Kapitel 20

Der Helikopter flog durch die Dunkelheit. Schröder und Elin blickten aus ihren Fenstern auf die Lichter der Stadt. Der Pilot ging tiefer und überflog ein Waldgebiet. Eine kreisrunde leuchtende Fläche tauchte vor ihnen auf. Die Polizei hatte die Lichtung mit Scheinwerfern angestrahlt. Deutlich sah man die abgesperrten Gräber, die die Zahl 6 formten. Diesmal waren keine Bagger zu sehen.

Der Pilot landete auf einer Straße, von wo Schröder und Elin mit einem Wagen abgeholt wurden.

Der Beamte führte sie zur Lichtung und geleitete sie zu Kommissar Ludwig.

»Das ging ja schnell!«, sagte er und schüttelte ihnen mit ernster Miene die Hand. Schröder spürte, dass er zitterte.

»Ich bin Kommissar Ludwig. Wir haben vorhin miteinander telefoniert. Das hier ist nicht zu glauben!«

Sie blickten auf die in weißes Licht getauchte Fläche. Es waren mindestens vierzig Polizisten im Einsatz, doch es war totenstill. Als ob jemand den Ton abgeschaltet hätte. Geisterhaft bewegten sich die Männer im gleißenden Licht, unwirklich, wie eine Projektion.

Zwei Männer trugen einen Leichensack an ihnen vorbei.

»Das ist das zwölfte Opfer, das wir gefunden haben!«, sagte Ludwig.

»Dann fehlen noch drei.«, meinte Elin.

»Zwei Pilzsammler haben heute Nachmittag menschliche Knochen hier entdeckt. Wir haben das Gebiet großflächig abgeriegelt, um die Spuren besser sichern zu können.«

»Dieses Grab ist mindestens zehn Jahre alt. Außer an den Leichen selbst finden Sie hier keine Spuren mehr.«, erklärte Elin.

»Wir bräuchten eine Liste von Jägern, Förstern und Tierärzten, die in diesem Bezirk die letzten zwanzig Jahre tätig waren. Ist das möglich?«, fragte Schröder.

»Sicher, aber nicht vor morgen oder übermorgen.«

Schröder blickte in die Finsternis um sie herum. Es war so hell hier, dass man nicht einen Zentimeter weit in den Wald blicken konnte.

»Was ist los?«, fragte Elin.

»Ich hab das Gefühl, er beobachtet uns gerade.«

Schröder machte einen Schritt hinter einen Scheinwerfer und wurde von der Dunkelheit förmlich verschlungen, so als tauche er in eine schwarze Flüssigkeit.

»Ich möchte, dass Sie noch heute Nacht hier Kameras installieren lassen. Sie dürfen nicht zu sehen sein. Wir fliegen wieder zurück. Bis morgen früh haben Sie das Täterprofil auf dem Tisch liegen.«, sagte Elin und gab Ludwig die Hand.

»Ich wünsche Ihnen alles Gute!«

»Das wünsch ich uns allen!«

Elin ging Schröder hinterher. Ihre Augen mussten sich erst an die Dunkelheit um sie herum gewöhnen. Unwillkürlich griff sie zu ihrer Waffe.

»Schröder?«

»Ich bin hier!«, hörte sie ihn sagen. Seine Stimme klang nur ein paar Meter entfernt.

»Kommen Sie, wir gehen!«

Schröder kam näher und stellte sich neben sie. Sie konnte ihn immer noch nicht sehen.

»Was haben Sie da gemacht?«

»Eine gute Idee mit den Kameras!«, sagte er nur.

»Ich weiß, wir kriegen ihn! Wir kommen ihm immer näher!«, sagte Elin.

»Oder er uns!«, sagte Schröder.

Pünktlich um neun Uhr fand das Meeting in der Einsatzzentrale statt. Für Elins Arbeit war dieser Fund das entscheidende Beweisstück. Er belegte ihre Theorie, und sie hatte jetzt genug Fakten gesammelt, um ein Täterprofil zu erstellen. Die ganze Nacht hatte sie daran gearbeitet und wollte es nun der Soko 17 vorstellen. Sie wusste, dass sie bei einigen mit ihren Ausführungen nicht auf Widerstand, aber zumindest auf Unverständnis treffen würde. Ab hier änderte sich alles. Ab hier hatten sie ein Gesicht vor sich und nicht länger ein Phantom. Ab hier würden die Uhren schneller laufen. Die Jagd konnte beginnen.

»Heute ist ein entscheidender Tag für unsere Ermittlungen. Leider hat sich heute bewahrheitet, was wir bereits befürchtet hatten. Unsere Theorie über die Anzahl der Opfer war korrekt. Wir haben es hier mit einem Serienkiller zu tun, der 108 Menschen getötet hat. Das ist eine unfassbare Zahl. Solche Ausmaße hat es in Deutschland noch nie gegeben. Und in der gesamten Kriminalgeschichte gab es wahrscheinlich nur zwei Fälle, bei denen Serientäter mehr Opfer getötet haben. Von nun an wird unsere Ermittlungstaktik einen anderen Kurs einschlagen müssen.

Wir werden die Öffentlichkeit kontrolliert informieren müssen, und wir werden ihre Hilfe brauchen. Wir werden jede Hilfe brauchen, die wir kriegen können.

Ich habe ein Täterprofil entworfen, das ich Ihnen nun vorlegen werde. Es wird uns helfen, den Täterkreis enorm einzuengen, um so gezielter ermitteln zu können.«

Elin nahm einen Schluck Wasser. Sie war nervös und warf Schröder einen Blick zu, als brauche sie Bestätigung von ihm. Und sie meinte, genau das in seinen Augen sehen zu können.

»Wir suchen einen Mann zwischen 45 und 55 Jahren. Er wird in seiner Jugend mit Sicherheit schon einmal polizeilich in Erscheinung getreten sein. Zunächst durch Brandstiftung oder Tierquälerei, später dann vielleicht wegen sexueller Belästigung, Nekrophilie oder Vergewaltigung.

Wir haben es hier mit einem extrem organisierten Täter zu tun. Das bedeutet, dass er sehr wahrscheinlich sogar in einer festen Beziehung oder Ehe lebt und selber Kinder hat. Er wird ein unauffälliger Familienvater sein, der nette Kerl von nebenan. Dieser Mann hat eine akademische Ausbildung genossen und zwar im medizinischen und oder mathematischen Sektor. Durch seine genauen Ortskenntnisse in Waldgebieten und aufgrund der Haaranalyse des Labors denke ich, dass er ein Tierarzt, Jäger oder Förster sein könnte. Er besitzt ein dunkelblaues oder schwarzes Auto, lebt in einem Haus und ist ein Ordnungsfanatiker. Haus und Wagen werden absolut topp gepflegt sein, ebenso wie seine äußere Erscheinung. Das Haus wird einen kubischen Charakter haben und ist fast steril eingerichtet. Alles steht am rechten Fleck, viele rechte Winkel, Designermöbel, kühl und übersichtlich.

Unser Täter ist jemand, der von sich sehr überzeugt ist. Er ist sehr selbstbewusst und prahlt gerne mit seinen Fähigkeiten. Er wird sich zweifellos für einen der Besten seiner Zunft halten.

Seine besondere Beziehung zu Wasser wird sich darin ausdrücken, dass er das Wasser ständig sehen muss. Wasser erinnert ihn an seine Morde, seine Macht. In seinem Haus oder im Garten des Hauses wird sich ein sehr auffälliges Wasserobjekt befinden wie zum Beispiel ein übergroßes Aquarium oder eine Teichanlage. Er muss das Wasser sehen. Nach der Ermittlung der Todeszeitpunkte, ist der Täter vermutlich erst vor zehn Jahren hierher gezogen. Davor wird er sich in Remscheid oder in der Umgebung, sprich Bergisches Land, oder im Ruhrgebiet aufgehalten haben. Wenn das so ist, werden wir hier, aufgrund der großen Bevölkerungsdichte, die meisten Opferzahlen haben. So viel zum Profil des Täters.«

An vielen Gesichtern konnte man ablesen, dass sie nicht die geringste Ahnung davon hatten, wie Elin zu solch präzisen Aussagen in der Lage war. Auch Schröder war sprachlos. Er erinnerte sich an seinen zynischen Scherz bei ihrer ersten Begegnung, dass Elin bestimmt voraussagen könne, wie groß der Mörder war, was für eine Haarfarbe er hatte, ob er Katzen liebte und wo er wohnte. Er hatte damals maßlos übertreiben wollen, doch das hier war verdammt dicht dran. Wenn sie auch nur zu 50 Prozent richtig mit ihren Aussagen lag, war das für den Fall wie eine Offenbarung. Es war, als wären sie wieder da draußen auf der Lichtung, die ins Scheinwerferlicht getaucht war, und Elin hätte einen der Scheinwerfer einfach umgedreht und in die Dunkelheit gerichtet. Der Lichtkegel hatte eine Gestalt erfasst. Jetzt hatte sie Umrisse bekommen, eine Kontur. Jetzt begann sie endlich sichtbar zu werden.

»Ich und Kommissar Schröder werden eine Pressekonferenz abhalten und die Öffentlichkeit über den Fall informieren. Die Theorie über die Anzahl der Opfer werden wir verschweigen, und niemand von Ihnen wird auch nur ansatzweise darüber mit jemandem sprechen! Nicht einmal mit Familienmitgliedern!

Alles, was wir über die identifizierten Mädchen haben, wird veröffentlicht. Wir brauchen Zeugen, auch wenn einige Morde schon Jahre her sind. Für die Bearbeitung dieses Mehraufwands habe ich weitere Beamte angefordert.

Unsere Ermittlungen werden sich jetzt zielgerichtet auf die von mir skizzierte Verdächtigengruppe konzentrieren. Wir werden alle Tierärzte, Jäger und Förster, die in dieser Region tätig sind und waren, unter die Lupe nehmen. Jeder, der allein schon vom Alter her ins Profil passt, wird aufgesucht und vernommen. Was wir dann versuchen werden, ist eine Speichelprobe dieser Männer zu bekommen. Natürlich geht das nur auf freiwilliger Basis. Doch jeder, der sich weigert, macht sich dadurch noch verdächtiger, und wir können eventuell Observierungen anordnen.

Und noch etwas: Osnabrück ist ein kleine Stadt. Alle Gartenbaufirmen und Firmen, die Aquarien verkaufen, werden nach besonderen Anfertigungen befragt. Jeder Händler wird sich erinnern, wenn er ein 50 000-Liter-Becken verkauft hat. Sollten sich zwischen diesen beiden Verdächtigengruppen Schnittmengen ergeben, wird nicht mal mehr eine Hand voll Männer übrig bleiben, die als Täter in Frage kommen. Also, wir sind dicht dran! Jetzt werden noch mehr Überstunden gefahren! Bis wir ihn haben!«

Elin blickte zu Schröder. Er sah ernst aus, aber nicht unwillig oder ungläubig. Und er machte sich nicht lustig über sie. Nein, er war beschäftigt. Das war gut. Das war sehr gut. Sie war überzeugt davon, dass nun alles besser werden würde.