Kapitel 35
Schröder kam aus dem Kraftraum. Er musste einen Moment stehen bleiben und sich sammeln, nur mal kurz Luft holen. Sein Herz raste. Seine Augen brannten. Ein Tropfen fiel ihm auf die Stirn. Schröder sah nach oben. An der Decke verlief ein kleines Rinnsal wie eine feine gläserne Ader. Wieder fiel ein Tropfen. Das Rinnsal schien aus dem Kraftraum zu kommen. Schröder folgte der Wasserader an der Decke und betrat erneut den Raum, in dem er Petri beinahe erschossen hätte. Zu seiner Überraschung war es stockfinster hier. Alle Geräte waren verschwunden, der Raum war bis auf ein Objekt völlig leer. In der Mitte stand ein riesiges, beleuchtetes Aquarium. Eine Frau schwamm regungslos mit dem Rücken zu Schröder im Wasser. Schröder ging näher. Er hörte ein pulsierendes Rauschen in seinen Ohren. Es war sein Blut. Er hörte sein Blut, wie es durch seine Adern gepumpt wurde. Die Haut der Frau schimmerte wie Eis in dem Wasser. Sie war nackt. Schröder ging links um das Aquarium herum. Die Arme der Frau schwebten in der Flüssigkeit, als klammere sie sich an etwas Unsichtbarem fest. Etwas, das sie retten sollte. Schröder sah nun ihre Nasenspitze, ihre Wangenknochen, die Lippen und schließlich ihre Augen. Es war Elin. Sie trug die Perücke, die sie für das Foto gekauft hatte.
Schröder erwachte. Er saß in seinem Auto auf der Straße vor seiner Wohnung. Er musste die ganze Nacht hier verbracht haben. Sein Rücken schmerzte wieder. Der Schmerz zog bis ins Bein und unter die Fußsohle. Schröder rieb sich das Gesicht und sah auf die Uhr. Es war zu spät für eine Dusche oder ein Frühstück. Er fuhr ins Hotel, um Elin abzuholen.
Sie hatten Brender informiert, dass sie seine Exfrau hier in der Stadt ausfindig gemacht hatten und dass sie jede Aussage verweigerte. Ohne lange zu überlegen, hatte Brender darum gebeten, mit ihr sprechen zu dürfen.
Schröder hielt vor dem Haus. Er drehte sich zu Brender um, der hinten saß und ängstlich und entschlossen zugleich zum Eingang des Hauses blickte.
»Ich will nur, dass Sie sich keine falschen Hoffnungen machen!«, sagte Schröder.
»Wir werden sehen!«, sagte Brender und öffnete seine Tür. Sie gingen die Eingangsstufen hinauf und Schröder klingelte. Niemand öffnete ihnen. Schröder klingelte ein zweites Mal, und sie mussten lange warten, bis Herr Traber die Tür endlich aufschloss. Er war schneeweiß im Gesicht, nur seine Augen lagen tief in schwarz geränderten Augenhöhlen. Sogar seine Lippen waren weiß.
»Herr Traber, ist alles in Ordnung?«, fragte Schröder erschrocken.
»Soll ich die Polizei rufen?«, fragte Traber verstört und blickte sie verloren an.
Schröder schob ihn beiseite, zog seine Waffe und ging ins Haus hinein. Elin, Traber und Brender folgten ihm.
»Alles in Ordnung, Herr Traber. Sagen Sie uns, was passiert ist!«, sagte Elin und legte eine Hand auf Trabers Schulter.
»Frau Brender?«, rief Schröder in die obere Etage. Doch es kam keine Antwort. Schröder ging weiter und entdeckte die offenstehende Kellertür. Das Licht auf der Treppe brannte.
»Frau Brender?«, rief er hinunter.
Es blieb still.
Schröder stieg die Stufen hinab. Im Keller fand er drei Türen. Eine führte in den Heizungskeller, eine andere in den Waschkeller. Die dritte Tür stand offen und war von innen mit Styropor verkleidet. Rotes Licht fiel auf die Bodenfliesen. Schröder hob seine Waffe und blickte in den Raum. Hier hingen Lederfesseln und Ketten von der Decke. Hinten rechts stand ein lederner Liegestuhl, der mit Fesseln versehen war. Lackkostüme und Masken hingen an den Wänden. Auf einem Tisch lagen diverse Waffen und Peitschen. In der Mitte des Raumes stand ein schwarzes Holzpodest. Frau Brenders Beine waren daran hängen geblieben. Ihr Oberkörper schwebte in der Luft, gehalten von einer Galgenschlinge um ihren Hals. Sie war tot. Sie hatte sich erhängt. Unter ihr auf dem Boden lag ein weißer Umschlag. Schröder steckte seine Waffe ein und nahm ihn an sich.
Herr Traber hatte einen Schock erlitten und musste im Krankenhaus behandelt werden. Auch bei Brender waren sich Schröder und Elin nicht sicher, ob er nicht unter Schock stand. Doch er hatte nur ein Ziel. Er wollte die Wahrheit erfahren. Er war sich sicher, dass seine Frau die Wahrheit in ihrem Brief geschrieben hatte. Er konnte nicht länger warten. Das Warten hatte hier ein Ende gefunden. Aber die Wahrheit würde vielleicht nicht das sein, was er sich erhoffte. Sie würde keine Erlösung sein.
Frau Brenders Leiche wurde in einen Leichensack gelegt und mit einem Krankenwagen in die Gerichtsmedizin gefahren. Eine Obduktion sollte Aufschluss über ihren Tod geben. Dies war ihre vorletzte Fahrt, bevor der Leichenwagen sie auf den Friedhof brachte. Eine Fahrt, die Folgen haben würde.
Der Krankenwagen hielt in einer kleinen Parkbucht vor dem Eingang der Gerichtsmedizin. Die beiden Fahrer zogen die Liege mit dem schwarzen Leichensack aus dem Wageninnern und schoben ihn durch eine Tür in den weiß gekachelten Gang.
In seinem Büro öffnete Schröder den Brief. Er faltete ihn auseinander.
»Das ist ein sehr langer Brief«, stellte Schröder fest.
»Bitte lesen Sie endlich!«, sagte Brender.
Schröders Hände waren feucht. Er schwitzte, und sein Hals fühlte sich rau und trocken an. Er hustete einmal in seine Faust und begann zu lesen.
Ich schreibe dies in dem Wissen, dass sich jetzt alle auf mich stürzen werden und mich zur Schuldigen erklären wollen. Und ich weiß, dass dies der einzige Weg ist, dem zu entkommen.
Ich hatte immer Angst, meinem Sohn einmal wieder zu begegnen. Ich habe nicht gewusst, dass er mir folgte, aber irgendwie fühlte ich es. Egal, wo ich war, ich habe mich nie sicher gefühlt. Ich lebte in ständiger Angst.
Aber ich habe doch auch ein Recht auf meine Freiheit. Ich habe doch auch eine Berechtigung für mein Dasein. Mein eigener Mann hielt mich für pervers, behandelte mich wie eine Aussätzige. Aber meine Neigungen waren nun mal da. Ich konnte sie nicht unterdrücken. Es war normal für mich. Das ist es immer noch.
Mein Mann ließ mich im Stich damit und verurteilte mich. Ich war allein. Und in unserem Land konnte man nicht in irgendwelche Clubs gehen, geschweige denn Inserate aufgeben oder im Internet nach dem suchen, was man brauchte. Ich war ganz allein. Und Axel war nun mal da. Es hat sich einfach so ergeben.
Ich bin so furchtbar entsetzt über das, was er getan haben soll. Er war immer ein friedlicher und lieber Junge. Er konnte keinem etwas zuleide tun. Und ich habe ihn geliebt. Er war ein so lustiges aufgewecktes Kind.
Jetzt steht plötzlich die Polizei vor meiner Tür und will mich verantwortlich machen für alles. Ich weiß das. Aber es ist doch nicht meine Schuld. Ich weiß, dass mir keiner glauben wird, dass ich für alles herhalten muss. Aber jeder ist doch selbst verantwortlich für das, was er tut. Ich habe doch keinen Mörder großgezogen.
Diese Frauen tun mir so furchtbar leid. Keine Mutter hört auf, ihren Sohn zu lieben, nicht mal dann, wenn er so schreckliche Dinge getan hat. Aber ich will auch helfen.
Die Polizei fragte mich nach Wasser. Warum ihm Wasser so wichtig sei. Es kam öfter vor, dass wir Wasser im Keller hatten. Manchmal auch sehr hoch. Wenn er ungezogen war und ich ihn da unten einsperren musste, dann stand er manchmal bis zur Hüfte im Wasser oder noch tiefer. Wenn es so weit war, ging ich zu ihm rein und holte ihn zu mir. Ich trocknete ihn ab und wärmte ihn dann bei mir.
Ich drohte ihm damit, ihn für immer dort unten einzusperren, wenn er jemals irgendjemandem etwas erzählen sollte. Da war ein Foto, das ich aus einer Zeitschrift gerissen hatte. Ich zeigte es Axel und sagte, dass er genauso enden würde wie der Mann auf dem Foto. Das hat ihn sehr beeindruckt. Er hatte furchtbare Angst vor diesem Foto. Ich hatte es schon fast vergessen, doch als ich damals nach Remscheid zog, fand ich es plötzlich in meinem Briefkasten.
Schröder machte eine Pause. Brender fügte die Puzzleteile in seinem Geiste zu einem schrecklichen Bild zusammen. Jetzt erklärte sich alles. Sie hatte ihren Sohn missbraucht. Die eigene Mutter. Sie hatte seinen Axel zerstört, hatte ihn getötet dort unten. Sein kleiner Junge war ahnungslos in den Keller hinabgestiegen. Und er war für immer dort unten geblieben. Eingesperrt hinter Gittern. Im Wasser auf seine Mutter wartend, die ihn retten sollte. Aber das hatte sie nicht getan. Sie hatte ihn getötet. Langsam getötet. Jedesmal wieder.
Schröder fand das Foto in dem Umschlag. Es war ein Hochglanzfoto und noch gut erhalten. Darauf war ein völlig abgemagerter Mann zu sehen, der in einem in den Boden eingelassenen Kerker gefangen war. Seine knorrige Hand reckte er durch ein Eisengitter zum Himmel. Im Hintergrund war eine alte Fabrik mit einem Schornstein zu sehen.
Schröder reichte Elin das Foto. Sie erkannte sofort, wie die sadistischen Phantasien des Mörders mit seiner Geschichte zusammenhingen. Ein Bild, für immer in die Seele gebrannt. Brender beugte sich vor und nahm Elin das Foto vorsichtig aus der Hand. Ohne ein Geräusch von sich zu geben, rannen ihm die Tränen aus den Augen. Ein nicht enden wollender Fluss. Ein endloses Rinnsal aus stummen Tränen.
Die Männer schoben die Liege durch die Tür zur Leichenhalle und stellten sie neben einen freien Seziertisch. Weise stand am Waschbecken und trocknete sich gerade seine Hände ab. Einer der Männer übergab Weise den Totenschein.
»Ausnahmsweise mal ein Selbstmord, wie’s aussieht!«, sagte er.
Weise las den Schein im Licht der Lampe über dem Tisch durch, während die beiden den Leichensack auf den Seziertisch beförderten. Sie verabschiedeten sich und Weise war nun allein. Er zog sich Latexhandschuhe an und zog den Reißverschluss des schwarzen Plastiksackes auf.
Ein lauter, wimmernder Schrei entfuhr seiner Kehle, als er seine Mutter erkannte.
»Lesen Sie weiter!«, sagte Brender. Schröder nahm die Seiten wieder zur Hand.
Ich wusste, dass nur er das gewesen sein konnte. Sein Vater ahnte ja von all dem nichts.
Seit diesem Tag fühlte ich mich ständig beobachtet. Bis heute. Egal wo ich hinzog, ich konnte dieses Gefühl nicht loswerden. Ich habe Angst vor ihm. Angst, dass er mich eines Tages heimsucht, Angst, dass er sich rächen will. Ich habe Angst, meinem Mann zu begegnen. Angst vor seinen Fragen, Angst vor seinen Augen. Ich bestehe nur noch aus Angst. So habe ich beschlossen, dieser Angst zu entfliehen. Ich hoffe, sie verfolgt mich nicht bis über den Tod hinaus.
Carmen Brender.
Schröder legte den Brief nieder. Minutenlang herrschte Schweigen. Bis Brender die Stille brach.
»Ich will meinen Jungen sehen! Finden Sie ihn, bitte!«