Kapitel 19
Am nächsten Tag ging Schröder ins Krankenhaus, um mit Dr. Voss zu sprechen. Er wollte Elin nicht dabei haben und fand es besser, allein aufzutreten. Ein Einzelner war weniger bedrohlich. Vielleicht konnte er von den Eltern etwas Neues erfahren, falls sie bereit waren, mit ihm zu sprechen. Zuerst ging er auf die Station. Das, wovor er am meisten Angst hatte, war, dass der Killer Marie finden und sie töten könnte. Sie schwebte in äußerster Gefahr. Und er glaubte, dass das ihren Eltern gar nicht bewusst war. Das war gut so. Er würde sich um ihre Sicherheit kümmern. Er würde sie beschützen.
Zwei Beamte, die Schröder vom Sehen her kannte, saßen vor der Tür. Man hatte ihnen Stühle hingestellt. Das war in Ordnung, fand Schröder. Die Schicht war acht Stunden lang.
»Hallo! Irgendwas, das ich wissen müsste?«, fragte Schröder, und die beiden standen pflichtbewusst auf. Seit herausgekommen war, dass Schröder mit seiner Theorie von einem Serienkiller richtiglag, hatte sich das Verhalten seiner Kollegen ihm gegenüber geändert. Er hatte deutlich das Gefühl, dass sie ihm jetzt mit mehr Respekt als zuvor begegneten. Keiner lächelte mehr oder sprach hinter seinem Rücken über ihn.
»Alles ruhig.«, sagte der eine.
»Das Mädchen ist unten im Park, wenn Sie sie sehen wollen«, sagte der andere.
»Allein?«
»Nein, mit ihren Eltern!«
»Sie sollen auf das Mädchen aufpassen, verdammt! Nicht auf das leere Zimmer! Sie bleiben immer bei ihr, verstanden?«, rief Schröder aufgebracht.
»Jawohl!«, sagte der eine und stand stramm wie beim Militär.
»Runter mit euch! Worauf wartet ihr, verdammt?«
Die beiden eilten sofort davon, und Schröder betrat das Zimmer. Er ging direkt zum Fenster, um zu kontrollieren, wo Marie sich befand.
Er schob die Vorhänge beiseite und entdeckte Marie in einem Rollstuhl auf der Wiese. Ihre Eltern saßen neben ihr auf einer Bank.
»Kommissar Schröder?« Dr. Voss stand in der Tür.
»Oh, guten Tag, Dr. Voss!«
Er kam zu Schröder ans Fenster und blickte nach unten.
»Ihre Eltern weichen nicht von ihrer Seite.«
»Gut so!«, sagte Schröder.
»Sie macht kleine Fortschritte. Gestern hat sie etwas Nahrung zu sich genommen. Sprechen tut sie immer noch nicht, falls sie es je wieder tun wird, aber bei ihrem Psychologen öffnet sie sich ein wenig.«
»Wie meinen Sie das?«
»Nun, sie zeichnet. Eine psychotherapeutische Maßnahme, die besonders bei traumatisierten Kindern gut greift. Die Kinder lernen, sich über die Bilder auszudrücken und bauen auf diese Weise Stress ab.«
»Ist es möglich, dass ich mit den Psychologen sprechen kann?«, fragte Schröder.
»Sicher!«
Nach einem kurzen Telefonat hatte Voss Schröder gleich in die Psychologische Abteilung zu Dr. Frambach geschickt. Schröder nahm im Wartezimmer Platz und sah sich um. An den Wänden hingen unzählige Bilder, die wohl von Frambachs kleinen Patienten gemalt worden waren.
Die Tür ging auf, und ein Junge von vielleicht neun Jahren verließ das Behandlungszimmer. Er sah Schröder nicht an. Dr. Frambach folgte dem Jungen.
»Mach’s gut, Steffen! Wir sehen uns morgen um halb vier.«
Frambach wartete, bis der Junge draußen war und wendete sich dann Schröder zu.
»Sie müssen Kommissar Schröder sein.«
»Schön, dass Sie Zeit für mich haben«, sagte Schröder und wollte ins Behandlungszimmer gehen, doch Frambach blieb vor ihm stehen.
»Es macht Ihnen doch nichts aus, wenn wir hierbleiben? Schließlich sind Sie kein Patient«, sagte er. Schröder war etwas irritiert, fügte sich aber. Sie nahmen nebeneinander Platz.
»Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Dr. Voss sagte mir, dass Marie Karmann bei Ihnen Zeichnungen angefertigt hätte. Ich dachte, vielleicht könnten diese Zeichnungen für die Ermittlungen von Bedeutung sein.«
»Das glaube ich eher nicht. Sonst hätte ich mich schon bei der Polizei gemeldet.«
»Dürfte ich die Zeichnungen trotzdem einmal einsehen?«, fragte Schröder und bemühte sich, höflich zu klingen.
»Natürlich. Wenn es Ihnen so wichtig ist!« Frambach ging in das Behandlungszimmer, und Schröder konnte einen kurzen Blick hineinwerfen. Dort stand ein schwerer Schreibtisch mit einem Wildschweinfell an der Wand. Auf dem Boden lag ein Spielteppich, und auf einem kleinen Kindertisch stand eine Kiste mit Spielzeug und Büchern. Frambach kam mit einer Akte zurück und schloss die Tür hinter sich. Er schlug den Ordner auf, blätterte darin und entnahm ihm einen Stapel Zeichnungen, den er Schröder reichte.
»Bitte sehr, Herr Kommissar!«
Schröder ging die Bilder eins nach dem anderen durch. Die ersten drei Bilder waren mit wilden Strichen fast vollständig schwarz gemalt.
»Was bedeutet das?«
»Nun, Sie müssen sich vorstellen, dass es ungefähr so in der Seele des armen Mädchens aussehen muss. Eine beängstigende Dunkelheit, wirr und undurchdringlich! Sie ist gefangen im dunklen Verlies ihrer traumatisierten Seele.«
Schröder zog das nächste Bild hervor. Darauf war ein rotes sich aufbäumendes Pferd zu sehen. Schröder stutzte über diesen krassen Unterschied. Frambach beobachtete ihn und antwortete, noch bevor Schröder die Frage stellen konnte.
»Das ist ein gutes Beispiel für die Funktion des menschlichen Geistes. Dinge, die wir als so schrecklich erachten, dass wir sie nicht aushalten können, werden einfach unterdrückt und weggeschlossen. Verdrängung ist eine Schutzmaßnahme unserer Seele. Das Mädchen kehrt in ihre heile Welt zurück. Das Pferd ist das Symbol dieser heilen Welt. Pferde und Mädchen haben eine fast mystische Beziehung zueinander. Ob in der Literatur, im Film oder in der Malerei: Seit jeher hat man diese Beziehung eingefangen und dargestellt. Das Pferd als Symbol für Stärke, Sicherheit, Liebe, Zuneigung und in der aufkeimenden Sexualität der pubertären Jahre auch ein Symbol für Männlichkeit und sexuelle Potenz.«
Schröder stieß es unangenehm auf, dass Frambach in dieser Weise über Marie sprach. Es war mehr als unangemessen, nachdem sie aus den Fängen eines Mörders und Vergewaltigers entkommen war.
Die restlichen Bilder stellten allesamt Pferde dar. Sieben Zeichnungen von Pferden, die Marie an einem Nachmittag und vielleicht noch heute früh angefertigt hatte. Schröder fand das sehr außergewöhnlich.
»Kann ich diese Zeichnungen haben?«
»Nein, tut mir leid! Aber ich kann meine Sekretärin beauftragen, Ihnen Kopien anzufertigen.«
»Das wäre nett«, sagte Schröder. Er gab Frambach die Zeichnungen zurück und verzichtete darauf, ihm zum Abschied die Hand zu geben. Der Arzt war ihm nicht geheuer. Er hatte etwas an sich, das Schröder zutiefst verunsicherte.
Schröder kam gegen halb neun nach Hause. Er war in einen heftigen Regenguss geraten, und es tropfte in den Flur. Seine Jacke und sein Hemd waren an den Schultern völlig durchnässt.
»Hallo, Papa!«
»Bist du nass geworden?«, fragte Karl.
»Sieht so aus! Ich zieh mich schnell um und mach uns dann was zu essen!«
»Alles klar!«, rief Karl. Er sah sich eine Tierdokumentation im Fernsehen an. Eine Gruppe von Löwinnen zerriss gerade eine Antilope.
Mit trockenem Hemd ging Schröder in die Küche und stellte zwei Pfannen auf den Herd. Da klingelte das Telefon.
»Verdammt!«, rief Schröder und hob ab.
»Ja, Schröder?«
»Ich dachte, Sie wollten mich heute zum Essen einladen?«, sagte Elin am anderen Ende der Leitung.
»Was? Hören Sie, ich will mich nicht mit Ihnen treffen, klar?«
»Wo waren Sie vorhin eigentlich? Ich hab in der Zentrale auf Sie gewartet!«
Es klingelte an der Haustür.
»Moment mal, ich muss zur Tür!«, sagte Schröder und nahm den Hörer vom Ohr. Als er die Tür aufmachte, stand Elin vor ihm und sprach in ihr Handy.
»Also, wo waren Sie?«
Sie lächelte ihn vorwitzig an. Karl war neugierig geworden und kam zur Tür gehumpelt.
»Was wollen Sie hier?«, fragte Schröder entnervt.
»Essen! Hatte ich das nicht erwähnt?« Sie blickte zu Karl und streckte ihm die Hand hin.
»Hallo, ich bin Elin Nowak, die Partnerin von Schröder!«
»Freut mich, ich bin der Vater von ihm!«, strahlte Karl. »Kommen Sie rein! Nennen Sie mich Karl! Schröder kocht uns gleich was!«
Karl nahm Elin an der Hand und zog sie hinein. Schröder sah den beiden sprachlos hinterher.
Eine halbe Stunde später saß Karl mit einem Glas Weißwein auf der Couch, während Elin sich in der Wohnung umsah. Schröder war in der Küche und kochte.
»Sie sind sehr jung für eine Polizistin, oder?«, fragte Karl.
»Ja, das hat Schröder auch schon versucht, mir klarzumachen.«
»Aber ich wette, Sie haben was auf dem Kasten!«
»Danke, Karl! Ein Kompliment tut doch mal ganz gut.«
»Mögen Sie Fisch?«, rief Schröder aus der Küche.
»Ich liebe Fisch.«, antwortete Elin. Sie blieb vor einer Plattensammlung stehen und ging sie durch. Sie fand sieben Alben von Billy Joel und grinste breit.
»Hinsetzen, das Essen ist fertig!«, rief Schröder.
Als er plötzlich das Intro von The Stranger hörte, ahnte er bereits, wie Elin diesen Sieg feiern würde.
»Ich hab mal eine Platte aufgelegt. Wer ist das noch gleich?«
Schröder sagte nichts, stellte ihr nur einen Teller mit Fischstäbchen hin.
»Bon appétit!«, sagte er und grinste hämisch.
Karl setzte sich an den Tisch. Schröder schnitt ihm die Fischstäbchen klein.
»Ein Schlaganfall«, erklärte er Elin, »jetzt muss er mich wie ein Kind bemuttern, und meine Würde geht den Bach runter.«
»Meine Würde ist schon lange unten, weil ich mit 49 immer noch mit meinem Vater zusammenwohne.«, sagte Schröder.
»Sie beide sind wirklich die mitleiderregendsten Männergestalten, die mir jemals begegnet sind!«
Karl und Schröder sahen Elin entsetzt an. Diese drastische Antwort hatte ihnen das Lächeln ausgetrieben.
»Das war ein Scherz. Schmeckt toll, der Fisch! Wollen wir anstoßen?«
Elin hob ihr Weinglas. Karl ebenfalls und Schröder stieß mit einer Flasche Bier an.
»Ich hab Ihnen was mitgebracht.« Schröder legte ihr die Kopien der Zeichnungen hin.
»Das sind Bilder von Marie Karmann. Was sagen Sie dazu?«
»Merkwürdig. So gegensätzlich.«
»Ich werde das Gefühl nicht los, dass da irgendein Zusammenhang besteht. Franke findet Haare von einem Hirsch, und Marie malt Bilder von Pferden. Vielleicht hat sie Hirsche bei dem Täter gesehen, nur sie kann sie nicht so gut malen. Also malt sie Pferde.«
»Sie denken, sie will uns etwas mitteilen?«
»Bewusst oder unbewusst.«
»Was sagt denn der Psychologe?«
»Ich mag ihn nicht! Komischer Kauz!«
»Ich werde morgen mal überprüfen, wo es hier Tiergehege gibt. Vielleicht bringt uns das weiter!«
Schröder und Elin widmeten sich wieder ihren Fischstäbchen.
»Ich wusste, dass Sie noch LPs haben und keine CDs!«, freute sich Elin, während Billy Joel Movin’ out sang. Elins Handy klingelte. Blitzschnell hatte sie es aufgeklappt und ans Ohr gepresst.
»Hallo?« Das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht.
»Ist gut. Schröder ist bei mir, wir kommen sofort!«
Elin legte auf.
»Was gibt’s?«, fragte Schröder.
»Das waren die Kollegen aus Remscheid. Sie haben Grab Nummer sechs gefunden!«