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»Eine Wilde«, sagte ich, »die irgendeinem primitiven Stamm angehört, wie man sie in Neuguinea oder in den afrikanischen Urwäldern findet?«

Ich hatte ohne jegliche Überzeugung gesprochen. Levain fragte mich beinahe wütend, ob ich unter den primitiven Völkern jemals eine solche Haltung oder eine ähnliche Feinheit der Formen bemerkt hätte. Darauf wusste ich nichts zu antworten – er hatte ja Recht. Professor Antelle, obwohl tief in Gedanken versunken, hatte uns dennoch gehört. »Auch die primitivsten Völker der Erde haben eine Sprache«, gab er zu bedenken. »Dieses Geschöpf hat nicht gesprochen.«

Wir suchten die Gegend rund um das Wasser ab, ohne jedoch eine Spur der Unbekannten zu finden. Schließlich kehrten wir zu unserem Beiboot auf der Lichtung zurück. Der Professor beabsichtigte, wieder aufzusteigen und zu versuchen, in zivilisierteren Gebieten zu landen. Levain meinte dagegen, wir sollten wenigstens vierundzwanzig Stunden an Ort und Stelle bleiben, um eventuell mit noch anderen Dschungelbewohnern Kontakt aufzunehmen. Ich unterstützte diesen Vorschlag, und der Professor gab nach. Wir wollten uns nicht eingestehen, dass nur die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit der Unbekannten uns zum Bleiben bewog.

Der Rest des Tages verlief ohne weiteren Zwischenfall. Doch gegen Abend, nachdem wir den fantastischen Untergang des Beteigeuze bewundert hatten – ein Schauspiel, das alle menschliche Vorstellungskraft überstieg –, merkten wir, dass rings um uns eine Veränderung vor sich ging. Im Dschungel regte sich etwas, und wir hatten das Gefühl, aus dem Dickicht von unsichtbaren Augen beobachtet zu werden. Trotzdem verbrachten wir, abwechselnd Wache haltend und in unserem Beiboot verbarrikadiert, eine ruhige Nacht. Bei Morgengrauen allerdings stellte sich das Unbehagen wieder ein, und mir war, als hörte ich abermals jene schrillen Schreie, die Nova tags zuvor ausgestoßen hatte. Aber keines der Wesen, die unsere Phantasie beschäftigten, ließ sich blicken.

Wir beschlossen, noch einmal zum Wasserfall zurückzukehren, und während des ganzen Weges dorthin konnten wir uns des Eindrucks nicht erwehren, dass wir von Geschöpfen, die sich nicht zu zeigen wagten, verfolgt und belauert wurden. Sonderbar – Nova hatte sich gestern ja auch nicht geniert, sich uns vertraulich anzuschließen.

»Vielleicht sind unsere Kleider daran schuld«, sagte Levain plötzlich.

Ich hielt das nicht für ausgeschlossen. Ich erinnerte mich genau, wie sich Nova, als sie nach der Tötung des Affen geflohen war, angesichts unserer hingeworfenen Anzüge benommen hatte: Sie war, um ihnen auszuweichen, zurückgezuckt wie ein scheuendes Pferd. »Wir werden ja sehen«, meinte ich.

Wir zogen uns aus, sprangen ins Wasser und begannen wieder herumzuplanschen, scheinbar ohne darauf zu achten, was um uns herum vorging. Der Trick erwies sich auch diesmal als Erfolg. Nach einer Weile sahen wir das Mädchen oben auf dem Felsvorsprung erscheinen. Sie war nicht allein. Ein älterer Mann stand neben ihr, dessen Körperbau sich in nichts von unserem unterschied. Auch er war völlig nackt. Aus der Ähnlichkeit zwischen den beiden meinte ich zu schließen, dass er der Vater unserer Göttin war. Wie sie beobachtete er uns ratlos und beunruhigt.

Und dann entdeckten wir nach und nach eine ganze Menge dieser Geschöpfe. Wir bemühten uns weiterhin, unsere gespielte Gleichgültigkeit aufrechtzuerhalten. Sie kamen verstohlen aus dem Wald und bildeten allmählich einen Kreis um den Teich. Es handelte sich durchwegs um kräftige, schöne Menschen, um Männer und Frauen mit goldbrauner Hautfarbe. Große Aufregung herrschte unter ihnen, sie wirkten gereizt und stießen gelegentlich Schreie aus.

Schließlich waren wir umzingelt. Wir mussten daran denken, was dem Schimpansen widerfahren war. Doch als bedrohlich konnte man das Verhalten dieser fremden Menschen nicht bezeichnen; sie schienen sich ausschließlich für unser Treiben zu interessieren.

So weit, so gut. Nach einiger Zeit ließ sich Nova – die ich bereits als alte Bekannte betrachtete – ins Wasser gleiten, und die anderen folgten mehr oder weniger zögernd ihrem Beispiel. Wieder begann, wie gestern, das Fangspiel, nur mit dem Unterschied, dass sich diesmal an die zwanzig dieser eigenartigen Geschöpfe schnaubend und planschend um uns herumtummelten, alle mit todernstem Gesicht.

Nach einer Viertelstunde begann mich das Ganze zu langweilen. Waren wir denn zum Beteigeuze vorgedrungen, um uns hier wie Kinder aufzuführen? Beinahe schämte ich mich für mein Benehmen, musste jedoch bekümmert feststellen, dass sich Professor Antelle bei dem Spiel überaus wohlzufühlen schien. Natürlich – was gab es denn sonst für uns zu tun? Die Schwierigkeit, mit diesen Wesen, die weder sprechen noch lächeln konnten, Kontakt aufzunehmen, war unvorstellbar groß. Ich bemühte mich dennoch und probierte alle Gesten aus, die als bedeutsam gelten. Ich verbeugte mich so liebenswürdig, wie ich es vermochte, mit gefalteten Händen, nach Art der Chinesen. Ich warf ihnen Kusshändchen zu. Alles umsonst. Kein Schimmer des Begreifens zeigte sich in ihren Augen.

Als wir uns während des Fluges über die Möglichkeit unterhalten hatten, Lebewesen zu begegnen, hatten wir dabei zwar an missgebildete, monströse Geschöpfe von fremdartigem Wuchs gedacht, doch immer ausdrücklich das Vorhandensein von Intelligenz vorausgesetzt. Auf dem Planeten Soror schien es gerade umgekehrt zu sein: Seine Bewohner glichen uns in der äußeren Erscheinung, doch Verstand besaßen sie offenbar keinen. Das war es gewesen, was mich an Novas Blick so beunruhigt hatte und was ich jetzt bei allen anderen wiederfand – der Mangel an bewusstem Denken, an Seele.

Sie gaben sich ganz dem Spiel hin. Uns allerdings wurde es langsam zu viel. Um ihnen zu zeigen, wie man es anders machen könnte, fassten wir drei uns an den Händen und begannen, bis zur Hüfte im Wasser stehend, eine Art Ringelreihen, wobei wir im Takt die Arme schwenkten, wie es kleine Kinder tun. Das schien sie nicht im Geringsten zu interessieren. Die meisten entfernten sich, und einige betrachteten uns mit solcher Verständnislosigkeit, dass wir selbst ganz verwirrt wurden. Und es war einzig und allein diese Verwirrung, die das Unheil heraufbeschwor. Als uns nämlich zu Bewusstsein kam, dass wir, drei erwachsene Männer, unter dem Beteigeuze infantil im Kreis herumhüpften, vergaßen wir alle Vorsicht und vermochten nicht länger ernst zu bleiben. Wir hatten uns während der letzten Viertelstunde einen solchen Zwang angetan, dass wir nun Erholung brauchten. Wir brachen also in schallendes und hemmungsloses Gelächter aus.

Dieser Heiterkeitsausbruch löste bei den fremden Menschen endlich eine Reaktion aus, doch leider nicht die erhoffte. Plötzlich war es, als wühlte ein Sturmwind den Teich auf. Sie stoben in alle Richtungen auseinander, mit solcher Kopflosigkeit, dass es unter anderen Umständen lächerlich gewirkt hätte. Im Nu befanden wir uns allein im Wasser. Sie versammelten sich am gegenüberliegenden Steilufer des Teichs zu einem zitternden Haufen, stießen ihre wilden Schreie aus und reckten wütend ihre Arme gegen uns. Sie machten so bedrohliche Mienen, dass wir es mit der Angst bekamen. Levain und ich eilten zu unseren Waffen, doch der Professor bat uns mit leiser Stimme, sie nicht aufzuheben, solange sich die Fremdlinge nicht wieder näherten.

Wir kleideten uns hastig an, ohne sie dabei aus den Augen zu lassen. Kaum hatten wir jedoch Hose und Hemd übergestreift, als sich ihre Erregung bis zur Raserei steigerte. Offenbar konnten sie den Anblick angezogener Menschen nicht ertragen. Einige ergriffen die Flucht, andere jedoch rückten mit ausgestreckten Armen und gekrümmten Fingern gegen uns vor. Ich riss mein Gewehr hoch. Und seltsamerweise schienen diese sonst so begriffsstutzigen Wesen zu verstehen, was das bedeutete – sie machten kehrt und verschwanden hinter den Bäumen.

Wir begaben uns schnell zu unserem Beiboot. Und auch diesmal hatte ich das Gefühl, dass sie dauernd anwesend waren, wenngleich unsichtbar, und dass sie uns heimlich bei unserem Rückzug begleiteten.