Sechs


 

 

Es war nicht das erste Mal, dass jemand während einer Mission der Rockhopper gestorben war, und Bella bezweifelte, dass es zum letzten Mal geschehen war. Aber das bedeutete nicht, dass von nun an wieder Normalbetrieb herrschte. Bella hatte erlebt, dass ihre Besatzung schon einen oder zwei Tage nach einem Todesfall weitermachte, aber manchmal dauerte es länger. Die Erholungsphase hatte offenbar nichts mit der Beliebtheit des betreffenden Besatzungsmitglied oder den Todesumständen zu tun. Dafür waren subtilere Kräfte verantwortlich, die Bella nicht einschätzen konnte.

Sie verarbeitete den Zwischenfall auf ihre Weise. Takahashis medizinischer Zustand mochte nicht eindeutig sein, aber tief drinnen war Bella überzeugt, dass der Tod dauerhaft und unumkehrbar war, und genauso behandelte sie ihn auch. Sie verfasste Kondolenzbriefe, versuchte das richtige Gleichgewicht zwischen respektvoller Förmlichkeit und persönlichem Ton zu finden. Bei manchen Toten war es leichter. Mike Takahashi hatte keine engen Familienangehörigen, also gingen die Briefe an entfernte Verwandte und Freunde.

Wenn sie solche Briefe schrieb, fragte sich Bella manchmal, wer diese Aufgabe übernehmen würde, wenn sie starb. Sie wusste, wie es war, auf der Empfängerseite einer solchen Nachricht zu stehen. Damals hatte sie einen Anruf erwartet, dass Garrison im Zuge der Rotation von Big Red zurückkehrte. Stattdessen erfuhr sie, dass sein Shuttle als Ascheregen über Sinai Planum niedergegangen war, nachdem die Luftbremsung schiefgegangen war. Er hatte sich auf dem Rückflug von Deimos befunden.

Das Unglücksdatum: der 13.3.36. Die Zahlen hatten sich unauslöschlich ihrem Gedächtnis eingebrannt.

Die Leute gingen davon aus, dass sie gut ohne Partner leben konnte, als würde die notwendige Kühle ihrer Entscheidungen implizieren, dass sie selbst frigide war. Nur ein paar hatten sie verstanden: Svetlana, Chisholm, Axford, Parry. Sie wussten nicht alles, und sie wollte auch gar nicht, dass sie alles wussten. Nicht einmal Svetlana wusste vom Streit, den Bella und Garrison gehabt hatten – in die Länge gezogen durch die Zeitverzögerung eines Gesprächs zwischen Erde und Mars –, kurz bevor Garrison zu seiner letzten Mission aufgebrochen war. Wenn sie die Sache wenigstens beigelegt hätten, bevor sie die Verbindung unterbrochen hatten, bevor Garrison abgeflogen war. Er wäre trotzdem gestorben, aber sie wäre nicht mit dem üblen Gefühl zurückgeblieben, dass etwas unerledigt geblieben war, als wartete das unangenehme Gespräch immer noch auf einen Abschluss, irgendwo im Weltraum zwischen Erde und Mars.

Bella riss sich zusammen, bevor sie noch tiefer in diese gefährliche Spirale stürzen konnte. Nichts konnte die Ereignisse ungeschehen machen, aber jedes Mal, wenn sie dachte, sie könnte dieses Buch endlich schließen, kehrte alles zurück und Garrisons Tod verfolgte sie weiter. Sie musste akzeptieren, dass es vermutlich immer so sein würde. Es gab Zeiten, in denen sie die Vergangenheit mit Arbeit und Pflichten verdrängen konnte, wo sie daran dachte, was geschehen würde, statt an das, was hätte sein können.

Aber heute war keiner dieser Tage.

Bella war gerade mit den Briefen an Takahashis entfernte Verwandte fertig geworden, als sie bemerkte, dass eine an sie adressierte Nachricht von DeepShaft eingetroffen war. Es ging um Svetlanas Anfrage wegen des Drucks in den Treibstofftanks. Durch den tragischen Zwischenfall hatte sie dieses Problem fast völlig vergessen. Sie überflog das Dokument, dann rief sie Svetlana an, um ihr zu sagen, dass der Bericht einen sehr gründlichen Eindruck machte und die Sorgen, die sie geäußert hatte, zu zerstreuen schien.

»Meine Sorgen?«, fragte Svetlana.

»Ich schicke den technischen Bericht auf deinen Flextop. Die Zusammenfassung am Ende gibt den Grundtenor mit adäquater Klarheit wieder.«

»Mit adäquater Klarheit«, sagte Svetlana und verzog das Gesicht. »Nun, das erleichtert mich.«

»Es gibt kein Geheimnis«, sagte Bella. »Die Konfiguration der Sensoren und der Software musste eine kurzfristige Druckveränderung durch den Zusammenstoß mit den Massentreibern ausgleichen. Die gute Nachricht ist, dass kein Grund zur Sorge besteht.«

»Wirklich?« Svetlana klang verblüfft. »Nicht der geringste?«

»Die Simulationen zeigen, dass der Zusammenstoß keine strukturelle Beeinträchtigung der Tanks zur Folge gehabt haben kann.«

»Es gibt keinen Zusammenstoß, der nicht zumindest eine gewisse Beeinträchtigung zur Folge hätte.«

»Aber keine Beeinträchtigung, mit der wir nicht leben können.«

»Trotzdem bin ich darüber nicht glücklich, Bella.«

»Ich habe dich nicht darum gebeten, glücklich zu sein. Ich bitte dich nur, dir wegen dieses Vorfalls keine Sorgen mehr zu machen. Wir haben lediglich die möglichen Auswirkungen überschätzt. Warum bist du felsenfest davon überzeugt, dass uns irgendjemand Fakten vorenthalten will?«

»Du darfst mich als Zynikerin bezeichnen, aber glaubst du wirklich, DeepShaft wäre begeistert, wenn wir jetzt umkehren würden?«

»Sie sind genauso daran interessiert, dass dieses Schiff heil bleibt.«

»Bis wir Janus erreicht haben.«

»Svieta …«, begann Bella, bis sie es mit einem verzweifelten Blick zur Decke aufgab. »Eigentlich müsste ich es inzwischen besser wissen, meinst du nicht auch?«

»Wie ich bin? Eigentlich schon!«, sagte Svetlana.

 

Svetlana folgte Parry durch die Schleuse und auf den schwindelerregend hohen Turm der Rückgratstreben hinaus. Die Triebwerkssektion schien von hier aus gesehen in unvorstellbarer Tiefe zu liegen – viel tiefer, als es den Anschein gehabt hatte, während sich das Schiff im freien Fall befand. Perry sicherte ein Ende der Leine an einer Strebe und das andere am Gürtel von Svetlanas Anzug. Sie benutzte die Leiter, die parallel zur Führungsschiene verlief, um an den Streben hinunterzuklettern. Anfangs jagte jeder Schritt ihr stechende Schmerzen durch die Brust, doch nach einer Weile hatte sie eine Methode gefunden, wie sie sich bewegen konnte, ohne die gebrochene Rippe allzu sehr zu belasten.

Bei einhundert Metern hielt Svetlana an, sicherte sich an der nächsten Strebe und wartete, bis Parry heruntergestiegen war. Dann wartete Parry, während Svetlana weitere hundert Meter vorrückte. Auf halber Strecke des Rückgrats war ein Team damit beschäftigt, die Wagenschiene mit Hilfe von Robotern und flackernden Schneidwerkzeugen zu reparieren. Svetlana erwartete, dass sie mit einer gewissen Neugier reagierten, während Parry und sie an ihnen vorbeistiegen, aber sie nahmen ihre Anwesenheit nur mit knappen Gesten zur Kenntnis, bevor sie sich wieder ihrer Arbeit widmeten.

Parry und Svetlana setzten den Abstieg fort, bis sie auf Höhe der Tanks waren, dann an der Stelle vorbeikamen, wo Takahashi gestorben war, und schließlich die schwere Luftschleuse zum Schwitzkasten erreichten.

Im Arbeitsbereich herrschte normaler Atmosphärendruck, sodass sie drinnen die Versiegelungen ihrer Helme öffnen und die Scheiben hochklappen konnten. Ihr Atem bildete weiße Wölkchen. Niemand hatte den Schwitzkasten seit dem Unfall mit dem Massentreiber besucht, und die Lebenserhaltungssysteme hatten darauf mit einer Abkühlung des Raumes reagiert.

Die gekrümmten grünen Wände waren mit Bildschirmen, Tastaturen, teleskopartigen Sichtvorrichtungen und dunklen Bullaugen übersät. Ausgedruckte Blätter in Plastikhüllen und mit Anmerkungen und Korrekturen in Magic Marker klebten von Geckoflex gehalten an den Wänden. Es gab Sicherheitshinweise und böse Cartoons, zum Beispiel die Zeichnung eines nervösen Wissenschaftlers, der an einer Atombombe arbeitete, während sich ein Kollege von hinten anschlich und eine aufgeblasene Papiertüte hochhielt, die er gleich zerplatzen lassen wollte.

Svetlana riss das Blatt von der Wand, knüllte es zusammen und steckte es sich in die Tasche. Für diese Art von Humor hatte sie im Moment nichts übrig.

»Hier können wir reden«, sagte sie. »Ich habe die Webcam-Übertragung ins übrige Schiff ausgeschaltet.«

»Ist das nicht etwas dreist?«

»Ganz und gar nicht. Wir haben durch den Unfall Bandbreite verloren. Der Treiber hat einige Glasfaserleitungen durchtrennt, die am Rückgrat entlanglaufen. Ich sorge nur dafür, dass wir die noch vorhandene Kapazität auf die effizienteste Weise nutzen.«

»Ich bezweifle, dass die Bandbreite nennenswert durch die Webcam beeinträchtigt wird«, sagte Parry. »Was nicht heißt, dass ich kleinlich sein will.«

»Sehr rücksichtsvoll von dir.« Svetlana zerrte ihren Flextop aus der Tasche unter ihrem Brusttornister. »Willst du hier warten und mir auf die Finger schauen, oder kannst du dich in der nächsten halben Stunde irgendwie selbst beschäftigen?«

»Womit zum Beispiel?«

»Keine Ahnung. Howling Wolf hören. Zusehen, wie die Sterne vorbeiziehen oder etwas in der Art.«

»Wenn es dir nichts ausmacht, bleibe ich und schaue dir zu.«

»Ich werde mich nicht in Schwierigkeiten bringen.«

»Du hast dich bereits in Schwierigkeiten gebracht«, sagte Parry. »Und mich auch, wenn Bella jemals herausfindet, dass ich Ashs Unterschrift auf dem Formular für die Anzugzuteilung gefälscht habe.«

»Ash ist mir noch einen Gefallen schuldig«, sagte Svetlana. »Wenn er seine Schicht antritt, werde ich ihn daran erinnern, dass ich nach dem kleinen Blackout am Kometen keine Beschwerde ins Logbuch eingegeben habe. Mal sehen, ob er dann immer noch wegen einer gefälschten Unterschrift Ärger machen will.«

»Du könntest Machiavelli Nachhilfestunden im Intrigieren geben«, sagte Parry.

»Habe ich schon gemacht. Aber dann musste er die Segel streichen.«

Svetlana schraubte ihre Anzughandschuhe ab und hängte sie an den Gürtel, damit sie den Flextop mit den Händen bedienen konnte. Das Helmdisplay würde Alarm schlagen, wenn sie versuchte, durch die Luftschleuse auszusteigen, ohne sie wieder anzulegen. Sie aktivierte den Schirm und rief die umfangreichen technischen Dateien zum Treibstoffdruck auf. Dann ging sie zu einer mit Instrumenten übersäten Wand des Schwitzkastens und zog eine Glasfaserleitung heraus.

»Bist du bereit, mir zu erklären, was das alles soll?«, fragte Parry, die Arme über der Brust verschränkt. »Denn es sieht nicht nach einer Routineüberprüfung aus.«

Svetlana steckte das Glasfaserkabel in einen Port auf der Unterseite des Flextops und tippte auf das Menü, um neue Daten zu laden. »Wir haben das Routinehandbuch über Bord geworfen, als wir das Triebwerk auf ein halbes Ge hochgejagt haben«, sagte sie.

»Also hat es etwas mit dem Schiff zu tun? Machst du dir Sorgen, dass es auseinanderbrechen könnte?«

»Das nicht. Aber ich habe einen bösen Verdacht, und bislang war ich nicht in der Lage, ihn zu entkräften.«

»Und was ist das für ein Verdacht?«

»Das jemand uns verarscht.« Sie schloss die Augen und wünschte sich, dass der Flextop die Datenübertragung beendete und ihr bewies, dass sie Unrecht hatte. »Es fing damit an, dass ich mir überlegt habe, ob die Treibstofftanks Schaden genommen haben könnten.«

»Kein abwegiger Gedanke, nach dem, was passiert ist.«

»Also habe ich die Sache überprüft. Während ich im Krankenbett lag, habe ich die Zahlen mit dem Flextop aufgerufen und nach Anomalien in den Druckwerten zur Zeit des Unfalls gesucht.«

»Und du hast was gefunden?«

»Nichts. Nicht den winzigsten Ausschlag. Nichts, was darauf hingedeutet hätte, dass es überhaupt einen Unfall gegeben hat.«

»Es muss irgendeinen Grund geben, warum der Zusammenstoß nicht in den Daten auftauchte«, sagte Parry.

Der Flextop gab mit einem Pling bekannt, dass die Übertragung beendet war. Svetlana trennte die Glasfaserverbindung, worauf das Kabel von einer Spule in die Wand zurückgezogen wurde. »Daran habe ich gedacht«, sagte sie seufzend. »Ich habe mir alles ganz genau angesehen. Aber ich fand keine logische Erklärung, wie eine Druckveränderung nicht die leiseste Spur in den Daten hinterlassen kann.«

»Hast du mit Bella darüber geredet?«

»Natürlich. Auch sie fand es merkwürdig, aber sie dachte sich, dass es eine Erklärung geben muss.«

»Die du noch nicht gefunden hast.«

»Bella hat eine Nachricht nach Hause geschickt und unser Problem geschildert. Vor einer Weile kam die Antwort.«

»Und?«

»Um es vorsichtig auszudrücken: Es war der absolute Blödsinn, die totale Verscheißerung.«

Parry sah sie verwirrt an. »Du meinst, sie haben auch nicht verstanden, was passiert ist, sodass sie nun versuchen, das Problem zu übertünchen?«

»Genau, aber mein unangenehmer Verdacht geht eher dahin, dass sie es tun, weil wir die Wahrheit nicht erfahren dürfen. Denn in diesem Fall wäre die gesamte Mission …« Svetlana hielt kurz inne, um sich die neuen Daten auf dem Flextop anzusehen und die Kurven für die Druckwerte über die zu legen, die sie bereits analysiert hatte. »Ich hatte gehofft, dass diese Daten meinen Verdacht widerlegen würden«, sagte sie ernst. »Aber das tun sie nicht.«

»Was ist los?«

Sie atmete tief durch und spürte die kalte Luft durch ihre Lungen strömen. Das war es: der Kern des Problems, der Punkt, an dem sie sich in ihrer ganzen paranoiden Pracht offenbaren durfte. »Die Daten sind manipuliert.« Sie hielt den Flextop hoch und zog mit dem Finger die Kurven nach, die sie bereits ausgewertet hatte. »All diese Werte sind frei erfunden.«

Parry forderte sie weder auf, zu wiederholen, was sie gerade gesagt hatte, noch warf er ihr vor, sie hätte den Verstand verloren. Dafür war sie ihm dankbar. Er nickte nur langsam und strich sich mit einem Finger über den Schnurrbart, wie er es immer tat, wenn er ratlos war.

»Und du glaubst, dass die Firma dahintersteckt?«

»Es wäre die einzige sinnvolle Erklärung.«

Nachdem sie es jetzt laut ausgesprochen hatte, nachdem ihr Verdacht offen im Raum stand, verspürte sie ein erregendes Gefühl der Befreiung.

»Also gut. Erklär es mir. Fang damit an, wie sie diese Zahlen ändern.«

»Keine große Sache. Es gibt viele Möglichkeiten, um sich in die Systeme dieses Schiffs zu hacken. Es passiert ständig, mit routinemäßigen Software-Aktualisierungen, Fehlerbehebungsprogrammen und solchen Sachen.«

»Könnten sie so etwas unbemerkt an dir vorbeischmuggeln?«

»Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Vielleicht gibt es einen eigenen Zugang durch die Hintertür, der das Log-System umgeht. Oder sie haben ein Programm hochgeladen, das das Log-System selbst infiltriert hat, damit sie weiteres Zeug einspeisen können, ohne dass wir etwas davon bemerken.«

»Ich hoffe, du hast einen wasserdichten Beweis für deine Behauptungen«, sagte Parry.

»Ich habe jede Menge Beweise«, sagte sie und reichte ihm den Flextop.

Parry senkte den Blick. »Soll mir das etwas Bestimmtes sagen?«

»Ich habe zwei Datenkurven übereinander gelegt, die eigentlich identisch sein müssten. Aber das sind sie nicht. Die Kurven decken sich nicht.«

»Eine davon ist echt?«

Sie nickte. »Die Daten, die ich soeben aus dem Schwitzkasten geholt habe, entsprechen dem, was ich erwartet hätte. Sie zeigen die Druckwerte in den Treibstofftanks, einschließlich der Schwankung, die auf den Zusammenstoß mit dem Massentreiber zurückzuführen ist.«

»Und die andere Kurve?«

»Das sind die Daten, die du siehst, wenn du die Werte über das Schiffsnetz abrufst. Es ist das, was Bella sieht. Es ist das, woran Bella glaubt.«

Parry berührte die Kurve, auf der sich der Zusammenstoß abzeichnete. »Wie kommt es, dass diese Daten nicht ebenfalls verändert wurden?«

»Sie sind gepuffert«, sagte Svetlana, »in einem temporären Cache zwischengespeichert, falls die anderen Schiffssysteme abstürzen sollten. Sie lassen sich nur hier unten direkt aus dem Zwischenspeicher abrufen. Das Programm, das die Schiffsnetzdaten überschrieben hat, kam nicht an diese Version heran. Oder man hat nicht daran gedacht.«

Er gab ihr den Flextop zurück. An seinem Gesichtsausdruck konnte sie erkennen, dass sie ihn zum Grübeln gebracht hatte, auch wenn es noch ein weiter Weg war, ihn vollständig zu überzeugen.

»Warum?«, fragte er. »Ich verstehe es nicht. Warum sollte jemand daran interessiert sein, diese Werte zu ändern?«

Svetlana zeigte ihm noch einmal den Flextop. »Die Kurve mit den echten Daten liegt etwa fünfzig Prozent niedriger als die gefälschte. Das bedeutet, dass der Druck niedriger ist. Das bedeutet, dass in Wirklichkeit viel weniger Treibstoff in den Tanks ist.«

»Und was genau bedeutet das?«

»Die Sache war ohnehin knapp kalkuliert«, sagte Svetlana. »Nach den Zahlen, die wir vor dem Unfall hatten, verfügten wir über genug Treibstoff, um zu Janus zu fliegen, ihn ein paar Tage lang zu beobachten und dann ins innere System zurückzukehren.«

»Und jetzt?«

»Ich muss die Angelegenheit noch einmal mit den realen Daten nachrechnen, aber ich habe das dumme Gefühl, dass ich die Antwort längst weiß.«

Schweigen breitete sich aus. Sie blickte in Parrys vertrauensvolles Gesicht.

»Und wie lautet sie?«

»Wir haben nicht mehr genug Treibstoff, um nach Hause zu fliegen. Das ist die Wahrheit, die sie uns vorenthalten wollen. Sie wollen, dass wir uns Janus aus der Nähe ansehen. Mit den Daten, die wir zurückschicken, wird DeepShaft in jedem Fall ein Vermögen machen.«

»Und wir?«

»Wenn sie die Daten haben, brauchen sie uns nicht mehr.«

 

Bella war beim Taphead, als der Anruf hereinkam. Thom Crabtree hatte etwas Scheues an sich, seine Augen waren groß und blickten vertrauensvoll, aber er konnte Bella nicht direkt ansehen. Er fixierte einen Punkt hinter ihrer Schulter, als würde er mit jemand ganz anderem sprechen.

»Ich glaube, ich leiste nicht so viel, wie ich könnte«, sagte er.

»In welcher Hinsicht?«, fragte Bella geduldig.

»Es ist mir nicht gestattet, mich nützlich zu machen. Ich könnte mich genauso gut nicht an Bord dieses Schiffes aufhalten.«

»Ich dachte, das hätten wir schon längst besprochen.«

»Stimmt. Aber es hat sich nichts an der Situation geändert.«

Bella warf einen Blick auf eine E-Mail, die sie aus ihrem »Gesendet«-Ordner abgerufen hatte. »Ich habe Saul gebeten, die Integration voranzutreiben. Mir ist es sehr wichtig, dass wir dich auf Kurs gebracht haben, bevor wir Janus erreichen. Ich bin davon überzeugt, dass du eine wichtige Rolle bei der Untersuchung spielen wirst, wenn wir anfangen, Roboter einzusetzen.«

»Das hoffe ich auch«, sagte Crabtree.

»Dann erzähl mir, wie es mit der Integration vorangeht. Arbeitest du schon mit realen Maschinen?«

Crabtree rutschte unbehaglich auf seinem Sitz hin und her. »Nicht ganz«, sagte er. »Wir sind immer noch im virtuellen Stadium.« Damit meinte er die simulierten Maschinen.

»Gab es ein Problem mit dem Übergang?«

»Ja … nein. Ich meine, kein technisches Problem. Aber Saul …« Er wand sich, und seine Augen blickten in alle möglichen Richtungen, nur nicht in ihr Gesicht. Bella fühlte sich genauso unbehaglich. Es machte ihr keinen Spaß, den feinfühligen jungen Mann in eine so konfliktgeladene Situation zu bringen, aber sie musste seine Version der Geschichte hören.

»Saul hat die Testläufe gestoppt?«

»Ja«, sagte er widerstrebend. »Wir arbeiten jetzt wieder virtuell.«

Sie betrachtete seinen Kopf, der fast zur Glatze kahl rasiert war. Es waren keine äußerlichen Anzeichen zu erkennen, dass er ein Taphead war, es gab keinen Hinweis auf die Operation, der man ihn auf der Erde unterzogen hatte. Dazu hatte man viel zu gute Arbeit geleistet. DeepShaft hatte mehrere Milliarden Dollar in Crabtree und seinesgleichen investiert. Das interkraniale Mikroelektrodenimplantatnetz bildete ein hochkompliziertes Geflecht, das an zehntausend kortikale Motorikneuronen angeschlossen war. Das IMIN und der Korrelationsneurochip erlaubten Crabtree, Maschinen mit seinem Geist zu steuern. Mit entsprechendem Training konnte er einen Roboter mit einer Geschicklichkeit bewegen, die jemand mit einer normalen Fernsteuerung niemals erreichen würde. Dabei verschmolz der Roboter vollständig mit seinem eigenen Körperbild.

Deshalb war es kein Wunder, dass Crabtree von vielen Besatzungsmitgliedern gefürchtet wurde.

»Hat Saul einen Grund genannt, warum er die Integration eingestellt hat?«, fragte Bella.

»Es gab Ärger«, sagte ihr der Taphead. »Drohungen.«

»Also, wenn es nicht um Janus ginge …«

»Janus?«

»Wir befinden uns in einer außergewöhnlichen Situation. Hinzu kamen mehrere Unfälle … die Besatzung steht im Moment ziemlich unter Druck. Wenn Normalbetrieb herrschen würde, hätte ich keine Schwierigkeiten, mich gegen die allgemeine Stimmung zu entscheiden und dich auf eine Position zu setzen, wo du uns wirklich von Nutzen wärst.«

»Aber im Moment musst du die übrige Besatzung bei Laune halten.«

»Ja«, sagte Bella matt.

»Schon gut«, sagte Crabtree. »Das verstehe ich. Es ist natürlich, dass man Bedenken gegen meine Anwesenheit hat.«

»Trotzdem ist es nicht richtig.«

Nun fand er endlich die Kraft, ihr direkt in die Augen zu sehen. Seine waren so hart und kalt wie Eisen, und sie hatte das Gefühl, ihre Körpertemperatur würde um ein paar Grad fallen.

»Es ist richtig. Ich bin die Zukunft. Sie sollten Angst vor mir haben.«

Ihr Flextop piepte. Bella hob die Hand. »Eine Sekunde, Thom.« Als sie sah, dass der Anruf von Svetlana kam, nahm sie ihn sofort an. »Hallo, Svieta. Kann ich dich in ein paar Minuten zurückrufen?«

»Eher nicht.« Svetlana beugte sich näher an die Linse heran, sodass ihr Gesicht riesig und verzerrt wirkte. »Es kann nicht warten. Nicht diese Sache. Nicht diesmal.«

Bella entschuldigte sich bei Thom Crabtree – schließlich war er mit einer ernsthaften Beschwerde an sie herangetreten, und sie hatte kaum etwas getan, um seine Sorgen zu zerstreuen – und führte ihn zur Tür. Als er ging, spürte Bella das vertraute Kribbeln des Schuldgefühls, weil sie genau wusste, dass sie einem Problem ausgewichen war und es nicht gelöst hatte. Ihre Wahl des T-Shirt-Slogans war auch nicht gerade angebracht gewesen:

 

Ich kann pro Tag nur einem Menschen helfen.

Heute ist nicht dein Tag.

Und morgen sieht es auch nicht gut aus.

 

Sie hoffte, er hatte es nicht persönlich genommen. Dann schob sie Thom Crabtree geistig zur Seite, machte sich etwas Kaffee warm und drückte den kleinen Knopf am T-Shirt-Saum, der einen neuen Slogan erscheinen ließ.

 

Ich habe noch einen Nerv übrig,

und du trittst gerade drauf.

 

Auch nicht wesentlich besser, dachte sie und ging weitere Möglichkeiten durch. Als sie gerade die Grundeinstellung ohne Spruch wiedergefunden hatte, die sie von Anfang an hätte wählen sollen, traf Svetlana ein, begleitet von Parry Boyce, der wie ein Bodyguard in den Türrahmen trat. Bella sah den unerwarteten Gast verblüfft an, trotzdem forderte sie ihn auf, hereinzukommen. Beide trugen Anzugunterkleidung, die nach Schweiß müffelte.

Bella musterte Parry und fragte sich, was er mit allem zu tun hatte. »Wollt ihr Kaffee?«

»Bemüh dich nicht«, sagte Svetlana. »Mir ist im Moment nicht danach, etwas zu essen oder zu trinken.«

Bella gab ihnen zu verstehen, dass sie sich auf die Klappstühle vor ihrem Schreibtisch setzen sollten. »So schlimm?«

»Noch viel schlimmer.«

Svetlana reichte ihr einen Flextop. Bella erkannte mit einem flüchtigen Blick auf das Display, dass es sich um die Kurven mit den Druckwerten handelte. »Nicht schon wieder«, sagte sie etwas säuerlich. »Ich dachte, das hätten wir abgehakt.«

Svetlana erzählte ihr die ganze Geschichte, während Bella die Daten auf ihren Flextop kopierte. Parry ergänzte einige Details und bestätigte, dass er bei ihr gewesen war, als sie die Beweise beschafft hatte.

Bella goss sich noch einen Kaffee ein und trank eine halbe Tasse, bevor sie antwortete. Sie beobachtete das elektrische Leuchten ihrer Salmler, die neugierig die Nasen an der Glasscheibe rieben.

»Das ist verrückt«, sagte sie schließlich.

»Ich stimme dir voll und ganz zu«, sagte Svetlana. »Trotzdem ist es wahr.«

Bella drückte einen Finger auf ihren Nasenrücken und grub den Nagel in die Haut. »Aber der Bericht über die Druckwerte …«

»Sie haben unsere Daten manipuliert, seit wir die Aufforderung erhalten haben, Janus anzufliegen. Als der Unfall mit dem Massentreiber passierte, mussten sie neue gefälschte Zahlen hochladen, um die Tatsache zu berücksichtigen, dass wir anschließend das Triebwerk abgestellt haben. Dabei haben sie vergessen, die Schwankung einzubauen, die infolge des Zusammenstoßes zu erwarten war.«

»Aber du hast sie nicht vergessen.«

»Es ist mein Job, auch an kleinste Einzelheiten zu denken.« Svetlana blickte sich zu Parry um. »Es tut mir leid, was mit Mike geschehen ist, aber wenn sich der Treiber nicht aus der Verankerung gelöst hätte, wäre ich niemals auf die Idee gekommen, dass mit den Daten etwas nicht stimmen könnte. Das hat uns gerettet.«

»Du sagst, es hat ›uns gerettet‹«, entgegnete Bella taktvoll. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir folgen kann.«

Parry räusperte sich. »Wir müssen umkehren. Zum jetzigen Zeitpunkt haben wir noch genug Treibstoff, um den Rückweg zu schaffen, aber jede Stunde, die wir uns weiter von zu Hause entfernen, lässt uns weniger Spielraum.«

»Umkehren?«

Svetlana nahm den Flextop auf und ließ ihn mit einem dumpfen Geräusch auf den Schreibtisch zurückfallen. »Sie verarschen uns, Bella. DeepShaft belügt uns und schwindelt uns vor, wir hätten eine gute Chance, diese Sache lebend zu überstehen.«

»Wir wollen keine voreiligen dramatischen Schlussfolgerungen ziehen«, sagte Bella. »Es könnte eine Million Erklärungen geben. Wie kannst du dir überhaupt so sicher sein?«

»Weil sich diese Kurven nicht decken. Weil die eine echt und die andere falsch ist.«

Der Kaffee verlieh Bellas Gedanken eine trügerische Klarheit, die wie dünnes Eis war. »Und wie bist du dann an die echten Daten gelangt?«

»Es gibt eine Kopie. Normalerweise hätte ich sie übers Schiffsnetz abrufen können, aber wegen des Schadens am Rückgrat musste ich sie über den Direktzugang aus dem Schwitzkasten holen.«

»Selbst mir würde es schwer fallen, ihr zu glauben, wenn ich diese Zahlen nicht mit eigenen Augen gesehen hätte«, sagte Parry.

»Und jetzt glaubst du ihr? Du glaubst, dass wir die Opfer einer Verschwörung sind, hinter der die Firma steckt?«

»Ich glaube daran, dass jemand diese Zahlen verändert hat. Svietas Erklärung klingt für mich völlig plausibel.«

»Du traust ihnen ernsthaft zu, dass sie so etwas mit uns machen würden?«, fragte Bella.

»Bei der Janus-Mission steht sehr viel auf dem Spiel.«

Bella nahm einen Stift und tippte damit auf den Tisch, in der Hoffnung, dass sie den Eindruck erweckte, sich ausschließlich auf eine theoretische Möglichkeit einzulassen. »Wenn wir einmal davon ausgehen, dass es eine Verschwörung gibt, was meint ihr, wie lange sie unbemerkt bleiben würde? Was würde passieren, wenn uns wirklich der Treibstoff ausgeht und wir nicht mehr zurückkehren können?«

»Vielleicht gar nichts. Sie können einfach sagen, dass es ein bedauernswerter Fehler war.«

»Irgendwann würde die Wahrheit ans Licht kommen«, sagte Bella.

»Sicher – wenn man lange genug wartet, bis niemand mehr am Leben ist, den es noch interessiert, was vor langer Zeit geschehen ist. Und selbst wenn ein paar Köpfe rollen, müssen es nicht zwangsläufig die richtigen sein.«

»Ist dir klar, was du von mir erwartest?«, sagte Bella.

»Ich wäre nicht zu dir gekommen, wenn ich nicht überzeugt wäre, dass die Beweise hieb- und stichfest sind.«

»Diese Zahlen, meinst du?«

»Sie sind ziemlich belastend. Zumindest genug, um sofort zu reagieren.«

»Womit du meinst, dass ich eine Klarstellung unserer Treibstoffsituation anfordern soll?«

»Nein«, sagte Svetlana mit plötzlicher Dringlichkeit. »Wir haben nicht mehr genug Zeit, um herumzusitzen und abzuwarten, bis sie sich ein neues Bündel Lügen ausgedacht haben. Wir müssen sofort abbrechen. Wir müssen umkehren und den Rückflug antreten.«

»Und Janus aufgeben?«

»Wenn ich dir erklären würde, dass die unmittelbare Gefahr eines Auseinanderbrechens des Schiffes droht, würdest die Mission bestimmt sofort abbrechen, nicht wahr?«

»Die Antwort auf diese Frage kennst du längst.«

»Dann musst du akzeptieren, dass diese Zahlen genauso fatal sind. Wir schaffen es bis Janus, aber für uns gibt es kein Rückflugticket.«

»Hast du verifiziert, dass wir nicht genug Treibstoff für die Rückreise haben?«

»Ich weiß, dass wir weniger Treibstoff haben, als sie uns weismachen wollen«, sagte Svetlana, deren Miene allmählich die Zuversicht verlor. »Ich hatte noch keine Zeit, eine dynamische Flugsimulation laufen zu lassen, um zu sehen, wie schlimm es wirklich steht. Aber wenn die Zahlen deutlich niedriger liegen als …«

»Svieta«, sagte Bella entgegenkommend. »Ich habe verstanden, dass du einen Anlass zur Sorge siehst, aber dafür muss es eine normale Erklärung geben.«

Svetlana stand wütend auf. »Was willst du sonst noch von mir hören?«

Parry erhob sich ebenfalls und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Bleib ruhig«, hörte Bella ihn leise sagen.

»Auf dieser Basis kann ich keine Entscheidung treffen«, sagte Bella. »Ich kann nicht plötzlich umdrehen und der Firma versuchten Mord vorwerfen, nur weil es ein paar Diskrepanzen zwischen zwei Dateien gibt.«

»Hier geht es um viel mehr als nur ein paar Diskrepanzen«, gab Svetlana zurück.

»Hör mir zu.« Bella unterdrückte ihren Drang, die Frau einfach niederzubrüllen. »Ich gebe dir recht, dass hier etwas Seltsames vor sich geht. Davon hast du mich überzeugt. Aber ich brauche mehr Beweise, bevor ich die Mission abbrechen kann.«

»Du meinst, das ist immer noch nicht genug?«

»Nicht aus meiner Perspektive. Ich brauche eine stichfeste Prognose unter realen Flugbedingungen, unter Berücksichtigung der Masse, die wir durch die zwei Treiber verloren haben. Ich will etwas in den Telemetrie-Logbüchern sehen, das deine Geschichte stützt.«

»Ich kann dir nichts geben, was nicht da ist.«

»Miss die noch vorhandene Treibstoffmenge in den Tanks. Benutze unsere Beschleunigungswerte, Newtons erstes Gesetz. Dazu müsstest du doch in der Lage sein.«

»Dabei käme nichts heraus, was dich überzeugen würde. Das hier ist der beste Beweis, den ich dir zu bieten habe.«

»Ich weigere mich zu glauben, dass sie so etwas mit uns machen würden«, sagte Bella.

»Dann solltest du dich ganz schnell daran gewöhnen«, sagte Parry.

 

In all den Jahren an Bord des Schiffes hatte Bella niemals Grund gehabt, einen ganz bestimmten Raum aufzusuchen. Doch jetzt befand sie sich in diesem Raum, zusammen mit Ryan Axford. Sie saßen auf Klappstühlen. Bella hatte eine Felljacke gegen die Kälte angezogen, und trotzdem wurden ihre Fingerspitzen bereits taub.

»Was ich mich frage, Ryan: warum vier? Warum nicht zwei oder sechs?«

»Darüber habe ich auch schon nachgedacht«, sagte Axford, dem die Kälte überhaupt nichts auszumachen schien. Er paffte an der Zigarette, die sie ihm angeboten hatte. Er rauchte, sagte er, weil er schon zu viele nichtrauchende Ärzte erlebt hatte, die sich anderen Süchten hingegeben hatten. Außerdem, so argumentierte er, gingen die Gesundheitsrisiken völlig im Zufallsrauschen unter, da es sich höchstens um Monate eines Lebens und keineswegs um Jahrzehnte handelte. »Irgendein Kosten-Nutzen-Analytiker muss entschieden haben, dass vier die optimale Zahl für unser typisches Missionsprofil und die Durchschnittszeiten zwischen zwei Shuttlebesuchen sein soll. Also machen wir uns noch ziemlich gut, nicht wahr?«

»Einer weniger, und da waren’s nur noch drei«, sagte Bella.

Die Enden von vier Leichenkästen nahmen eine Wand des engen stahlgrauen Raums ein. An den Enden der Kästen waren sogar metallene Etikettenhalter angebracht. Drei waren leer, doch nun hatte Axford eine Karte in den vierten gesteckt und sie mit seiner gewohnten ordentlichen Handschrift ausgefüllt. Die meisten Besatzungsmitglieder schrieben mit bemühten, kindlichen Buchstaben, wenn sie dazu gezwungen waren. Axford dagegen hatte die eleganteste und lesbarste Handschrift, die Bella jemals gesehen hatte. Sie war geradezu schön, beinahe kalligrafisch.

Laut Karte enthielt der Kasten die eingefrorene Leiche von Mike Takahashi, der durch einen Unfall bei einem Außeneinsatz gestorben war. Es gab einen indirekten Verweis auf die Kryokonservierung, eine Erwähnung der benutzten Chemikalien, aber nichts Offenkundiges. Axford musste keinen klaren Hinweis geben, dass er einen Menschen eingefroren hatte, damit er vielleicht wieder zum Leben erweckt werden konnte. Wenn die Rockhopper nach Hause zurückkehrte, würden die richtigen Leute erfahren, was geschehen war. Mehr Worte darüber zu verlieren wäre ein Anzeichen für hoffnungsloses Wunschdenken gewesen.

»Du bist nicht hierher runtergekommen, um dich beim Frostengel abzukühlen«, sagte Axford vorsichtig. »Etwas liegt dir auf dem Herzen.«

Bella hatte immer gut mit Ryan Axford reden können. Sie betrachtete ihn als eine Art zweiten Kommandanten ehrenhalber, ihren inoffiziellen Stellvertreter, vor allem, seit sich Chisholms Gesundheitszustand so sehr verschlechtert hatte. Sie vermutete, dass Bordärzte schon immer dieses unausgesprochene Privileg genossen hatten.

»Es ist ein Problem aufgetaucht.«

»Die Chinesen?«

»Nein – obwohl sich das natürlich auch zu einem Problem entwickeln könnte. Aber bei dieser Sache geht es um uns, um die Rockhopper.« Sie wartete darauf, dass er etwas sagte, aber Axford sah sie nur an der Zigarette vorbei an. Ein guter Zuhörer, dachte sie. »Es geht um Svetlana Barseghian. Ich vermute, dass du sie ziemlich gut kennst.«

»Sie war während des vergangenen Monats ein paarmal in meiner Abteilung. Zuerst hat sie sich auf ihrem Trainingsfahrrad einen Muskel gezerrt, vor zwei oder drei Wochen. Dann habe ich sie nach dem Unfall mit dem Massentreiber behandelt und noch eine Weile beobachtet.«

»Welchen Eindruck hat sie auf dich gemacht?«

»Es gibt eine ärztliche Schweigepflicht, Captain Lind.«

»War nicht so gemeint.«

Axford lächelte nachsichtig. »Sie wirkte so wie immer: gut in Form, sowohl mental als auch körperlich, ganz auf ihre Arbeit konzentriert. Keiner der Problemfälle wie … äh … ich glaube, du kannst diese Leerstelle selber ausfüllen. Aber Svieta gehört nicht zu den Leuten, die mir Kopfschmerzen bereiten. Die Besatzung mag sie. Ich mag sie. Sie ist attraktiv, intelligent und eine gute Teamspielerin.«

»Attraktiv? Ich hätte nicht gedacht, dass dir so etwas auffallen würde, Ryan.«

»Weil ich schwul bin?« Er bedachte Bella mit einem strengen Blick. »So etwas hatte ich, offen gesagt, nicht von dir erwartet.«

»Tut mir schrecklich leid. Das war ein unverzeihlicher Patzer.«

»Ich werde dir verzeihen, wenn du mir noch eine Zigarette gibst. Aber das ist für heute definitiv meine letzte. Also darfst du dir keine weiteren Entgleisungen erlauben.«

Sie reichte ihm die Packung, und er ließ die Zigarette für später in seiner Hemdtasche verschwinden. »Also, was ist mit Svieta los? Warum willst du wissen, was ich von ihr halte?«

»Sie ist mit einem Problem zu mir gekommen, einer technischen Angelegenheit, die unsere Chancen auf einen erfolgreichen Abschluss der Mission gefährden könnte. Obendrein ist es eine ziemlich beunruhigende Sache.«

»Aber du traust ihren Fähigkeiten, nicht wahr?«

Bella nickte entschieden. »Absolut. Sie hat noch nie einen Fehler gemacht.«

»Wo liegt also das Problem? Wenn sie sich Sorgen macht, solltest du dann nicht auf sie hören?«

»Es ist etwas komplizierter. Sie hat mich praktisch aufgefordert, die Mission abzubrechen. Mit der Rockhopper umzukehren und Janus zu vergessen.«

Axford pfiff leise. »Das ist allerhand!«

»Unter normalen Umständen hätte ich vermutlich keine Sekunde lang gezögert. Aber wir befinden uns nicht in normalen Umständen. Ein Teil von mir schreit, dass ich tun soll, was sie sagt. Ich vertraue ihr als Ingenieurin, ich vertraue ihr als Freundin, und ich habe keinen Grund zur Annahme, sie könnte die Gefahren aus privaten Gründen übertreiben. Aber es gibt noch einen anderen Teil von mir – nenn ihn meinetwegen meinen kaltherzigen Arschlochmodus –, der mir sagt, dass ich auf gar keinen Fall auf sie hören soll.«

»Mit welcher Begründung?«

»Svetlana hat eine technische Anfrage gestellt, weil ihr etwas an den Daten seltsam vorkam. Ich glaube wirklich, dass ihre Sorgen berechtigt sind. Ich habe die Zentrale angerufen und die Leute gebeten, sich die Sache anzusehen. Als Antwort kam eine technische Erklärung, die ihre Sorgen eigentlich hätte zerstreuen müssen.«

»Hat sie aber nicht.«

»Svetlana hielt die Erklärung für Schönfärberei. Also hat sie nach weiteren Beweisen gesucht und etwas gefunden, das noch beunruhigender aussieht.«

»Ich verstehe, warum dich das in eine Zwangslage getrieben hat.« Axford strich sich mit einer Hand über seinen gesprenkelten Anzug. »Hast du schon mit Craig Schrope darüber gesprochen?«

»Natürlich. Es wäre eine Unterlassungssünde gewesen, ihm gegenüber nicht zu erwähnen, welche Bedenken sie geäußert hat, nachdem sie zum ersten Mal zu mir gekommen war.«

»Und wie stand Craig dazu?«

»Er war genauso wie ich der Ansicht, dass Svieta ein ernstes Problem entdeckt hat. Und genauso wie ich dachte er, dass DeepShaft offensichtlich die Hinweise vertuscht hat.«

»Und die Beweise, die sie geliefert hat?«

»Davon habe ich Craig noch nichts erzählt.«

»Ich verstehe.«

»Darüber wollte ich mit dir reden. Inzwischen ist es eine sehr brisante Angelegenheit. Svetlana könnte sich ihr eigenes Grab schaufeln. Wenn sie recht hat, haben wir wirklich ein massives Problem, aber wenn sie sich irrt, wäre es das Ende ihrer Karriere. Man wird sie bei lebendigem Leib in die Grube schubsen. Ich möchte nicht, dass so etwas mit meiner Freundin passiert.«

»Was der Grund ist, warum du Craig die neuen Beweise bislang vorenthalten hast.«

»Du hast gehört, wie er Shalbatana ausgemistet hat. Dieser Mann schert sich einen Dreck darum, ob er sich Feinde macht. Das ist sein Job.«

Axford kniff die Augen zusammen. »Wie schätzt du Craig ein?«

»Die Besatzung mag ihn nicht. Aber sie wird auch nicht dafür bezahlt, ihn zu mögen. Er ist der richtige Mann auf dem richtigen Posten.«

»Er macht seinen Job wirklich gut«, räumte Axford ein. »Nicht jeder kann ein Jim Chisholm sein, der gleichzeitig geliebt und respektiert wird.«

»Apropos«, sagte Bella vorsichtig, »Jim ist der zweite Grund, warum ich mit dir reden wollte. Diese ganze Sache …«

»Du willst es Jim erzählen und mal hören, was er dazu sagt.«

»Ich weiß, dass er sehr krank ist, aber ich muss dringend mit ihm sprechen.«

»Kommt nicht in Frage«, sagte Axford und schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Tut mir leid, aber die emotionale Belastung ist für ihn schon jetzt hoch genug. Ich weiß, dass du triftige Gründe hast – die ich sehr gut nachvollziehen kann –, aber es täte ihm überhaupt nicht gut, wenn er jetzt wieder in den Morast der Führungspolitik hineingezogen würde.«

»Ich verstehe«, sagte Bella. Wenn sie ehrlich war, hatte sie nichts anderes erwartet. Axford hatte schon immer gut auf seine Patienten Acht gegeben. Sie hätte weniger Respekt vor ihm gehabt, wenn er in diesem Fall nachgegeben hätte – selbst in diesem Fall.

»Aber ich mache es dir nicht zum Vorwurf, dass du gefragt hast«, fuhr er fort. »Ich kann mir vorstellen, welchem Stress du ausgesetzt bist, aber ich glaube einfach nicht, dass Jim dir irgendetwas sagen würde, woran du nicht schon selber gedacht hast.«

»Und das wäre?«

Axford zog die zweite Zigarette hervor und entzündete sie. »Dass man als Captain ein Arschloch sein muss. Aber das weißt du ja längst.«