Fünfzehn
Gegen Ende des dritten Jahres seit der Landung hielt Mike Sheng auf seiner einsamen, gemächlichen Inspektionstour inne. Er stand im schummrigen Licht der Schlundkammer und war vom gewaltigen Uhrwerk des Stromgenerators umgeben. Er ging die Optionen seines Helmdisplays durch, weil er genug Black Sabbath gehört hatte. Obwohl es gegen die Vorschriften verstieß, schauten sich einige Arbeiter Kung-Fu- oder Pornofilme an, sodass ihre Aufmerksamkeit zwischen den Bildern auf der Helmscheibe und der realen Welt hinter dem Glas geteilt war. Sheng, der die Grenzen seiner Fähigkeit zum Multitasking kannte, war dazu immer viel zu gewissenhaft gewesen. Entweder hörte er Musik oder nicht, und wenn er gründlich nachdenken musste, störte sie einfach nur.
Aber diese Arbeit stellte keine hohen Ansprüche an ihn. Während seiner Schicht lief er zweimal einen inzwischen hinlänglich vertrauten Weg ab, zwischen surrenden Maschinen hindurch, unter Zahn- und Schwungrädern hindurch. In festgelegten Abständen hielt er an, um die Stabilität eines Lagers oder einer Verbindung zu überprüfen. An seinem mit Ballastgewichten ausgestatteten Orlan-19 hingen zusätzliche Taschen mit Vakuumschmiermittel, und wo es nötig war, benutzte er den Spritzschlauch, den er am Gürtel trug, um einen Schuss auf ein heiß oder trocken gelaufenes Bauteil zu geben. In einer idealen Welt hätten sie das gesamte Uhrwerk mit Wärmesensoren und Überwachungskameras gespickt, aber sie befanden sich auf Janus, und Janus war – wie es unter den Außeneinsatzteams hieß – alles andere als eine ideale Welt.
Auch an anderen kritischen Systemen wurden dringend weitere Kameras und Sensoren gebraucht, aber der Schmiedekessel war immer noch nicht in der Lage, komplexere Gegenstände hervorzubringen. Wenn sich eine Aufgabe durch die Inspektion eines aufmerksamen Menschen erledigen ließ, dann würde es genauso gemacht. Sheng nahm seinen Job sehr ernst, denn er wusste, wie viel von der reibungslosen Funktion des Uhrwerks abhing. Gleichzeitig gehörte die Inspektion zu den weniger anstrengenden Pflichten.
Sheng ging seine kleine Dateienliste durch und entschied sich für ein Rockstück aus der mittleren Periode, das er sich aus Parrys wesentlich umfangreicherer Musikbibliothek kopiert hatte. Einige der anderen Arbeiter machten sich über Parrys Geschmack lustig, aber wenn man den Hintergrundlärm der Generatoren und Pumpen übertönen wollte, gab es kaum etwas Besseres als verstärkte Gitarren, hämmerndes Schlagzeug und lautes Gebrüll, ganz gleich, in welcher Epoche es aufgenommen worden war. Es war treibende Musik – genau der richtige Treibstoff.
»Tomorrow begat tomorrow …«, sang Sheng mit, während die Musik seinen Helm erfüllte wie das Geräusch eines entgleisenden Güterzugs. Mit dem langen Zylinder der Schmiermitteldüse in der Hand nahm er ein paar aggressive Posen ein, genauso wie der axtschwingende Held, als den er sich insgeheim gerne sah. Er wusste, dass diese Posen in einem uralten orangefarbenen Orlan-19 völlig albern aussahen, aber sein einziges Publikum waren uralte außerirdische Maschinen. Sheng war sich ziemlich sicher, dass es diesen Maschinen absolut gleichgültig war.
Doch mit dieser Vermutung lag Sheng nicht ganz richtig.
Die Maschinen hatten keine Ahnung von der Bedeutung seiner Gesten, aber sie waren tatsächlich auf ihn aufmerksam geworden. Sie hatten kein Problem damit, dass die Menschen kamen und gingen, mit ihren primitiven Werkzeugen herumhantierten oder ihnen sogar mit einer zusammengeschusterten Konstruktion aus Zahnrädern und Dynamos Energie abzapften. Auf dieser Ebene schenkten die Maschinen ihnen nicht die geringste Beachtung, da ihre Handlungen keine Konsequenzen nach sich zogen. Doch an Sheng entwickelten die Maschinen ein etwas intensiveres Interesse. Unbemerkt veränderten sich die Symbole um ihn herum und nahmen warnende Konfigurationen an. Es war gar nicht so sehr das, was er getan hatte, sondern eher die Art und Weise, wie er es getan hatte. Die Maschinen achteten sehr genau auf Muster. Sie war vor allem darauf programmiert, Wiederholungen zu erkennen.
Und Sheng war ein Gewohnheitstier. Er lief jedes Mal den gleichen Weg ab.
Er war ihn während vieler Schichten gegangen, und mit jeder Wiederholung war das Interesse der Maschinen ein bisschen mehr geweckt worden. Hätte Sheng sich für einen anderen Rundgang entschieden, hätte sich die Aufmerksamkeit der Maschinen sofort verringert. Dann hätte er nichts zu befürchten gehabt. Solange er nicht in die Gewohnheit verfiel, die neue Route zu wiederholen. Aber nun war die höchste Aufmerksamkeitsschwelle der Maschinen überschritten. Die Warnsymbole, die Sheng nicht entziffern konnte, drängten ihn, sein stereotypes Verhaltensmuster zu ändern.
Sheng setzte seinen gewohnten Weg fort. Dann wurden die Zeichen um ihn herum schwarz.
Allmählich wurde er sich der Veränderung bewusst, obwohl er noch nicht sagen konnte, was eigentlich geschehen war. Er blieb stehen, befestigte die Schmiermitteldüse am Gürtel und stellte die Musik ab. Die Räder des Uhrwerks setzten ihre langsame Rotation fort. Es war nicht die regelmäßige Bewegung von Maschinen, sondern von Individuen, was die spicanischen Systeme misstrauisch machte.
Sheng drehte sich langsam im Kreis. Nun erkannte er, dass Dunkelheit herrschte, wo es zuvor ein dichtes Geflecht aus Symbolen gegeben hatte. Zum ersten Mal verspürte er ein leichtes Unbehagen.
Er schaltete den Sprechfunk ein. »Hier Mike. Ich bin im oberen Bereich des Uhrwerks, Generator fünf. Hier scheint irgendetwas sehr Seltsames …«
Mehr konnte er nicht sagen.
Die Maschinen reagierten mit barmherziger Schnelligkeit. Unter seinen Füßen befand sich plötzlich die Öffnung zu einem lichterfüllten Schacht, der kilometertief in den Abgrund einer gewaltigen Maschinenhöhle führte. Ein heftiges lokales Gravitationsfeld ergriff ihn, und er stürzte wie ein Expresslift ins Herz von Janus, wo er innerhalb weniger Sekunden zerlegt und recycelt wurde. Wo Sheng gestanden hatte, schloss sich die Öffnung. Die Symbole wechselten zu den früheren Konfigurationen zurück.
Sheng war spurlos verschwunden.
Erst nach sechs Monaten und einem weiteren Todesfall konnte aufgeklärt werden, was mit ihm geschehen war. Während das Uhrwerk unbeirrt die Arbeit fortsetzte, durchkämmten Svetlanas Ermittler die Umgebung des Schauplatzes. Parry war mit der Leitung der Untersuchungen beauftragt. Sheng war sein Freund gewesen, und er wollte nicht, dass sein Tod ein ungelöstes Rätsel blieb.
Er zog die Möglichkeit eines Mordes in Betracht, auch wenn nie eine Leiche gefunden wurde. Obwohl Sheng recht beliebt gewesen war, hatte er sich während der Krise an Bord der Rockhopper auf die Seite des alten Regimes geschlagen. Seit der Landung hatte es Gerüchte gegeben, dass die Anhänger der alten Linie – vor allem jene, die direkt gegen Svetlana aktiv geworden waren – auf Schritt und Tritt von wachsamen Augen verfolgt wurden.
Aber Sheng hatte nie erwähnt, dass jemand Drohungen gegen ihn ausgesprochen hatte, und die Schlundkammer war ein eher unpassender Ort für einen Hinterhalt. Vom Personal, das gleichzeitig dort stationiert war, schien niemand ein plausibles Mordmotiv zu haben. Und keine andere Person konnte in den Schlund gelangt sein und sich unbemerkt wieder entfernt haben.
Also war es kein Mord. Ein Selbstmord war ebenfalls recht unwahrscheinlich, wenn man bedachte, dass Sheng offenbar versucht hatte, jemanden zu Hilfe zu rufen, bevor sein Funkgerät abrupt verstummt war. Gabriela Ramos, die zum Zeitpunkt seines Todes eine Affäre mit ihm hatte, war völlig außer sich. Sie hatte an ihm nichts von depressiven Stimmungen bemerkt, und sie beharrte darauf, dass es eine andere Erklärung geben musste.
Parry glaubte ihr, aber er wusste nicht, wo er noch nachsehen sollte. Die Untersuchung des Uhrwerks erbrachte keinen Hinweis auf ein Missgeschick. Es war bereits zu grausigen Unfällen gekommen, wenn sich jemand zu nahe an die Maschinen herangewagt hatte, aber in diesen Fällen hatte es immer handfeste blutige Beweise gegeben.
Schließlich war Parry auf eine Idee gekommen, die eher auf Verzweiflung als auf systematischen Schlussfolgerungen beruhte. Er schickte einen Techniker los, der Shengs bekannte Route abgehen sollte. Vielleicht war der Vermisste gegen etwas gestoßen oder hatte sich irgendwo festhalten müssen. Vielleicht kam man auf diese Weise dem Rätsel auf die Spur.
Beim ersten Mal geschah nichts. Dann korrigierte Parry die Route, weil sich herausstellte, dass sie beim ersten Mal einen Fehler gemacht hatten. Seit Shengs Tod war eine kleine Veränderung am Aufbau des Uhrwerkmechanismus vorgenommen worden.
Während des zweiten Versuchs, Shengs Weg zu rekonstruieren, reagierten die Maschinen. Sie verwechselten den Menschen keineswegs mit Sheng, aber sie bemerkten, dass er dem gleichen Weg folgte. Shengs Verhalten hatte einen tiefen Eindruck im Gedächtnis der Maschinen hinterlassen. Nun waren sie darauf konditioniert, sehr genau auf Musterwiederholungen zu achten, obwohl seit dem ersten Todesfall Monate vergangen waren. Für Janus spielte es keine Rolle, ob es Monate oder Jahrhunderte waren.
Die Maschinen gaben die übliche großzügige Vorwarnung. Der Ermittler beobachtete die Veränderungen in den spicanischen Symbolen, die genauso von den Flextops und Kameras der anderen Techniker registriert wurden.
»Nicht bewegen«, sagte Parry, voller Ehrfurcht, dass sie endlich eine spürbare Reaktion der Maschinen provoziert hatten, auch wenn noch nicht klar war, was diese Reaktion eigentlich ausgelöst hatte. »Scheint die Sache zu sein, weswegen Mike angerufen hat …«
Der Ermittler machte einen weiteren Schritt, um seine Füße auf ebenen Boden zu bringen.
Das genügte – die Schwelle war überschritten. Janus schnappte sich den Mann mit der gleichen erstaunlichen Schnelligkeit wie bei Mike Sheng. Diesmal jedoch gab es Zeugen. Sie sahen, wie sich der Boden öffnete und den Ermittler verschluckte. Man unternahm erfolglose Versuche, die wieder versiegelte Oberfläche zu durchbrechen, obwohl bislang kein Werkzeug auch nur den leichtesten Kratzer auf einer spicanischen Maschine hinterlassen hatte. Es war zu spät, und irgendwo war es allen klar.
Langsam begriff man, was geschehen war. Es war Parry, der mutig ein weiteres Mal die gleiche Route abschritt, bis sich die Konfiguration der Symbole änderte. Er wich zurück und beobachtete, wie die Zeichen wieder in den Normalzustand versetzt wurden. Er wagte sich erneut einen Schritt vor, und wieder kam es zur Veränderung.
Man hatte immer noch keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte. Wenn sich die Ermittler auf anderen Routen durch die Maschinen bewegten, geschah nichts. Es dauerte noch einen Monat, bis die Idee aufkam, dass Janus darauf programmiert war, Wiederholungsmuster zu bestrafen, und dass Sheng beseitigt worden war, weil er ständig dem gleichen Weg gefolgt war.
Danach war es einfach, diese Theorie zu überprüfen. Das Team arbeitete neue Routen durch die Maschinen aus und folgten ihnen Schicht für Schicht, während sie nach den winzigsten Veränderungen in den Symbolen achteten. Wenn das geschah, wichen sie sofort von der vorgegebenen Route ab. Es war ein gefährlicher Job, und Parry sorgte dafür, dass die Freiwilligen, die durchs Labyrinth stapften, mit zusätzlichen Rationen und Kilowattstunden belohnt wurden.
Neue Anweisungen wurden ausgegeben. Die Arbeiter im Schlund und überall dort, wo spicanische Maschinen in der Nähe waren, wurden angehalten, Tätigkeiten zu vermeiden, die sich exakt wiederholten. Sie sollten sich bestimmte Symbolmuster merken und auf Veränderungen achten. Manche schnitzten sich Würfel aus Resten von Anzugfutter und trugen sie in durchsichtigen Beuteln am Gürtel mit sich. Wenn sie eine Route planen mussten, würfelten sie, um einen Zufallsfaktor in ihre Bewegungen einzubringen, auch wenn sich dadurch die zurückzulegende Strecke verdoppelte.
Es schien zu funktionieren. Niemand war sich ganz sicher, ob auch innerhalb der Kuppeln am und im Schlund auf Mustervermeidung geachtet werden sollte, da dort bisher noch niemand zu Schaden gekommen war. Aber die meisten Arbeiter zogen es vor, keine unnötigen Risiken einzugehen. Sie würfelten zwar nicht, wenn sie sich in ihren Unterkünften aufhielten, aber sie gewöhnten sich an, Möbel und Trennwände alle paar Tage neu anzuordnen, um den Anschein von Routine zu durchbrechen.
In den Kuppeln und Tunneln von Crabtree auf der Eiskappe nahm das Leben weiter seinen normalen Gang. Parry sah keinen Grund, zusätzlichen Druck auf die Menschen auszuüben, die ohnehin mit Entbehrungen und einer unsicheren Zukunft leben mussten. Wenn Janus sie bis jetzt in Ruhe gelassen hatte, würde er es mit hoher Wahrscheinlichkeit auch weiterhin tun. Außerdem waren sie durch kilometerdicke, tonnenschwere Eisschichten von den unsichtbaren Maschinen isoliert.
Doch jedes Mal, wenn Parry zur langen, einsamen Fahrt von Crabtree aufbrach, verflüchtigte sich diese beruhigende Sicherheit. Er sah sich selbst aus dem Blickwinkel der Maschinen: ein einzelnes Ding, das weit von seinesgleichen entfernt war und der pfeilgeraden Linie der supraleitenden Kabel folgte. Und er stellte sich die Maschinen tief unter dem Traktor vor, wie sie mehr und mehr Aufmerksamkeit auf ihn richteten und auf den Moment warteten, wenn er die obskuren Voraussetzungen für eine wiederholte Handlung erfüllte. Er sagte sich, dass die Maschinen ihm durch die dicke Eisschicht nichts anhaben konnten, aber gleichzeitig war ihm bewusst, dass er sich auf Janus aufhielt, wo man nichts als selbstverständlich betrachten durfte.
Nachdem er Crabtree hinter sich gelassen hatte, steuerte er den Traktor aus diesem Grund vom Kabel weg und folgte einem unregelmäßigeren Kurs. Die Fahrt wurde holpriger, da der Weg nur direkt am Kabel eingeebnet worden war. Wenn es ihm zu viel wurde, kehrte er zurück. Manchmal wagte er sich zu weit hinaus und verlor das Kabel aus den Augen.
Dazu kam es während dieser Fahrt. Es schien ungewöhnlich lange zu dauern, bis er das Kabel wieder erkennen konnte, worauf er feststellte, dass er sich aus der falschen Richtung näherte. Er fragte sich, ob er unbemerkt darüber hinweggefahren war und sich nun auf dem Rückweg nach Crabtree befand. Er hatte erwartet, demnächst die Kuppel zu sehen.
Er wollte schon umkehren, als seine Scheinwerfer die Spitze der Kuppel erfassten, die über den Horizont eines Eishügels in der Nähe hinausragte. Als sein Ziel in Sicht war, gab er Gas. Der Traktor sprang über einen Grat und verlor einen unangenehmen Moment lang den Kontakt mit dem Boden. Unter Vollgas erreichte das Gefährt ein Siebentel der Fluchtgeschwindigkeit, mit der es sich ganz aus dem Schwerkraftfeld von Janus befreit hätte. Auf Janus zu fahren war eine Kunst, die Parry vermutlich niemals meistern würde, also holte er alles aus seinen bescheidenen Fähigkeiten heraus, weil er seine Tour so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte. Schließlich kam er schlitternd an der Stelle zum Stehen, wo das Stromkabel in der teigigen Basis der Kuppel verschwand. Mehrere Ausrüstungspaletten standen neben dem sanft schimmernden Gebäude, doch es waren keine weiteren Fahrzeuge in Sicht.
Er stieg aus dem Traktor und wischte sich die Eisschicht von der Helmscheibe. In allen Richtungen herrschte Dunkelheit. Nur die Kuppel und der Traktor erhellten eine kleine Lichtfläche. Crabtree war schon vor Stunden hinter dem Horizont verschwunden. Sein Helmdisplay hätte die Navigationssignale von den Transpondern anzeigen müssen, aber in letzter Zeit waren immer mehr ausgefallen. Ohne das Kabel hätte Parry während der Rückfahrt keine Orientierung. Die Vorstellung, hier draußen verloren zu sein, durch die finstere Janus-Nacht zu wandern, bis sein Anzug versagte und er den Kälte- oder Erstickungstod starb, lauerte bedrohlich im Hintergrund seiner Gedanken.
Er fragte sich, wie lange Bella gebraucht hatte, um sich daran zu gewöhnen.
Die Kuppel war vom Standardtyp, den sie auch während der Einsätze auf Kometen benutzt hatten. Man hatte sie mit Sprühstein fixiert und eine zusätzliche Isolierschicht aufgetragen, was im Grunde nur eine psychologische Maßnahme war. Die Strahlungsdosis auf der Rückseite von Janus war niedriger als sonst im interstellaren Raum, da sich die meisten kosmischen Strahlen zu langsam bewegten, um den ehemaligen Mond einholen zu können. Selbst die Gammastrahlung war in den Röntgen-Bereich verschoben. Und hier auf der Heckseite gab es keine interstellaren Staub- oder Gasmassen, die ihnen Schwierigkeiten gemacht hätten. Das Vakuum im Kielwasser von Janus war möglicherweise das reinste in der ganzen Galaxis.
Parry hob eine Frachtkiste von der Ladefläche des Traktors auf und ging zur Luftschleuse. Er wartete, bis sein Anzug mit dem Schließmechanismus Kontakt aufgenommen hatte, und öffnete dann einen Kanal zur Kuppel.
»Bella«, sagte er. »Hier ist Parry. Darf ich reinkommen?«
Er musste längere Zeit warten, bis sie ihm antwortete. In ihrer trocken krächzenden Stimme schwang gleichzeitig Misstrauen und Hoffnung mit. »Parry?«
»Lass mich rein, Bella. Ich habe etwas für dich.«
Die rote Lampe über der Luftschleuse wechselte zu Grün. Er öffnete die äußere Tür und zwängte sich hinein. Die Automatik brauchte sehr lange, um Atmosphäre in die Kammer zu pumpen, und als er den Helm öffnete, roch die Luft stickig. Die Kuppel hatte offenbar eine Generalüberholung nötig, aber dazu müsste Bella eine Woche lang anderswo untergebracht werden.
Das würde Svetlana niemals zulassen.
Die innere Tür ging auf und gab den Blick auf einen schwach erleuchteten Raum frei. Zwischen den verschiedenen Bereichen der Kuppel waren Trennwände aus Papier aufgestellt. Leuchtknoten schimmerten in mattem Gold. Sie waren so sehr gedimmt, dass sie fast aus waren. Die wenige Energie, die Bellas Gefängnis zugeteilt wurde, diente hauptsächlich dazu, sie am Leben zu erhalten. Das Kabel, das von Crabtree herführte, war schon sehr alt und zu stark beschädigt, um im Schlund von Nutzen zu sein. Parry hatte es gewusst, aber es war trotzdem ein Schock, als er sah, wie wenig Strom es lieferte. Einen noch größeren Schock erlitt er, als Bella aus dem Zwielicht hinter einer zerrissenen Papierwand trat. Es war, als wäre sie selbst nur noch aus Papier. Sie wirkte abgezehrt und gealtert, als wären Jahrzehnte und nicht nur drei Jahre vergangen.
»Bella«, sagte er und bemühte sich um ein Lächeln.
»Warum bist du gekommen?«, fragte sie. »Ich weiß, dass sie nicht möchte, dass irgendjemand Kontakt zu mir hat. Schon gar nicht du.«
Parry stellte die Kiste ab. »Darf ich mich setzen?«
»Tu, was du willst. Das alles hier gehört dir.«
Er setzte sich auf die Kiste und schaute sich um, während sich seine Augen widerstrebend an das schwache Licht gewöhnten. Der Raum war spartanisch eingerichtet, und nichts deutete darauf hin, dass Bella versucht hatte, ihn nach persönlichen Vorlieben zu gestalten. Eine Kiste mit Mahlzeiten in Silberfolie stand an einer Wand. Die meisten schienen nie angerührt worden zu sein. Man brachte Bella zu essen und zu trinken, und gelegentlich fuhr Ryan Axford oder jemand aus seinem Team hinaus, um nach ihr zu sehen. Ab und zu kam jemand und reparierte eine Pumpe. Das war alles. Es gab keine Freundschaftsbesuche, nicht einmal von ihren alten Verbündeten.
Es hatte zwei Versuche gegeben, sie aus der Haft zu befreien, aber beide Male hatte es nicht funktioniert. Ohne Ash Murrays Unterstützung waren die Befreier darauf angewiesen, Raumanzüge zu entwenden, die zur Überholung ausgemustert worden waren. Beim ersten Mal hatten Thale und seine Mitverschwörer die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht, als es zu Fehlfunktionen der Anzüge kam und sie unverrichteter Dinge nach Crabtree zurückkehren mussten. Saul Regis hatte nur mit einer guten Portion Glück überlebt, und Svetlana hatte darauf verzichtet, sie allzu schwer zu bestrafen. Beim zweiten Mal, nicht lange nach seiner Haftentlassung, hatte Thale es geschafft, ganz allein zu Bella zu gelangen. Trotzdem war er mit leeren Händen zurückgekommen und von Vertretern des Justizausschusses empfangen worden.
Niemand wusste, was zwischen Bella und Thale vorgefallen war und warum er allein zurückgekehrt war. Doch nach allem, was Parry über Bella wusste, hatte sie sich vermutlich geweigert, ihn zu begleiten, weil sie nur mit offiziellem Segen aus dem Gefängnis entlassen werden wollte. Ihr musste klar gewesen sein, dass sie nicht genügend Unterstützung finden würde, um Crabtree demokratisch oder mit Gewalt zu übernehmen, und dass die Siedlung keine zweite gewalttätige Auseinandersetzung überleben würde. Also hatte sie entschieden, zum Wohl der Gemeinschaft in ihrem Gefängnis zu bleiben.
Thale war festgenommen und zu einer längeren Haftstrafe verurteilt worden.
Parry hatte sich bei Svetlana dafür eingesetzt, dass Bellas Haftbedingungen erleichtert wurden, aber Svetlana hatte nur die Sicherheitsmaßnahmen verschärft. Die Häufigkeit der Besuche wurde reduziert. Ihre Stromzuteilung wurde um dreißig Prozent gekürzt, sodass sie viele Stunden im Dunkeln verbringen musste. Ohne Zugang zum Schiffsnetz beschränkten sich ihre Informationen über Crabtree auf das, was sie während der seltenen persönlichen Besuche erfuhr. Svetlana hatte klar gemacht, dass Gespräche unerwünscht waren, die über die reinen Notwendigkeiten hinausgingen, wenn neue Vorräte geliefert, die Kuppel repariert oder ihr Gesundheitszustand untersucht wurden.
Parry glaubte, dass die meiste Zeit Svetlanas Wünschen entsprochen wurde. Mit Ausnahme von Axford und den anderen Medizinern waren Bellas Besucher Personen, die sich während der Krise gegen sie gestellt hatten. Ausgesprochenen Lind-Anhängern wurden gar keine Besuche gestattet.
Bella setzte sich auf eine andere Kiste und legte die Hände in den Schoß. Sie trug drei oder vier Schichten Kleidung, aber sie wirkte trotzdem abgemagert. Sie hatte sich das Haar länger als je zuvor wachsen lassen, und es war grauer geworden. Nur noch ein paar lachsfarbene Schatten waren zu erkennen. Es war ungepflegt und klebte ihr in fettigen Strähnen auf der Stirn.
»Worum geht es?«, fragte sie und betastete ihre Haizahnkette, die vor Schmutz gelb geworden war.
Parry griff an seinen Mehrzweckgürtel und zog eine kleine Pappschachtel hervor. »Jemand hat das hier gefunden. Wir hatten gedacht, es wären gar keine mehr übrig.«
Er reichte ihr die Zigarettenschachtel. Sie zögerte einen Moment, während ihr Blick ihn durchbohrte und nach einer Falle suchte. Dann streckte sie eine knochige Hand aus und nahm ihm die Packung ab. Sie fummelte daran herum, bis sie sie geöffnet hatte und auf die ordentliche Reihe der weißen Röhrchen starrte.
»Weiß sie, dass du hier bist?«
»Natürlich.«
»Aber du bist nicht den weiten Weg gekommen, nur um mir Zigaretten zu bringen, Parry.«
»Es geht um mehr als nur die Zigaretten.« Dann fiel ihm etwas ein und er kramte noch einmal in der Gürteltasche, bis er ein Feuerzeug hervorzog. Auch das gab er an Bella weiter und sah dann schweigend zu, wie sie eine Zigarette entzündete und sie bis zum Filter herunterrauchte.
»Etwas stimmt nicht. Du wärst nicht zu mir gekommen, wenn nicht irgendetwas faul wäre.« Dieser Gedanke schien sie auf geradezu perverse Weise zu entzücken – obwohl ihr bewusst sein musste, dass ihr Überleben voll und ganz von Crabtree abhängig war. »Was ist es? Sag es mir.«
»Nicht, was du denkst«, sagte Parry. »Es sieht nicht gerade blendend für uns aus, aber es ist nicht so schlimm, wie wir noch vor einem Jahr befürchtet haben. Das Schlund-Projekt …« Er hielt inne, als ihm einfiel, dass Bella eigentlich nichts von dem monströsen Uhrwerk im Innern von Janus wissen sollte. Aber was konnte es schaden, wenn sie von ein paar Dingen erfuhr? »Wir haben eine Möglichkeit gefunden, dem Mond Energie abzuzapfen«, sagte er. »Ein paar andere Probleme müssen noch gelöst werden, aber im Großen und Ganzen läuft es recht gut.«
»Ich habe die Stromausfälle bemerkt. Hier draußen wird es kalt und dunkel.« Sie erschauderte leicht. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie kalt und dunkel es hier draußen wird.«
»Ich kann es mir sehr gut vorstellen«, sagte Parry leise.
»Ihr vergeudet ein mehrere Kilometer langes supraleitendes Kabel, um mich hier mit Strom zu versorgen«, sagte Bella. »Ihr könnt mich jederzeit nach Crabtree zurückholen und das Kabel für einen sinnvolleren Zweck benutzen.« Sie drückte den aufgerauchten Zigarettenstummel auf dem Deckel der Kiste aus, auf der sie saß. »Oder mich einfach sterben lassen.«
»Darum geht es nicht«, sagte Parry. »Das Kabel ist zerschlissen. Wir könnten es am Schlund gar nicht gebrauchen.«
»Dann könntet ihr es anderswo einsetzen.«
»Du kannst nicht nach Crabtree zurückkehren, zumindest jetzt noch nicht. Vielleicht eines Tages … wenn sich die Lage gebessert hat.«
Bella lachte. Es war ein abgehacktes rasselndes Geräusch, als hätte sich ein Stein in ihrer Kehle verklemmt. »Svieta wird mich nie mehr in ihrer Nähe dulden.«
»Es tut mir leid, dass es so gekommen ist«, sagte Parry traurig.
»Bist du noch mit ihr zusammen?«
»Ja«, antwortete er vorsichtig.
»Es wird ihr nicht gefallen, dass du auch nur ein Wort mit mir gewechselt hast.«
»Vielleicht. Sie wird sich wieder beruhigen. Sie hat diesen Besuch genehmigt, also kann sie es mir kaum zum Vorwurf machen, dass ich mit dir spreche.«
Bella kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. »War auch Craig Schrope damit einverstanden?«
Parry wandte den Blick ab. »Schrope ist an solchen Entscheidungen nicht beteiligt.«
»Das habe ich auch gehört. Eine Art innere Emigration. Ein katatonischer Schock. DeepShaft war sein Leben, und DeepShaft hat ihm einen Arschtritt verpasst. Das kann einen ganz schön fertigmachen, selbst einen Roboter wie Schrope. So war es doch, nicht wahr?«
»Das kannst du mit Ryan ausdiskutieren.«
»Geht es in Wirklichkeit darum? Um einen Arztbesuch?«
Parry klopfte gegen die Kiste, auf die er sich gesetzt hatte. »Hier drinnen ist ein leichter Orlan. Wenn du einverstanden bist, mich zu begleiten, ziehst du ihn an und wir gehen. Ich fahre dich nach Crabtree, und nach sechs Stunden bringe ich dich zurück.«
»Sechs Stunden?«
»Das ist lange genug. Du hast jede Menge Zeit, mit ihm zu reden, und danach wird Ryan dich durchchecken.«
Wieder kniff sie die Augen zusammen. »Mit wem reden?«
»Jim Chisholm«, sagte Parry.
Sie reagierte mit der Andeutung eines Nickens, und er wusste, dass sie nichts vergessen hatte, auch nicht das winzigste Detail.
»Ich hätte nicht gedacht, dass Jim noch am Leben ist. Ich dachte, er hätte nur noch Wochen …« Sie blickte Parry in die Augen, und zum ersten Mal seit seiner Ankunft hatte er das Gefühl, wieder die alte Bella zu sehen, wenn auch nur für einen flüchtigen Moment. »Wie geht es ihm, Parry?«
»Es könnte besser sein«, sagte er.
Bella legte den Anzug an und verließ ihr Gefängnis. Es gab eine Sprechverbindung, sodass Parry sich während der langen Fahrt nach Crabtree alle Mühe gab, Bella so gut wie möglich vorzubereiten, obwohl er mit einer Hälfte seiner Aufmerksamkeit den Traktor lenken musste und sich sehnsüchtig wünschte, dass die Lichter des hohen Habitats bald am Horizont erschienen.
Bella wusste mehr und weniger, als er erwartet hatte. Offenbar hatten einige ihrer Besucher doch nicht nur Vorräte ausgetauscht und ihren Blutdruck gemessen. Trotzdem hatte sie Wissenslücken. Sie wusste von Wang Zhanmin und seinen heroischen Bemühungen, den Schmiedekessel wieder zum Leben zu erwecken. Sie wusste ein bisschen über Ofrias und Gombergs Arbeit mit den spicanischen Symbolen. Sie wusste nichts über das Schlund-Projekt oder das Studium der Lavastraßen oder die Tatsache, dass Jim Chisholm noch am Leben war.
»Wang hatte chinesische Medikamente an Bord seines Schiffs«, sagte Parry. »Einige davon waren fortgeschrittener als alles, was Ryan in seinem Koffer hatte. Damit konnte er das Wachstum des Tumors verlangsamen.«
»Verlangsamen, aber nicht stoppen.«
»Das ist leider nicht möglich. Wang sagte, es wären nur Notmedikamente, nicht einmal die besten, die sie zu Hause haben.«
»Wir haben uns den Chinesen gegenüber falsch verhalten«, sagte sie. »Völlig falsch. Wir hätten sie willkommen heißen müssen, ihre Hilfe annehmen müssen.«
»Jetzt ist es zu spät, sich deswegen Vorwürfe zu machen.«
»Ich glaube, wir könnten genauso falsch liegen, was die Spicaner betrifft.«
Parry fragte nach, aber mehr wollte sie zu diesem Thema nicht sagen. Die Bemerkung ging ihm während des ganzen Fluges nicht aus dem Kopf, bis Crabtree am Horizont auftauchte. Zuerst war der Turm mit dem zylinderförmigen Habitat an der Spitze zu sehen, dann die weiter draußen gelegenen Bauten, dann die abgeteilten Gräben, in denen man Wasser aus dem Eis gewonnen hatte. Sie durften keine Energie dafür vergeuden, den Turm von außen anzuleuchten, aber das Licht aus den Fenstern und von den umgebenden Kuppeln zeichnete deutlich seinen Umriss nach. Der Widerschein zog sich an den Halteseilen empor, die wie Spinnweben bläulich schimmerten.
»Das ist das erste Mal, dass ich es sehe«, sagte Bella mit hörbarer Ehrfurcht in der Stimme.
»Es ist unser Zuhause.«
»Es sieht gar nicht mehr wie ein Raumschiff aus. Wenn ich es nicht wüsste …« Sie verschluckte den Rest des Satzes. »Wie viele sind es jetzt?«
»Einhundertsechsundvierzig – fünf mehr als bei unserer Ankunft.«
»Kinder«, hauchte Bella, als wäre es eine Art Beschwörung, die nur selten und mit großer Vorsicht ausgesprochen werden durfte. »Wie … wie geht es ihnen?«
Parry lenkte den Traktor um einen Eisgraben herum. Am anderen Ende sägte ein Roboter mit einem Schneidstrahl einen Block aus dem Eis. »Sie scheinen sich ganz gut zu entwickeln. Wir passen sehr gut auf sie auf. Wir überlassen nichts dem Zufall.«
»Dies ist kein Ort für Kinder«, sagte sie.
»Wir leben hier. Kinder gehören zum Leben.« Er nahm eine Hand vom Lenkrad des Traktors und zeigte auf das Habitat. »Sie verbringen viel Zeit da oben, in der Zentrifuge. Sechs Stunden pro Tag, bei eins Komma fünf Ge. Das kostet Energie, aber wir müssen ihnen mehr Schwerkraft zur Verfügung stellen, als Janus zu bieten hat.«
»Und das funktioniert?«
»Ryan sagt, dass das Knochenwachstum normal zu verlaufen scheint.«
»Er ist kein Kinderarzt.«
»Er lernt dazu.« Parry legte die Hand wieder ans Lenkrad, weil es nun eine Tunnelrampe hinunterging, ins Labyrinth der Korridore unter Crabtree. »Das tun wir alle, Tag für Tag. Wir bemühen uns zu lernen. Was hast du vorhin übrigens gemeint, dass wir mit den Spicanern falsch liegen könnten?«
Doch Bella ging nicht auf die Frage ein. Schweigend fuhren sie in eine Parknische, deren Wände mit den Kringeln hastig aufgetragenen Sprühsteins bedeckt waren. Roboter und Traktoren warteten im Vakuum, aber es war kein Mensch da, um sie zu begrüßen. Parry und Bella stiegen aus und machten sich auf den Weg zu einer großen Luftschleuse, die mit Maschinenteilen übersät war.
»Es freut mich, dass ihr die Siedlung nach Thom benannt habt«, sagte Bella, als sie in der Schleuse standen. »Es war schlimm, was wir ihm angetan haben.«
»Was sie ihm angetan haben«, stellte Parry behutsam richtig.
»Nein«, widersprach Bella. »Wir haben es getan. Wir alle. Dich und mich eingeschlossen.« Sie stampfte mit dem Fuß auf den Boden. »Und das ist unsere Buße.«
Ryan Axford residierte immer noch in seiner alten Krankenstation in einer der zwei Habitat-Zentrifugen. Er war allein, als Parry Bella vorbeibrachte. Die Beleuchtung in der medizinischen Abteilung war auf die niedrigste Einstellung gedimmt. Er stand von einem Schreibtisch mit Mikroskop auf. In der Hand hielt er eine kleine Glasscheibe, die mit etwas Gelbem beschmiert war. Er trug einen zerknitterten grünen Kittel und weiße Handschuhe.
»Hallo, Bella«, sagte er. »Schön, dass du wieder da bist.«
Dass Axford deutlich älter aussah, konnte Bella nicht erschrecken oder überraschen, da sie ihn während ihres Exils häufiger getroffen hatte. Sie konnte nur ahnen, welches Arbeitspensum er seit ihrer Ankunft zu bewältigen hatte. Er hatte jünger als vierundvierzig gewirkt, als sie zur Jagd auf Janus aufgebrochen waren, aber jetzt, nach Jahrzehnten aufreibender Arbeit, wäre er mit Ende fünfzig durchgegangen. Das angegraute kurze Haar, an das sie sich erinnerte, war inzwischen schneeweiß.
»Wie ich hörte, wird mein Aufenthalt nicht von langer Dauer sein«, sagte Bella.
»Sechs Stunden sind besser als gar nichts. Wir werden einfach das Beste daraus machen.«
Sie lehnte sich gegen einen Schrank. Es herrschte nicht einmal volle Erdschwerkraft – während ihres Besuchs war die Zentrifuge offenbar verlangsamt worden –, aber nach drei Jahren in der Mikrogravitation von Janus war es trotzdem eine ungewohnte Belastung. Sie musste nach Luft schnappen, bevor sie weitersprechen konnte. »Parry hat mir erzählt, dass du dich neuerdings auf dem Gebiet der Kinderheilkunde weiterbildest.«
»Nicht zu vergessen die Geburtshilfe«, fügte Axford mit einem Lächeln hinzu. »Natürlich nicht nur ich. Da sind auch noch Jagdeep, Thomas, Judy … Gayle.«
Thomas Shen und Gayle Simmons hatten während der Krise auf Svetlanas Seite gestanden. Bella fragte sich, was es Axford abverlangt hatte, sein Team trotz dieser Kluft zusammenzuhalten. Die Falten in seinem Gesicht schienen die Geschichte der Anstrengungen zu erzählen, die ihn diese Art von Heilung gekostet hatten.
»Parry sagte, dass es bereits mehrere Kinder gibt.«
»Ja, und ein weiteres ist unterwegs«, sagte Axford. »Eigentlich sollte ich es dir gegenüber nicht erwähnen, aber in Crabtree weiß es jeder. Svetlana ist schwanger.«
»Schön für sie.«
»Ich vermute, du hast noch nicht davon gehört, dass sie schon ein Kind verloren hat. Eine Tochter. Ich habe getan, was ich konnte, aber …« Axford stockte, als wäre ihm plötzlich etwas in die Kehle geraten.
»Es tut mir leid, dass sie ihr Kind verloren hat«, sagte Bella, und für einen kurzen Moment ließ sie sogar zu, dass es stimmte.
»Sie hatten sie Hope genannt. Aber die Hoffnung war eine Totgeburt. Schon seltsam …«
»Erlaubst du, dass ich mich setze, Ryan?«
»Ich bestehe sogar darauf.« Während sie zu einem Stuhl schlurfte, legte er den Objektträger weg, zog sich die Handschuhe von den Fingern und griff nach einem Flextop, um einen Blick in ihre Akte zu werfen. »Wie ist es dir seit der letzten Untersuchung ergangen?«
Bella lächelte matt. »Besser als Craig, wie ich andeutungsweise vernommen habe.«
»Also gibt es nichts zu berichten?« Er sah sie aufmunternd an. »Keine Zipperlein?«
Mit den Füßen spürte sie das leise Rumpeln der Zentrifuge. »Ach, nichts, was der Rede wert wäre. Manchmal wache ich schreiend auf, weil ich Angst habe, dass draußen etwas lauert und in die Kuppel einzudringen versucht. Manchmal erwische ich mich dabei, wie ich nackt in der Luftschleuse stehe und schon fast draußen bin. Manchmal finde ich einen scharfen Gegenstand und überlege, ob ich mich umbringen soll.«
»Jeder von uns hat mal einen schlechten Tag.«
»Das sind eher die guten.«
Er machte sich eine Notiz auf dem Flextop. Er hielt den Schreibstift genauso, wie Chirurgen ein Skalpell hielten, vier Finger am Schaft, wie bei einem Violinbogen. »Aber etwas hält dich davon ab. Etwas hält dich zurück, wenn du einfach Schluss machen könntest.«
»Die Pflicht«, sagte Bella. »Etwas lässt nicht zu, dass ich diese Mission und meine Verantwortung im Stich lasse.«
»Deine Verantwortung war in dem Augenblick beendet, als Svetlana den Laden übernahm.«
»Nein«, sagte sie leise. »Seitdem ist es nur noch schwerer geworden. Ich habe Frieden geschlossen, weil ich wusste, dass Svietas Leute nur dadurch die Möglichkeit erhielten, den anderen zu vergeben und mit ihnen zusammenzuarbeiten. Es war das Einzige, was ich tun konnte, um die Besatzung wieder zusammenzuführen.«
»Du hattest keine andere Wahl. Sie hat diese Entscheidung getroffen, nicht du.«
»Ich habe sie akzeptiert.« Sie ballte eine Hand zur Faust und legte sie ans Herz. »Das bedeutet nicht, dass es mir gefallen hat.«
Axford legte den Flextop auf den Schreibtisch zurück. Bella bemerkte, dass die Farben auf der Bildfläche nicht stimmten und viele tote Hexel die Anordnung der Iridophoren verunstalteten. »Du weißt, dass du viele Freunde in Crabtree hast. Fast die Hälfte der Bevölkerung stand auf deiner Seite. Viele von denen, die sich Svetlana angeschlossen haben, sind nur Parrys Beispiel gefolgt. Und du weißt, dass Parry nichts gegen dich persönlich hat.«
Sie nickte und dachte daran, wie Parry ihr die Zigaretten mitgebracht hatte.
»In den vergangenen zwei Jahren haben wir immer wieder darauf gedrängt, dir das Leben leichter zu machen«, sagte Axford. »Wir können noch nicht viele Fortschritte verzeichnen, aber wenn die Energieprobleme erst einmal gelöst sind, wird sich bestimmt etwas …«
»Ich will nicht, dass es für mich einfacher wird«, sagte sie. »Ich will, dass es härter wird.«
»Dieser Wunsch könnte durchaus in Erfüllung gehen – zumindest solange Svetlana das Sagen hat. Sie bringt es kaum fertig, deinen Namen auszusprechen.«
»Das habe ich gehört.«
»Nimm es dir nicht zu sehr zu Herzen. So läuft es meistens, wenn tiefe Freundschaften zerbrechen. Und niemand kann abstreiten, dass ihr beiden sehr gute Freundinnen wart.«
»Wie auch immer sie zu mir steht … ich werde es ihr nicht übel nehmen.« Bella senkte den Blick und kam sich plötzlich wie ein kleines verletzliches Kind vor. »Ich wusste, dass Janus uns auseinander reißen würde«, sagte sie. »Ich habe es kommen sehen, lange bevor die Lage wirklich schlimm wurde. Ich habe das Wetterleuchten am Horizont gesehen.«
»Halt durch«, sagte Axford. »Für all deine anderen Freunde. Für uns alle, denen noch etwas an dir liegt.«
»Ist es wahr, was ich über Craig Schrope gehört habe?«
»Ich hoffe immer noch, dass Craig sich wieder fängt«, sagte er, aber etwas in seinem Tonfall verriet, dass er in Wirklichkeit nicht mehr damit rechnete. »Crabtree braucht jedes Paar Hände. Die Gemeinschaft muss ihn sowieso versorgen, also könnte er auch etwas für seinen Lebensunterhalt tun.«
»Hat er versucht, sich umzubringen?«
»Wenn man bedenkt, wie wenig wir ihm in seinem Quartier erlauben, müsste er dazu schon sehr viel Kreativität entwickeln. Und ich glaube, dass er noch nie besonders kreativ war.«
»Stimmt«, sagte Bella. »Das glaube ich auch. Ist er hier oben?«
Axford nickte vorsichtig. »Es ist besser, wenn er in meiner Nähe ist.«
»Ich würde ihn gerne sehen.«
»Tut mir leid. Das kann ich unmöglich erlauben.«
»Svetlana muss es nicht erfahren. Wer sollte es ihr erzählen?«
»Ich.«
»Du könntest dich dafür entscheiden, es nicht zu tun. Und Craig dürfte es wohl kaum ausplaudern, nicht wahr?«
»Warum, Bella? Was liegt dir daran? Craig hat sich gegen dich gewandt. Er hat dir das Schiff abgenommen.«
»Er dachte, dass es die richtige Entscheidung war. Damals habe sogar ich mich immer wieder gefragt, ob er nicht vielleicht recht hatte. Ich möchte ihm nur sagen …« Sie zögerte und sah Axford mit flehendem Blick an, jenem Ausdruck, der ihr in der Vergangenheit schon so viele Türen geöffnet hatte. »Nur ein kurzer Moment mit ihm. Mehr nicht.«
Er legte den Kopf schief und rümpfte die Nase. »Sie wird mich bei lebendigem Leib häuten, wenn sie es jemals erfährt.«
»Sie wird es nicht erfahren.«
»Zwei Minuten, Bella. Mehr nicht.«
»Danke.«
Er zog einen Schlüssel aus der Tasche und führte sie zu einer Tür mit einem kleinen runden Fenster in Kopfhöhe. Axford schlich sich auf Zehenspitzen heran und lugte hinein. »Er ist wach. Das ist gut. Ich hätte ihn nur ungern geweckt.«
Axford ließ sie eintreten. Er blieb an der Tür stehen und behielt Bella und seinen Patienten im Auge. Craig Schrope saß auf der Bettkante. Er trug einen weißen Pyjama. Er schaukelte langsam vor und zurück, hatte die Hände im Schoß verschränkt, entweder im Gebet oder als Ausdruck einer intensiven, unheimlichen Angst. Sein Schädel war fast kahl geschoren und er roch stark nach Desinfektionsmitteln. Sein Gesicht war eine erschreckend leere Maske und hatte die wächserne Blässe einer Schaufensterpuppe. Er bewegte die Lippen, aber sonst nichts. Er sagte etwas, er bildete Worte, die knapp unterhalb der Hörbarkeitsschwelle blieben.
»Hallo, Craig«, sagte Bella. »Ich bin es, Bella. Ich wollte dich besuchen. Wie geht es dir?«
»Er wird dir nicht antworten«, warnte Axford sie leise.
Bella ging in die Hocke, um mit Schrope auf gleicher Augenhöhe zu sein. Er starrte auf den Boden und ließ nicht erkennen, ob er ihre Anwesenheit bemerkte.
»Craig, hör mir zu. So muss es nicht sein.«
»Bella«, schnurrte Axford.
Sie berührte Schropes Knie. »Etwas Schlimmes ist mit uns allen geschehen«, sagte sie. »Du wurdest in etwas hineingezogen, mit dem du nie etwas zu tun haben wolltest. Seitdem war es für dich sehr schwer, Craig, wahrscheinlich schwerer als für uns alle. Ich kann mir kaum vorstellen, was du durchmachst. Aber wir brauchen dich. Komm zurück.«
Axford löste sich von der Tür und legte Bella die Hand auf die Schulter.
»Wir sollten jetzt mit deinen Untersuchungen beginnen, Bella.«
Sie hörte nicht auf ihn, sondern legte die Hand unter Schropes glatt rasiertes Kinn. Sie versuchte seinen Kopf zu heben, damit sie ihm in die Augen sehen konnte. Doch er war starr wie eine Leiche.
»Ich habe einmal etwas Schlimmes zu dir gesagt, Craig. Du weißt, was ich meine. Ich habe mich entschuldigt … aber das war nicht genug. Ich möchte es noch einmal sagen. Ich möchte, dass du weißt, was du für ein feiner Kerl immer noch für mich bist. Du kannst jederzeit zu uns zurückkommen.«
Unter dem Druck, den sie ausübte, gab sein Kopf ein winziges Stück nach. Aber er sah sie nicht an. Sie ließ ihn los und stand auf.
Axford führte die Untersuchungen zügig durch – Blutwerte, Knochendichte, Strahlenbelastung. Abgesehen vom Kalziumabbau durch den ständigen Aufenthalt in der Mikrogravitation war Bella im Großen und Ganzen gesund. Sie trainierte regelmäßig in ihrer Kuppel, und sie legte Wert darauf, es auch an ihren schlechten Tagen zu tun. Vielleicht nahm sie sich dort irgendwann selbst das Leben, aber sie wollte es sich nicht von Janus nehmen lassen.
Sie hasste den Mond und wollte ihm kein Stück nachgeben.
Als sie fertig waren, zog sich Axford mit ihr in einen Nebenraum zurück und erzählte ihr von Jim Chisholm.
»Ich gebe ihm noch eine oder vielleicht zwei Wochen geistiger Klarheit. Das Glioblastom interferiert mit seinen normalen Hirnfunktionen. Es quetscht einige Areale zusammen und dringt in andere ein. Außerdem zieht es Blut und Nährstoffe ab. Er hat erhöhte arterielle und venöse Hypoxie. Sein Gehirn wird praktisch durch das Blastom ausgehungert. Stoffwechselendprodukte stören die normale Neurochemie. In den letzten sechs Monaten habe ich deutliche Konzentrationsdefizite beobachtet.«
»In welchen Bereichen?«, fragte sie.
Axford zählte es an den Fingern ab. »Sprache, Begriffsvermögen, räumliche Vorstellung – all das ist nicht mehr so gut ausgeprägt, wie es einmal war. Die Krämpfe werden schlimmer, und entsprechende Mittel verschaffen nur eingeschränkt Erleichterung.« Axford erhob sich von seinem Stuhl und versuchte eine optimistische Miene aufzusetzen. »Aber heute hat er einen guten Tag. Ich glaube, Jim weiß es. Deshalb hat Parry dich hergeholt.«
»Damit ich mich von Jim verabschieden kann?«
»Unter anderem.«
»Es überrascht mich, dass Svieta es erlaubt hat.«
»Jim wollte mit dir sprechen. Eine solche Bitte konnte sie ihm schlecht abschlagen.«
»Das muss für sie ein harter Brocken gewesen sein.«
»Sie hat Jim schon immer gemocht und respektiert. Sie hätte es sich ewig zum Vorwurf gemacht, wenn sie es abgelehnt hätte.«
»Mehr steckt nicht dahinter? Jim möchte mich nur noch ein letztes Mal sehen?«
»Das ist eine Sache zwischen Jim und dir«, sagte Axford.
Seit die Rockhopper auf Janus verankert worden war, hatte Axford seine medizinische Abteilung um einige angrenzende Räume erweitert. Bella vermutete, dass er in diesen Tagen mehr Patienten als zuvor hatte, nicht nur die Kinder und die schwangeren Frauen, sondern auch all die Leute, die mit Krankheiten zu ihm kamen, die andernfalls erst nach ihrer Rückkehr zur Erde behandelt worden wären. Jim Chisholm hatte er in einem eigenen Raum untergebracht, der mit Pflanzen und Bildern an den Wänden eingerichtet war. Hier war es sauber, aber es gab deutliche Abnutzungsspuren. Von den grünen Kacheln an Wänden und Decke waren Stücke abgebrochen, und auf dem Boden waren Flecken, die sich nicht mehr beseitigen ließen.
Eine Wand war mit Iridophoren übersät, durchbrochen von Sprenkeln aus toten Zellen, wie Schimmel auf Blättern. Ein Portal zum Schiffsnetz war geöffnet, auf beiden Seiten flankiert von einer Röntgenaufnahme oder Tomografie eines menschlichen Schädels im Querschnitt. Die Knochen, das Gewebe und die flüssigen Sekrete zeichneten sich in blassblauen Monochromtönen ab, eingeblendet waren Zahlen und Text in Weiß. Bella konnte den Tumor erkennen, der sich auf einer Seite des Gehirns ausgebreitet hatte wie ein Sturmtief im Golf von Mexiko. Er war um ein Drittel größer geworden, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, und er wirkte irgendwie bösartiger.
Als sie eintraten, beugte sich Gayle Simmons über die Gestalt auf dem Bett und brachte eine beigefarbene Manschette an. Sie lag wie ein übergroßer Armreifen um Chisholms knochendürres Handgelenk.
»Ich gebe dir so viel Zeit, wie du brauchst«, sagte Axford, »aber pass auf, dass du ihn nicht übermäßig anstrengst. Du musst hier nicht sofort wieder verschwinden – ich kann mir jederzeit irgendwelche Untersuchungen ausdenken, die ich noch mit dir durchführen muss.«
»Danke«, sagte Bella und drückte seine Hand.
Simmons trat vom Bett zurück, als Bella näher kam. Sie bemerkte, dass etwas um ihren Hals lag, eine Ansammlung von Kunststoffstücken in Primärfarben, die an einer Nylonschnur aufgefädelt waren. Sie flüsterte Axford etwas zu, dann verließen die Mediziner den Raum, sodass Bella mit Chisholm allein war.
Anfangs sah es aus, als wäre der Patient komatös oder geistig abwesend und würde sie gar nicht wahrnehmen. Er starrte geradeaus auf einen Punkt an der Decke. Sie trat ans Bett und wollte ihn ansprechen, als er den Kopf um ein paar Grad in ihre Richtung drehte.
»Bella«, sagte er. »Schön, dass du gekommen bist.«
»Das ist das Mindeste, was ich tun kann.«
Er tastete nach der Lesebrille, die an einer elastischen Schnur um seinen Hals hing. »Hat man dich gut behandelt?«
Sie fragte sich, wie viel er wusste. Sie überlegte, ob sie ihren Besuch bei Schrope erwähnen sollte, entschied sich aber dagegen. Schließlich konnte man nicht behaupten, dass zwischen ihnen eine Kommunikation stattgefunden hatte.
»Ich habe nur mit Parry und Ryan gesprochen. Beide haben mich schon immer sehr freundlich behandelt.«
»Das ist gut.« Er nickte, was ihn zweifellos viel Kraft kostete. »Parry und Ryan sind gute Leute. Wir brauchen mehr von ihrer Art.«
»Ich glaube, wir haben hier sehr viele gute Leute«, sagte Bella. »Dafür spricht schon die Tatsache, dass diese Siedlung überhaupt existiert, dass sie es geschafft haben, alles am Laufen zu halten …«
»Das ist eine großartige Leistung«, sagte Chisholm. »Hat man dir von den Arbeiten im Schlund erzählt?«
»Ich hätte gerne meinen Teil dazu beigetragen«, sagte Bella. »Ich falle der Siedlung mehr zur Last als alle anderen.
Sie sperrt mich weg wie ein Paar alte Schuhe, das sie nie wiedersehen will.«
»Ich habe mehrfach betont, wie sinnvoll es wäre, dich in die Gemeinschaft zurückzuholen. Man müsste dir keine Macht oder einen offiziellen Posten geben. Es wäre schon etwas, wenn du einfach nur als Beraterin tätig werden könntest. Aber sie will nichts davon hören.«
»Wir müssen zusammenhalten – jetzt mehr als je zuvor.«
»Das habe ich auch zu ihr gesagt. Das Schlimmste ist, dass sie es vermutlich sogar einsieht. Sie mag sehr stolz sein, aber sie war niemals dumm.«
»Nein«, pflichtete Bella ihm wehmütig bei. »Das war sie nie.«
Chisholm starrte wieder eine ganze Weile an die Decke, als würde er sich im Mosaik der angeschlagenen und verfärbten Kacheln verlieren. »Ich glaube weiter daran, dass du für uns wichtig bist«, sagte er. »Deshalb wollte ich mit dir reden. Ich vermute, Ryan hat dir erzählt, dass mir nicht mehr viel Zeit bleibt. Über einen längeren Zeitraum hatte ich nur Kopfschmerzen, einen Druck hinter den Augen. Jetzt ist es ein anderes Gefühl … als würde ich in einen anderen Raum wechseln. Ich habe sehr seltsame Erinnerungsblitze, sehr ungewöhnliche Träume … manchmal sogar, wenn ich hellwach bin. Alles fühlt sich jetzt viel intensiver an. Ich kann mir eine dieser Kacheln ansehen und erkenne darin die Unendlichkeit. Ich habe Mingus schon immer gemocht, aber nun höre ich Dinge in seiner Musik, die ich mir nie erträumt hätte. Vorher war sie ein See, aber jetzt ist sie ein Ozean – tief, geheimnisvoll, wunderbar. Ich könnte ewig in Mingus herumschwimmen.«
Bella sah sich die Bilder seines Gehirns an. »Hilft es dir, wenn du das siehst? Oder ist es meinetwegen?«
»Nein, das würde ich dir nicht antun. Ich sehe es mir gerne an.« Er schien etwas in ihrem Gesicht bemerkt zu haben, vielleicht ein unbedachtes Zucken des Widerwillens. »Es ist mein Drache, Bella. Ich habe das Recht, ihm in die Augen zu blicken.«
»Natürlich«, sagte sie kleinlaut.
»Er wird mich töten. Ryan sagt, dass es schon bald geschehen wird … nur noch Wochen. Vorher werden sie mich einfrieren. Meine Zustimmung habe ich bereits erteilt. Ich werde zu einem Frostengel, genauso wie Mike Takahashi. Wenn die Krämpfe Überhand nehmen, soll er mich kaltmachen.«
Bella nickte. Mehr konnte sie nicht tun.
»Du glaubst wahrscheinlich, dass es ohnehin keine Rolle spielt«, sagte Chisholm. »Tot ist tot, ob man mich einfriert oder zu Asche verbrennt.«
»Sag so etwas nicht«, erwiderte sie. »Wenn Ryan dich einfriert, kriegen wir dich vielleicht wieder hin, wenn wir nach Hause zurückgekehrt sind.«
»Unser Zuhause existiert schon jetzt nicht mehr. Wir leben bereits in ferner Zukunft, Bella, auch wenn unser Kalender etwas anderes behauptet. Vielleicht wäre es für uns besser, wenn wir uns mit dem Ziel dieser Reise abfinden.«
»Und was ist, wenn wir es erreicht haben?«
Chisholm schloss die Augen und sprach sehr leise. »Es gibt da etwas, das ich dir sagen muss, Bella – der eigentliche Grund, warum ich dich zu mir bestellt habe.«
»Was?«, fragte sie neugierig.
Seine Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln. »Kein anderer wird es von mir hören – nicht einmal Ryan. Und Svieta schon gar nicht. Ich sage es dir, um dir etwas zu geben, was sie nicht hat.«
»Warum?«, hauchte Bella.
»Weil sie deswegen eines Tages zu dir kommen wird. Dann wirst du etwas haben, das sie braucht und womit du Einfluss nehmen kannst.«
»Woran werden sie oder ich erkennen, dass dieser Tag gekommen ist?«
»Ihr werdet es erkennen«, sagte Chisholm immer noch lächelnd. »Vertrau mir, ihr werdet es wissen.«
Ein winziger Funke löste sich aus dem Lichtkreis von Crabtree und entfernte sich in die große Dunkelheit, die die Ansiedlung umgab. Von ihrem Aussichtspunkt in der höchsten Etage des Habitats – über der Zentrifuge, was bedeutete, dass ihr Fenster immer in die gleiche Richtung zeigte – beobachtete Svetlana, wie der Traktor in die Ferne davonhüpfte, immer kleiner wurde und schließlich hinter dem Horizont verschwand. Erst dann erlaubte sie sich, so etwas wie Beruhigung zu empfinden.
Die letzten sechs Stunden hatte sie in nervöser Anspannung verbracht, während in ihr das Wissen brannte, dass sie in ihr kleines Imperium zurückgekommen war und sie keine andere Wahl hatte, als diese Rückkehr aus dem Exil zu dulden, mochte die Zeit noch so kurz sein. Sie hatte Parry geschickt, um sie zu holen, weil Parry ihr nahe stand und sie wusste, dass er schweigen würde. Dass Axford und die anderen Mediziner eingeweiht waren, ließ sich nicht vermeiden. Sie würde sich einfach darauf verlassen müssen, dass sie nicht redeten. Aber außer ihnen sollte niemand wissen, dass die Verbannte in Crabtree gewesen war oder dass ihr eine Audienz beim sterbenden Chisholm gewährt worden war.
»Für sie ist es eine Art Folter«, sagte Axford, der ein Stück rechts hinter Svetlana stand, sodass sie sein Spiegelbild im Fenster sehen konnte. Er hatte sich seinen Flextop unter den Arm geklemmt. Hinter Axford zeigte der Wandschirm – den sie gedimmt hatte, damit sie nach draußen schauen konnte – eine Echtzeitaufnahme vom Schlund, die monströsen Zahnräder und Dynamos, die im hellen Schein mehrerer Flutlichter arbeiteten. Menschen standen zwischen einem Gewirr aus schenkeldicken Stromkabeln und wirkten inmitten des Uhrwerks winzig. Dort unten gab es keinen Mangel an Energie, auch wenn es weiterhin schwierig war, sie nach Crabtree zu befördern.
»Ich habe dich um einen Bericht über ihren medizinischen Zustand gebeten, nicht um eine Beurteilung ihrer Strafe.«
»Es sollte ein Exil und keine Strafe sein«, sagte Axford nachdrücklich. »Ich weiß es. Ich war dabei, als wir die Entscheidung trafen, wie wir mit ihr verfahren wollen.«
Svetlana wandte sich verärgert vom Fenster ab und stemmte neben ihrem angeschwollenen Bauch die Hände in die Hüften. Wang hatte für sie schlicht geschneiderte Umstandskleidung gezüchtet. »Willst du damit sagen, sie sollte in Luxus leben, während wir hungern und frieren?«
»Ich will damit sagen, dass du dir klarmachen solltest, was du ihr antust. Wenn du sie foltern willst, gäbe es kostengünstigere Methoden. Wir könnten sie nach Crabtree zurückholen, genauso unauffällig wie heute, und sie in eine nette kleine Zelle ohne Zugang zur Außenwelt sperren. Offen gesagt, wäre das aus meiner Sicht wesentlich sinnvoller.«
»Halt die Klappe, Ryan!«
»Wenn dir meine Einschätzung der Lage nicht gefällt, kannst du mich vom Dienst suspendieren.«
Er war der einzige Mensch auf Janus, der sie offen kritisieren durfte und sich wegen möglicher Konsequenzen keine Sorgen machen musste. Dafür hasste und schätzte sie ihn gleichermaßen. Er war ihr schlechtes Gewissen.
»Ich habe ihr Bücher gegeben. Und einen Flextop.«
»Das können wir uns nicht leisten.«
»Ihrer ist vor einem Jahr gestorben.«
»Wir können jetzt keinen mehr erübrigen.«
»Jetzt nicht mehr. Aber vielleicht noch vor einem Jahr. Doch damals hast du meine Bitte abgelehnt.«
»Sie kann von Glück sagen, dass wir sie nicht genauso wie Herrick und Chanticler exekutiert haben. Glaubst du wirklich, dass ihre Taten weniger verbrecherisch waren?«
»In meinen düstersten Momenten schon«, räumte Axford ein. »Aber normalerweise halte ich mich in diesen düsteren Momenten mit solchen Urteilen zurück.«
»Für dich ist es leicht. Du musst nur Knochen richten und Babies auf die Welt bringen. Ich muss all das hier zusammenhalten. Sie muss für das bezahlen, was sie getan hat.«
»Sie bezahlt dafür«, sagte Axford leise.
Svetlana blickte wieder zum Horizont, aber vom Traktor war jetzt nichts mehr zu sehen. Sie zog die Sichtblende herunter und sperrte die Dunkelheit aus. Manchmal schien sie an ihrem Bewusstsein zu kratzen und ihre Gedanken auf Schwachpunkte zu überprüfen. Svetlana dachte an Parry, der irgendwo da draußen war, und wünschte sich, er wäre bei ihr.
»Wenn es etwas gibt …«, sagte sie stockend, »etwas, das ihr hilft … intakt zu bleiben …«
Axford ließ sich nicht anmerken, ob er Triumph empfand. »Es gibt ein paar Maßnahmen, zu denen ich raten würde. Ich werde sie notieren und dir schicken, damit du sie genehmigen kannst.«
Svetlana kam es vor, als würde sie Stunden brauchen, um über eine Antwort nachzudenken. Vielleicht spürte sie den Tritt im Bauch, als sich das Mädchen im Schlaf drehte. »Also gut. Aber sie bleibt trotzdem im Exil, Ryan. Das dürfen wir nie vergessen.«
»Nein«, sagte er.
»Noch etwas – du hast sie zu Jim gebracht. Warst du während des Besuchs dabei?«
»Nein. Ich habe sie allein gelassen.«
»Also hast du keine Ahnung, worüber sie gesprochen haben?«
»Ich bin Arzt«, sagte Axford entrüstet, »kein Spion.«