Einunddreißig


 

 

Bella stürmte in den Bunker. Ungeduldig ließ sie sich durch die zahlreichen Sicherheitsstaffeln schleusen. Martin Hinks hatte Dienst und überwachte die Untersuchungen. Der Würfel drehte sich in einer dichten Staffel aus Analyseinstrumenten. Hinks, der im zehnten Jahr nach dem Kontakt mit den Perückenköpfen geboren worden war, schreckte aus dem Schlaf hoch, als Bella eintrat, und gab sich alle Mühe, so zu tun, als wäre er hellwach.

»Schlaf weiter, Martin«, sagte Bella beruhigend. »Es ist alles in Ordnung.«

»Bella …«, begann er.

Aber Bella hatte bereits die rote Linie auf dem Boden überschritten. Ein Alarmsignal ertönte und warnte davor, dass die laufenden Messergebnisse beeinträchtigt werden könnten. Bella schob die robotischen Scanner beiseite und warf einen um, der nur auf einem dünnen Stativ stand. Die empfindliche Ausrüstung krachte zu Boden. Hinks äußerte seinen Protest etwas energischer. Doch Bella beachtete ihn gar nicht.

Sie streckte den Arm aus und legte die bloße Hand auf eine glatte schwarze Seite des Würfels. Hätte man sie gefragt, hätte sie nicht genau erklären können, warum sie es tat. Sie wusste nur, dass der Drang, das Objekt zu berühren, überwältigend stark geworden war, als wäre ihr gesamtes Leben nur ein Vektor, der auf diesen einen Augenblick zielte. Als wäre sie nur geboren worden, um den Würfel zu berühren, und der Würfel nur dazu da, um sich von ihr berühren zu lassen.

Die sich bewegende Oberfläche war kalt wie Eis. Sonst war nichts zu spüren. Ihre Finger kribbelten, aber das war auch schon alles.

Bella zog sich verwirrt zurück. Nichts war geschehen.

Sie spannte die Finger. Sie wurden wieder mit jedem Jahr steifer, als würde sie einen unsichtbaren Handschuh tragen, der stellenweise hart wurde.

Immer noch tönte der Alarm. Sie blickte sich zu Martin Hinks um und erwartete seinen Zorn, weil sie das Experiment gestört hatte. Doch seine Miene zeigte nur Verlegenheit.

»Es tut mir leid«, sagte Bella. »Ich hätte nicht … ich wollte nur wissen, wie es sich anfühlt.«

»Kein Problem, Bella.«

»Es tut mir leid«, wiederholte sie.

Hinks verließ seinen Schreibtisch und ging zu dem umgestürzten Gerät. Behutsam stellte er es wieder auf. Das weiße Gehäuse hatte eine Beule, wo es aufgeschlagen war, und Bella fragte sich, ob das Ding überhaupt noch funktionierte. Wenn sie nicht für eine höhere Schwerkraft in Crabtree gesorgt hätten, wäre das alles kein Problem gewesen.

»Schon gut«, sagte Hinks. »Ich habe ihn berührt. Wir alle haben ihn berührt. Es ist einfach nur etwas, das man tun muss.«

»Habe ich etwas kaputt gemacht?«

Sie bemerkte sein Zögern, bevor er antwortete. Ja, sie hatte Schaden angerichtet. »Nein. Wir haben gerade erst mit diesem Experiment begonnen. Es wird nicht lange dauern, es neu zu starten.«

»Ich habe das Gerät beschädigt.«

»Das lässt sich reparieren. Alles wird wieder funktionieren.«

Der Würfel drehte sich weiter, und sie sah die raureifartigen Flecken, wo ihre Fingerspitzen eine Mikroschicht aus Fett und toten Hautschuppen auf der perfekten schwarzen Oberfläche des Artefakts hinterlassen hatten. Sie schämte sich. »Es tut mir leid, Martin. Ich habe alles ruiniert. Das ist durch nichts zu rechtfertigen.«

Hinks führte sie zu einem Stuhl und holte für sich selbst einen von einem Labortisch. »Kann ich dir vielleicht etwas zu trinken bringen, Bella?«

»Mir geht es gut«, sagte sie, doch im gleichen Moment wurde ihr bewusst, dass es ihr gar nicht gut ging. Erneut spannte sie die Hände und spürte, dass die Fingerspitzen immer noch kribbelten, als würden sie erst jetzt wieder durchblutet werden. Sie betrachtete noch einmal den Würfel. Er drehte sich immer noch, eine Seite ging in die nächste über, aber der Drang, ihn zu berühren, war verschwunden. Ihr Geist war so klar wie der Abendhimmel.

Viel zu klar, um genau zu sein. Wie eine Schultafel, die soeben sauber gewischt worden war.

»Martin«, sagte sie ruhig, »du musst etwas für mich tun. Ruf Ryan Axford an oder jemanden, der gerade Dienst hat, und sag, das man mich abholen soll. Ich glaube, der Würfel hat mich mit irgendetwas infiziert. Und sag, dass sie sich beeilen sollen.«

 

Sie schlief ein, wachte auf und schlief wieder ein. Axford war jedes Mal bei ihr. Er studierte einen ausgedruckten Bericht, tippte auf einer Tastatur Befehle in ein beruhigend antikes Stück medizinischer Hardware oder unterhielt sich flüsternd mit anderen Medizinern. Besucher kamen und gingen von den stillen Stunden des frühen Morgens bis in die Tagesschicht hinein. Bella beobachtete, wie die Uhr in großen Sprüngen weiterzählte und dann wieder für subjektive Stunden stillzustehen schien. Sie wusste, dass der Geist bei Fieber in schnellerem Tempo arbeitete und die Zeitwahrnehmung verzerrte. Etwas Ähnliches geschah nun mit ihr, während sich die Nanomaschinen des Würfels in ihrem Kopf austobten.

Inzwischen stand fest, dass ihr das Artefakt etwas injiziert hatte. Während der Berührung hatte sich seine Masse um ein halbes Gramm verringert.

Der Morgen ging träge in den Nachmittag über. Die Schicht wechselte, aber Axford war immer anwesend. Als er einmal vorbeikam und einen besorgten Blick auf irgendein Display warf, sah sie einen müden alten Mann, der auf die Gestalt eines kleinen Jungen zusammengequetscht war.

Der Nachmittag ging in den Abend über. Pfleger kamen und gaben ihr etwas zu trinken – vielleicht, um ihren Durst zu stillen oder um ihr irgendein Kontrastmittel für irgendeine Untersuchung zu verabreichen. Sie bekam nichts zu essen, aber sie hatte auch keinen Hunger. Gelegentlich hantierten sie mit dem Scannerkranz, den Axford ihr auf den Kopf gesetzt hatte, oder zapften Blut aus ihrem Daumen ab oder führten irgendeinen anderen unergründlichen Test durch, über dessen Sinn und Zweck sie nicht einmal Mutmaßungen anstellen konnte.

Später, in den frühen Morgenstunden, hatte sie einen weiteren Besucher.

Sie fühlte sich wacher als sonst. Normalerweise hörte sie das Zischen der Sicherheitstüren in der medizinischen Abteilung, ein kurzes Gespräch zwischen Besucher und Personal, geflüsterte Erkundigungen nach ihrem geistigen Zustand. Doch diesmal war nichts von alledem geschehen.

Der Besuch stand einfach nur an ihrem Bett.

Es war eine Frau, ganz in Weiß gekleidet. Bella sah nur ihr Gesicht und die Hände. Der Rest ihres Kopfes war von einer Art flachem Schleier aus demselben perlweißen Stoff wie ihr übriges Gewand bedeckt. Ihre Hände waren wie im Gebet verschränkt. Ihre Haut war dunkel, doch ihre ethnische Herkunft war schwer zu bestimmen. Der Körperbau mochte vom nordischen Typ sein, vielleicht sogar Inuit. Sie war auf strenge Weise schön, doch ihr Gesicht strahlte Güte und Weisheit aus, die in Bella tiefes Vertrauen erweckten.

»Hallo, Bella«, sagte die Frau. »Du kannst mich jetzt sehen, nicht wahr?«

Bella sammelte ihre Kraft und rief: »Ryan, komm bitte!«

Sie war sich nicht einmal sicher gewesen, ob Ryan noch da war, aber er eilte sofort herbei, mit einer Besorgnis, die jegliche Erschöpfung überwunden haben musste, die er möglicherweise empfand.

»Was ist los?«

»Ich halluziniere«, sagte Bella ruhig. »Ich bilde mir ein, dass ich eine Frau in Weiß sehe, die rechts neben dir steht.«

Axford blickte vorsichtig zur Seite. »Ich sehe nichts, Bella.«

»Aber sie ist da. So deutlich wie das Tageslicht. Und sie sieht mich an.«

»Bella«, sagte die Frau voller Mitgefühl, »es besteht kein Grund zur Beunruhigung.«

Axford justierte den Scannerkranz nach. Er zog die Brille aus der Tasche und setzte sie auf. Sie war viel zu groß für ein Kind. »Dein okzipitoparietales Areal ist sehr aktiv, genauso wie der auditorische Kortex«, sagte er und tippte mit einem Finger in die Luft, um ein Detail des Scans zu vergrößern.

»Dort müssen sich die Maschinen aufhalten. Ich glaube, sie lassen mich diese Halluzination sehen.«

»Beschreibe die Frau«, sagte Axford.

»Sie ist groß. Schwarze Haut. Ganz in Weiß gekleidet. Wie eine Nonne …« Bella runzelte die Stirn, als sie sich ihrer unpräzisen Ausdrucksweise bewusst wurde. »Aber sie ist keine Nonne. Es ist kein abgespeichertes religiöses Bild, das mein Geist in einem kritischen Moment abruft.«

Die Frau sah sie freundlich an, den Kopf zur Seite geneigt, und wartete, bis Bella zu Ende gesprochen hatte.

»Kommt sie dir bekannt vor?«

»Ich kann nicht allzu viel von ihrem Gesicht sehen. Ich habe nicht den Eindruck, dass ich ihr schon einmal begegnet bin.«

»Bella, hör mir zu«, sagte sie Frau mit unendlicher Geduld und Gelassenheit. »Du kennst mich nicht. Du bist mir nie begegnet. Es wäre auch kaum möglich gewesen. Ich lebte und starb lange Zeit, nachdem du uns verlassen hast.«

»Sie spricht mit mir, Ryan.«

Axford nahm die unpassende Brille von der Stupsnase. »In diesem Fall solltest du dir vielleicht anhören, was sie zu sagen hat.«

»Bella, die Kurzform meines Namens lautet Chromis Anemone Laubenvogel, aber du darfst mich Chromis nennen. Die vollständige Fassung wäre wohl eher eine Zumutung.«

»Hallo, Chromis«, sagte Bella und kam sich seltsam vor, während Axford sie beobachtete, aber keine Anstalten machte, die Anwesenheit der Frau zur Kenntnis zu nehmen. »Du kannst mich verstehen?«

»Ohne Schwierigkeiten«, antwortete Chromis mit einem Lächeln.

»Darf ich dich fragen, wer du bist und was du in meinem Kopf zu suchen hast?«

»Selbstverständlich. Es wäre sogar unhöflich von mir, mich nicht etwas genauer vorzustellen. Womit fange ich an? Sagen wir einfach, ich bin eine Politikerin von gewissem Rang. Du würdest mich vielleicht als Senatorin oder Parlamentsabgeordnete bezeichnen. Das Staatsgebilde, dem ich diene, besteht – oder bestand bei der letzten Zählung – aus einem Zusammenschluss von Welten in fünfzehntausend besiedelten Sonnensystemen, die sich über ein Raumvolumen von über viertausend Lichtjahren Durchmesser verteilen.« Chromis streckte die Hand aus und präsentierte Bella einen Ring, den sie am rechten Zeigefinger trug. Darin war ein geometrisches Muster eingraviert, das sich ständig vor Bellas Augen zu bewegen und zu verschieben schien und sichtlich von schwindelerregender Komplexität war. »Das ist das Siegel des Kongresses des Lindblad-Rings. So lautet der Name des politischen Systems, dem ich diene.«

»Du bist eine Botschaft aus der Zeit nach der Zäsur«, sagte Bella.

»Ich bin mir nicht sicher, was du mit ›der Zäsur‹ meinst. Ich kann dir nur so viel sagen, dass ihr das Sonnensystem der Erde nach eurem Kalender im Jahr 2057 verlassen habt. Das genaue Datum, zu dem ich diese Aufzeichnung anfertige, ist ohne Bedeutung, aber es dürfte genügen, wenn ich sage, dass seit eurem Abflug über achtzehntausend Jahre vergangen sind.«

Bella schüttelte den Kopf. »Nein. Wir haben erst zweihundertsechzig Lichtjahre zurückgelegt. Es ist viel Zeit vergangen … aber es waren nur Jahrhunderte und keine Jahrtausende.«

Chromis sah sie mit beinahe schmerzhafter Milde an. »Ein Irrtum ist ausgeschlossen, Bella. Wir wissen, was mit euch im Spica-System geschehen ist. Wir wissen genau, was während eurer Passage durch die Spica-Struktur geschehen ist.«

»Es war keine Passage«, sagte Bella, obwohl sie wusste, dass es sinnlos und kindisch war, gegen die gottgleiche Weisheit dieser Frau zu argumentieren. »Wir haben die Struktur erreicht, und jetzt befinden wir uns in ihr.«

»Ihr seid irgendwo«, sagte Chromis, »aber definitiv nicht in der Spica-Struktur.«

»Wie kannst du dir dessen so sicher sein?«

»Weil wir sie zerstört haben.« Ihr Gesicht nahm einen reuevollen Ausdruck an – das erste Anzeichen menschlicher Fehlbarkeit, das Bella an dieser ernsten, gebieterischen Frau wahrnahm. »Es geschah nicht absichtlich. Wir haben die Struktur untersucht, wir wollten die Prinzipien verstehen, die ihrer Funktion zugrunde liegen.«

»Wann?«, fragte Bella. »Wann habt ihr sie zerstört?«

»Nach meinem Kalender vor siebzehntausend Jahren – nach eurem ungefähr im frühen dreiunddreißigsten Jahrhundert. Und wenn ich sage, dass ›wir‹ sie zerstört haben, meine ich keine politischen Organe des Kongresses des Lindblad-Rings. Ich beziehe mich lediglich auf Vertreter der Menschheit – Menschen, die deiner Zeit viel näher als unserer sind.«

Bella schwirrte der Kopf, aber sie hatte nicht den leisesten Zweifel, dass Chromis die Wahrheit sagte. »Das sind eine Menge Informationen.«

»Ich weiß, und es tut mir leid.«

»Als du von der Passage gesprochen hast …«

»Ihr wart zweihundertsechzig Jahre mit neunundneunzig Komma neun Prozent der Lichtgeschwindigkeit zum Spica-Doppelsternsystem unterwegs. Ihr wart einem Zeitdilatationsfaktor von zweiundzwanzig unterworfen, wodurch diese zweihundertsechzig Jahre zu zwölf Jahren subjektiver Zeit verkürzt wurden, wie sie von euren Uhren gemessen wurde.«

»Es waren dreizehn Jahre«, sagte Bella.

»Nein. Wenn in der Tat dreizehn Jahre seit eurem Aufbruch vergangen sind, liegt es daran, dass ihr zwölf Jahre benötigt habt, um zu Spica zu gelangen, und ein weiteres Jahr, um euren gegenwärtigen Aufenthaltsort zu erreichen.«

»Trotzdem bin ich …«

Chromis fiel ihr behutsam ins Wort. »Die Spica-Struktur war ein Booster, Bella. Er hat euch auf eine Geschwindigkeit beschleunigt, die noch näher an der des Lichts liegt. Ein Zeitdilatationsfaktor von zweiundzwanzig ist zwar recht hoch, aber er war immer noch ungenügend für die lange Reise, die ihr schließlich angetreten habt.« Chromis’ Miene zeigte Anstrengung, als würde es ihr Unbehagen bereiten, diese Informationen weiterzugeben. »Ich möchte eine Analogie aus eurer Epoche benutzen, Bella. Die ersten zweihundertsechzig Lichtjahre eures Flugs – die ersten zwölf Jahre subjektiver Zeit – waren lediglich die Fahrt vom Terminal bis zur Startbahn. Die Spica-Struktur war die Startbahn. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte eure Reise noch gar nicht richtig begonnen.«

Bella wollte es leugnen, aber die Frau sprach mit solcher Überzeugungskraft, dass kein Platz für Zweifel blieb. Chromis sagte die Wahrheit. »Und wohin geht diese Reise?«, fragte sie.

Chromis sah sie beschämt an. »Wir sind uns immer noch nicht sicher. Während eurer Passage durch die Struktur befanden sich die nächsten Sonden, die euch folgten, hundert Lichtjahre hinter euch. Ihre Beobachtungen konnten nur aus großer Entfernung angestellt werden. Sie empfingen schwache Signale von euren Flugrobotern, die genügten, um die Veränderung eurer Geschwindigkeit zu messen, während ihr durch die Struktur geschleust wurdet. Doch als ihr herauskamt, gingen diese Signale verloren.«

»Ihr konntet uns nicht mehr sehen.«

»Nein. Die Hülle war zu dunkel, sie absorbierte zu viel.«

Bella vermutete, dass sie den Eisernen Himmel meinte. »Aber ihr müsst doch eine ungefähre Vorstellung gehabt haben, wohin unser Flug ging.«

»Wir hatten eine Vermutung. Wir haben den Kurs extrapoliert und ein Gegenstück zur Spica-Struktur lokalisiert, das weitere zweitausend Lichtjahre entfernt ist. Ein weiterer Booster oder vielleicht ein Kurskorrekturelement. Wir wussten, dass ihr diese Struktur wahrscheinlich nach zweitausend Jahren erreichen würdet, aber darüber hinaus gab es für uns keine Möglichkeit, euch zu verfolgen oder den neuen Zeitdilatationsfaktor zu schätzen. Ihr wart zu dunkel und zu schnell. Wir haben euch verloren.«

»Aber ihr habt uns wiedergefunden«, sagte Bella.

»Wir haben euch nie vergessen«, sagte Chromis. »Die Janus-Anomalie hat den Lauf der Geschichte verändert. Das Existenztheorem besagt, dass es immer einfacher ist, eine Lösung zu finden, wenn man sich gewiss sein kann, dass eine existiert. In den ersten hundert Jahren nach eurem Abflug gab es umwälzende Durchbrüche in der Grundlagenphysik. Janus hat uns angeregt, nach Schlupflöchern in Theorien zu suchen, die seit Jahrzehnten als wasserdicht galten. Irgendwann hatten wir den Frameshift-Antrieb entwickelt. Er war nicht so leistungsfähig wie die Maschinen von Janus, und wahrscheinlich arbeitete er nicht einmal auf dieselbe Art und Weise, aber er erfüllte seinen Zweck. Achtzehntausend Jahre der Expansion, Bella, bei annähernd Lichtgeschwindigkeit. Der Frameshift hat uns ein großartiges Imperium der Menschheit verschafft. Der Kongress des Lindblad-Rings ist nur eins von vielen politischen Gemeinwesen im menschlichen Herrschaftsgebiet. Ich repräsentiere eine kleine Gruppe ähnlich gesinnter Systeme – etwa einhundertdreißig Welten –, die durch langjährige Handelsbeziehungen und gemeinsame demokratische Grundlagen miteinander verbunden sind. Man könnte sie als Bundesstaat oder Verwaltungsbezirk innerhalb des Kongresses bezeichnen. Es gibt Hunderte solcher Verwaltungsbezirke, manche davon mit sehr fremdartigen Gesellschaftssystemen. Aber wie ich bereits erwähnte – man hat euch nie vergessen. Euer Opfer war für uns eine große Inspiration.«

»Unser Opfer?«

»Selbst als klar wurde, dass ihr Janus nicht mehr entkommen könnt, habt ihr weiter Daten nach Hause gesendet. Wie du versprochen hast.«

»Habe ich das?«

»Das Interview, Bella«, sagte Chromis geradezu ehrfürchtig. »Du musst dich doch daran erinnern.«

»Ich bin mir nicht sicher.«

Chromis veränderte ihre Stimmlage, um Bella nachzuahmen. »Ich bin Bella Lind, und Sie sehen CNN.«

Bella blinzelte. »CNN. Du hast gerade CNN gesagt.«

»Das Interview wurde in den Jahren nach eurem Abflug noch viele Male wiederholt, Bella. Es wurde zum Vorbild der Tapferkeit, für die edelste Form der Selbstlosigkeit. Kinder mussten es auswendig lernen, wie ein Gebet oder die Unabhängigkeitserklärung einer Nation.«

»Es fällt mir schwer, damit klarzukommen.«

»Die Janus-Daten haben die Geschichte verändert. Sie haben die Entwicklung von hundert verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen beschleunigt und Zusammenhänge offenbart, die zuvor niemand für möglich gehalten hätte. Unser Wissen über Massenenergie, Masse und Trägheit gewann plötzlich logische Vollständigkeit. Ihr habt uns die Sterne zugänglich gemacht, und dafür sind wir euch sehr, sehr dankbar. Aber gleichzeitig war es für uns immer selbstverständlich, dass euer endgültiges Ziel, eure letztliche Bestimmung, unbekannt bleiben muss. Die Booster haben euch in die Zukunft transportiert, wo ihr außerhalb unserer Reichweite wart.« Chromis lächelte züchtig. »Dann hatten wir eine bescheidene Idee. Es war um die Zeit des zehntausendsten Jahres seit der Besiedlung der ersten Welt des Kongresses des Lindblad-Rings. Viele Vorschläge, wie dieses Jubiläum am besten begangen werden sollte, standen im Wettstreit. Mein Volk entsandte mich, um den Delegierten auf Neu-Florenz einen Plan vorzulegen, und nach einiger Überzeugungsarbeit wurde er akzeptiert. Wir wollten das Andenken an die Gründung ehren, indem wir eine Botschaft an die Wohltäterin schickten.«

»Ich vermute, diese Wohltäterin bin ich.«

»Vielleicht erkennst du jetzt allmählich die Bedeutung, die du für uns gewonnen hast. Diese Botschaft sollte natürlich unseren Dank übermitteln, aber sie sollte auch für die Wohltäterin und ihre Mitreisenden nützlich sein, wo auch immer sie sich aufhalten würden. Es ist offensichtlich, dass ich diese Botschaft bin. Als Initiatorin des Projekts wurde meine Persönlichkeit in den Gedächtniswürfel codiert, den ihr gefunden habt.«

»Wie habt ihr uns erreicht?«, fragte Bella. »Wie weit ist der Würfel gereist?«

»Das kann ich dir nicht sagen. Wir haben diese Würfel in großer Zahl hergestellt. Es gibt kaum etwas, das sie zerstören könnte, außer sie stürzen in einen Stern. Wir haben in extrem langfristigen Dimensionen gedacht.« Chromis schien Bellas nächste Frage zu erahnen. »Wir haben sie in alle Richtungen ausgeschickt. Sie mittels automatischer Sonden über die gesamte Galaxis verteilt. Sie in den Orbit um hundert Millionen toter Welten gebracht. Sie in den intergalaktischen Raum geschossen, auf Flugbahnen, die sie irgendwann in das Gravitationsfeld aller größeren Galaxien und kleineren Sternencluster der Lokalen Gruppe führen würden. Einige haben wir weit über die Grenzen der Lokalen Gruppe ins Universum hinausgeschickt, in Richtung der großen Galaxienhaufen. Es wird natürlich eine Weile dauern, bis sie dort eintreffen. Manche haben wir sogar in nackte Schwarze Löcher stürzen lassen, in der Hoffnung, dass ihre Informationen gespeichert und in unermesslich ferner Zukunft freigesetzt werden, wenn die Schwarzen Löcher ihre Entropie an das Universum zurückgeben. Wir haben viertausend Jahre lang unermüdlich Würfel hergestellt. Natürlich haben wir nicht erwartet, tatsächlich Erfolg zu haben – es war eher eine Geste, es gehörte sich einfach so.«

»Aber ihr wart erfolgreich«, sagte Bella. »Ein Würfel hat mich gefunden.«

»Ja, aber es lässt sich nicht sagen, wo oder wann es geschah. Ich weiß nur, dass dieser Würfel – diese Kopie, in der diese Persönlichkeit codiert ist – einer der letzten war, die je gestartet wurden. Zu diesem Zeitpunkt lief das Jubiläumsprojekt schon seit fast viertausend Jahren, und in all dieser Zeit wurde nie ein Kontakt gemeldet.« Chromis verschränkte nervös die Finger. »Wir können davon ausgehen, dass ihr eine sehr weite Strecke zurückgelegt habt. Ansonsten hätten wir von euch gehört, bevor der letzte Würfel auf den Weg gebracht wurde.«

»Aber du kannst mir nicht sagen, wie weit wir gereist sind.«

»Der Würfel kennt nur seine eigene Geschichte. Er verfügt über keine Informationen, wie viel objektive Zeit vergangen ist, bis du ihn berührt hast. Es mag sein, dass er schon hundertmal gefunden wurde und wieder verloren ging. Auf jeden Fall war es eine lange Reise.«

»Erzähl mir alles, was bis zu diesem Zeitpunkt geschehen ist«, sagte Bella.

»Hab Geduld«, erwiderte Chromis. »Alles zu seiner Zeit.«