein Meeting ansetzen, in dem jedes Team seine Ergebnisse vorlegt. Machen Sie sich in den nächsten Wochen darauf gefasst, dass es so gut wie keinen Feierabend geben wird. Privat- und Familienleben wird für Sie nicht mehr existieren. Die Soko wird einem erheblichen Druck seitens der Öffentlichkeit ausgesetzt sein. Die Presse wird unser ständiger Begleiter sein. Und dazu möchte ich zum Schluss noch etwas sagen. Alles, was an die Presse weitergegeben wird, läuft über mich! Niemand außer mir gibt irgendwelche Informationen an die Presse weiter! Ich hoffe auf eine gute Zusammenarbeit! Danke!«
Wegener teilte die Teams ein und setzte das nächste Treffen auf 19 Uhr an, dann verließen alle den Raum, bis nur noch er und Schröder übrig waren. Schröder wartete auf eine Erklärung.
»Ich weiß, was du jetzt sagen willst. Aber das hier ist eine Nummer zu groß für uns. Wir brauchen Spezialisten für diese Sache.«
»Herrgott, Bernd, aber doch keinen Teenager! Wie alt ist sie?«, fragte Schröder und stand auf.
»Ich bin 28.«, sagte Elin Nowak, die noch einmal in den Raum zurückgekommen war und nun im Türrahmen stand.
»Sie sind sicher Oberkommissar Schröder! Ich habe schon von Ihnen gehört!«
»Komisch, ich von Ihnen nicht!«
»Haben Sie ein Problem mit meinem Alter? Oder glauben Sie, dass ich als Frau nicht qualifiziert genug bin?«
Schröder antwortete ihr nicht. Er musterte die angriffslustige junge Frau und machte sich ein erstes Bild von ihr. Sie kam näher auf ihn zu.
»Ich habe Psychologie studiert. Ich war auf der Polizeischule und habe eine Ausbildung beim FBI in Langley absolviert.«
»Schröder, sie hat überall exzellente Abschlüsse gemacht. Sie war Klassenbeste an der Uni und auf der Akademie. Sie ist die Richtige für diese Aufgabe!«, insistierte Wegener.
»Ich bin jetzt siebzehn Jahre bei der Polizei, Frau Nowak. Wie alt waren Sie vor siebzehn Jahren?«, fragte Schröder, und er sah, dass Elin die Antwort peinlich war.
»Sie waren elf! Wissen Sie, es geht hier nicht um Zahlen auf einem Zeugnis! Wir haben es hier mit Menschen zu tun! Mit guten und mit bösen. Meistens mit bösen. Sehr bösen Menschen. Da hat ein kleines Mädchen wie Sie nichts zu suchen!«
Schröder ging an ihr vorbei auf den Ausgang zu.
»Wo willst du hin?«, rief Wegener ihm hinterher.
»Was soll ich noch hier! Du hast mich abgesägt!«
»Falsch! Ihr seid ein Team!«
Schröder blickte zu Elin. Sie war nicht überrascht, also hatte sie das auch schon vor ihm gewusst. Hier passierte alles hinter seinem Rücken. Man ließ ihn außen vor, bis man irgendwann wieder seine Hilfe brauchte und er die Drecksarbeit erledigen durfte. Und jetzt hatte Wegener ihn auch noch diesem Teenager unterstellt. Das Maß an Respektlosigkeit war übervoll. Er drehte sich um und ging. Wegener entschuldigte sich sofort bei Elin für Schröders Verhalten.
»Keine Angst, er wird sich schon an mich gewöhnen.«, sagte sie fast fröhlich und folgte ihm.
Schröder hatte sich gerade in seinen Wagen gesetzt und den Zündschlüssel ins Schloss gesteckt, als die Beifahrertür aufgerissen wurde und Elin zu ihm einstieg. Sie stellte ihre Tasche auf den Rücksitz und sah ihn selbstbewusst an.
»Ich würde gern den Fundort sehen.«
»Sehe ich vielleicht aus wie ein Taxifahrer?« Elin gab darauf keine Antwort. Sie lächelte zuversichtlich gegen Schröders Stolz an. Schröder wollte nicht schmollen wie ein kleines Kind. Sich ihrem Willen beugen wollte er aber ebenso wenig. Doch es half nichts, sie musste den Fundort begutachten. Schröder verfluchte Wegener, als er den Wagen startete und losfuhr. Elin beobachtete ihn eindringlich, während er versuchte, nur auf die Straße zu blicken.
»Sie gehen komisch! Haben Sie eine Verletzung? So wie Sie humpeln, tippe ich auf Hüfte oder Ischias.«, sagte Elin.
Statt zu antworten, schaltete Schröder das Radio ein und drehte es demonstrativ laut auf.
»Verstehe! Mögen Sie Musik? Welche Musik mögen Sie? Lassen Sie mich raten! Sie sind ein ruhiger, introvertierter Typ. Stille Wasser sind tief, also mögen Sie auch etwas mit Tiefgang. Aber Klassik ist nichts für Sie. Ich würde sagen, in Anbetracht Ihres Alters, entweder Bob Dylan oder vielleicht Billy Joel! Billy Joel, stimmt’s?«, fragte sie und freute sich auf die Antwort.
»Ich hasse Billy Joel! Analysieren Sie besser den Täter!«
»Keine Angst, das werde ich! Und nennen Sie mich nie wieder kleines Mädchen!«
Kapitel 13
Der Regen war stärker geworden. Von Osten her blies jetzt ein kühler, böiger Wind. Es war kaum wärmer als an einem Tag im Oktober. Das Wetter spielte verrückt. Und keiner konnte sich erklären, warum. Dieser Sommer würde als einer der schlechtesten in die Geschichte des Osnabrücker Landes eingehen. Und als der grausamste.
Schröder und Elin standen auf der Lichtung. Jedes der siebzehn Gräber war mit Absperrband umzäunt, das lautstark im Wind flatterte. Elin machte Fotos. Schröder suchte nach weiteren Spuren im Morast.
»Haben Sie Abdrücke gefunden, bevor die Bagger hier alles zerstört haben?«, fragte Elin. Sie musste laut sprechen, damit Schröder sie verstehen konnte.
»Nein, leider nicht.«
»Warum haben Sie das nicht veranlasst?«, fragte sie und schützte ihre Augen mit einer Hand vor dem Regen.
»Ich war zu der Zeit beurlaubt.«
Das hatte Elin nicht gewusst. Auch sie merkte, dass Wegener nur ganz bestimmte Informationen weitergab.
»Darf ich fragen, warum?«
»Dürfen Sie nicht.«
Elin kam auf Schröder zugewatet und stellte sich dicht neben ihn.
»Hören Sie, wir müssen eine Zeit lang miteinander auskommen. Auf Dauer halte ich so eine Spannung zwischen uns nicht aus. Kommen Sie mir wenigstens ein bisschen entgegen. Ich bin Elin, wie heißen Sie?«
Elin streckte ihm die Hand hin, doch Schröder machte keine Anstalten, einzuschlagen.
»Schröder!«
»Ich weiß, ich will Ihren Vornamen wissen!«
»Schröder!«
Elin bedrängte ihn zu sehr, sie kam ihm einfach zu nahe. Schröder konnte das nicht ertragen, stand auf und ging ein Stück in den Wald hinein. Nach ein paar Schritten drehte er sich vorsichtig um, um zu sehen, wie sie auf seine Abfuhr reagierte. Vielleicht tat es ihm sogar ein wenig leid, so schroff gewesen zu sein, aber nur für den Bruchteil einer Sekunde. Elin schoss weiter ihre Fotos. Und so richtete Schröder seinen Fokus wieder auf den Wald. Er suchte nach abgebrochenen Zweigen, Stoffresten, verlorenen Gegenständen, irgendetwas, das ihm zeigte, dass jemand hier gewesen war. Siebzehn Mal. Siebzehn Mal hatte jemand eine Leiche an diese Stelle geschleppt. Er musste Spuren hinterlassen haben. Doch dieser verdammte Regen wusch alles fort.
Ein Stück weiter nördlich zwischen kniehohen Farnen entdeckte Schröder einen Trampelpfad. Sofort schlug sein Herz schneller. Und vielleicht war der Regen jetzt doch auf seiner Seite. Er folgte dem Weg weiter in den Wald hinein und fand schließlich, wonach er gesucht hatte. An einer Stelle war der Weg aufgeweicht. Ein abgebrochener Ast, der von den Herbststürmen im letzten Jahr herrührte, lag im Unterholz. Er hatte eine Lücke in der Baumkrone hinterlassen, durch die der Regen ungehindert fallen konnte, und eine Pfütze hatte sich gebildet. Schröder hockte sich hin, drückte die Farne beiseite und sah etwas, dass ihn schlucken ließ. Dort waren zwei Fußabdrücke in der Erde. Sie überlappten sich und waren schlecht zu erkennen, aber sie waren da. Er hatte es gefunden. Das, was er brauchte, das, was ihn dem Täter näherbrachte. Er spürte es förmlich. Gerade wollte er nach Elin rufen, als er seinen Namen durch das Dickicht schallen hörte. Es war Elin, die nach ihm rief, und ihre Stimme klang so, als hätte auch sie etwas Wichtiges entdeckt.
Schröder lief zurück auf die Lichtung. Elin suchte in allen Richtungen nach ihm und rief immer wieder seinen Namen. Hastig humpelte er über den unwegsamen Boden. An einer Stelle vertrat er sich, und sein Bein setzte so unglücklich auf, dass der Schmerz in seinen Rücken schoss und er kurz aufschrie. Elin entging das nicht.
»Also doch der Ischias!«, sagte sie triumphierend.
»Was ist los, verdammt? Was schreien Sie so herum?«
»Sehen Sie sich um! Fällt Ihnen was auf?«
Schröder kniff die Augen zusammen, um im Regen besser sehen zu können. Er drehte sich einmal um seine eigene Achse.
»Hat das eine Struktur?«, fragte Elin.
Schröder sah noch mal hin und nahm sich Zeit.
»Das könnten Kreise sein!«, sagte er.
»Das finde ich auch!«
Es dauerte zwei Stunden, bis sie einen Hubschrauber organisiert hatten und einen Piloten, der bereit war, bei dem Wetter zu starten. Dort unten, inmitten der abgesperrten Löcher, hatte man etwas erahnen können, eine Form vielleicht, etwas, das darauf schließen ließ, dass die Löcher nicht wahllos ausgehoben worden waren. Sie mussten sich einen Überblick von oben verschaffen.
Elin saß mit ihrer Kamera in den Händen am Fenster. Ihr Blick war fest auf die grüne Baumdecke geheftet, die unter ihnen vorbeiglitt. Schröder war ganz in Gedanken. Er stellte sich einen Mann vor, der mit einer Leiche über der Schulter über den Trampelpfad ging. Dieser Mann hatte kein Gesicht. Er trug einen schwarzen Regenmantel und einen schwarzen Hut. Ein Totengräber, der die Leiche auf der Lichtung ablegte und einen blitzenden Spaten hervorholte, mit dem er das Loch auszuheben begann. Aber nicht bevor er sich umgesehen und nach irgendeinem System genau diese Stelle auf der Lichtung ausgesucht hatte.
Unter ihnen riss plötzlich der Wald auf, und die Lichtung wurde sichtbar. Das rotweiße Absperrband leuchtete auf dem Grün und Schwarz des Waldbodens. Der Pilot flog eine Kehre und drosselte die Geschwindigkeit. Jetzt stand der Hubschrauber genau über der Grabstelle. Der Wind der Rotorblätter riss einige Bänder ab und ließ sie haltlos herumwehen. Schröder und Elin blickten nach unten. Die Anordnung der Gräber hatte tatsächlich eine Struktur. Sie bildeten eine Zahl. Es war eine Acht.