4.

Das Mädchen mit Namen Amina war neun Jahre alt und spindeldürr. Sie hatte glänzendes schwarzes Haar und Rehaugen, die sich schon bei ihrer ersten Begegnung tief in Jonathans Gedächtnis eingebrannt hatten. Sonst wusste er nichts über sie. Nicht, ob sie in die Schule ging, lesen und schreiben konnte, ob sie gerne stickte oder ein Wildfang war, der lieber Fußball spielte. Amina konnte es ihm nicht sagen, und afghanische Eltern sprachen mit Fremden nicht über ihre Kinder. Aber all das spielte auch gar keine Rolle. Als Arzt wusste Jonathan seit dem ersten Blick auf Aminas Gesicht alles, was er wissen musste. Schon damals hatte er sich geschworen, dem Mädchen zu helfen.

Jetzt lag Amina narkotisiert auf dem Operationstisch vor ihm. Es gab kein Beatmungsgerät, das eine konstante Sauerstoffzufuhr gewährleistet hätte. Ebenso wenig gab es ein Blutgasgerät zur Kontrolle des Anästhetikums oder bereitliegende Blutkonserven im Falle eines Blutsturzes. Jonathan trug noch nicht mal eine OP-Maske, geschweige denn OP-Kleidung. Er konnte nur auf seine Erfahrung und seine Fähigkeiten, die Generika und »den Willen Gottes«, wie die Afghanen es nannten, vertrauen.

»Womit fangen wir an?«, fragte Hamid.

»Mit dem Gesicht. Die Rekonstruktion des Gesichts ist am schwersten und dauert am längsten. Dafür müssen wir fit und ausgeruht sein.« Die Raumtemperatur war kaum höher als zehn Grad. Jonathan massierte seine eisigen Finger. »Also, auf meiner Uhr ist es genau acht Uhr fünfzehn. Lass uns anfangen. Skalpell.«

Mit dem Instrument in der Hand betrachtete er konzentriert Aminas Gesichtszüge und überlegte, wie er am besten vorgehen sollte. Unterhalb des Kinns befand sich ein Loch von der Größe seines kleinen Fingers. Dort war die Kugel eingetreten. Die Austrittsstelle war eine große Wunde an Nase und Gaumen. Amina war nicht im eigentlichen Sinne ein Opfer des Krieges. Sie war das Opfer der Sorglosigkeit und einer Kultur, in der Waffen im Haus so selbstverständlich vorhanden waren wie Besen und Handfeger.

Vor einem Monat hatte Amina beim Spielen mit dem jüngeren Bruder die Waffe des Vaters, ein AK47, als Krücke oder Gehstock benutzt. Sie hatte den Schaft der Waffe zwischen die Füße gestellt, beide Hände auf den Lauf gelegt und das Kinn auf den Händen abgestützt. Niemand konnte später sagen, wie genau es zu dem Unglück gekommen war. Vielleicht hatte ihr Bruder sie geschubst oder einer von beiden war versehentlich gegen die Waffe getreten. Keines der Kinder hatte gewusst, dass im Gewehrlauf noch eine Kugel steckte und die Waffe nicht gesichert war. Jedenfalls löste sich der Schuss, und eine mit Kupfer ummantelte 7.62-mm-Patrone war durch Aminas Hände, ihren Unterkiefer und Gaumen bis in die Nasenhöhle gedrungen, wo sie zum Glück auf einen Knochen traf. Die Kugel prallte im Neunzig-Grad-Winkel vom Knochen ab, was Amina wahrscheinlich das Leben rettete. Beim Austritt aus dem Schädel zerstörte sie jedoch den größten Teil der Nasenscheidewand und des umliegenden Gewebes.

Doch das war erst der Anfang der Tragödie.

Mit nahezu unverminderter Geschwindigkeit schoss die Kugel auf ihrem neuen Kurs durch den Raum und traf Aminas Bruder an der Schläfe. Sie drang in sein Gehirn ein und tötete den Jungen auf der Stelle.

Die Operation erforderte Jonathans ganze Erfahrung und Kunstfertigkeit. Im Hinblick auf das Ergebnis machte er sich jedoch nichts vor. Aminas Schönheit war unwiederbringlich zerstört. Er konnte nur versuchen, ihre Gesichtszüge so weit wiederherzustellen, dass die Menschen sie nicht mehr entsetzt anstarrten und es ihr eines Tages vielleicht sogar gelänge, einen Mann zu finden.

Eine Stunde verging. Von draußen drangen Kampfgeräusche mal lauter, mal leiser zu ihnen herein. Längere Pausen wurden abrupt vom Rattern eines Maschinengewehrs oder dem dumpfen Knall einer explodierenden Hand- oder Mörsergranate unterbrochen. Mit jedem Schusswechsel schienen die Feinde näher zu kommen.

»Versuch das Blut abzuwischen«, sagte Jonathan.

Hamid tupfte vorsichtig mit Gaze über die Wunde. Alle paar Sekunden wanderte sein Blick von dem Mädchen zum Fenster. »Haq hat das Dorf erreicht.«

»Dann kommt er halt. Es gibt nichts, was wir dagegen tun können. Ich brauche dich hier. Und zwar nicht nur deine Hände.«

Jonathan konzentrierte sich darauf, Knorpelmasse von Aminas Ohr zu entnehmen und daraus mit dem Skalpell einen schmalen Streifen zum Aufbau einer neuen Nase zu schälen.

Hundert Meter von der Krankenstation entfernt schlug eine Granate ein. Das Gebäude erzitterte in den Grundfesten. Staub und Putz rieselte von der Decke auf sie herab. Aminas Vater schlug erschrocken die Hände vor die Brust, sagte aber kein Wort. Jonathan beugte sich tiefer über das Mädchen und versuchte, alle störenden Geräusche auszublenden. Irgendwo draußen schrie eine Frau, aber Jonathan hörte sie kaum. Für ihn zählte nur noch das kleine Mädchen auf dem OP-Tisch.

Eine Kugel durchschlug die Außenwand und wirbelte Staub und Holzsplitter durch die Luft.

»Mist«, fluchte Hamid und duckte sich.

Jonathan trat einen Schritt zurück. Trotz der Kälte im Raum lief ihm der Schweiß über Gesicht und Körper, und das Hemd klebte ihm am Rücken. »Was hältst du davon?«

Hamid starrte auf das Gesicht des Mädchens. »Du bist ein echter Zauberer.«

»Wohl kaum, aber so dürfte es gehen.« Jonathan schob vorsichtig die Haut zurück und glättete die Knorpelmasse. »Ich weiß zwar nicht, ob das hier wie eine afghanische Nase aussieht, aber in Beverly Hills könnte es der letzte Schrei werden.«

Just in diesem Moment wurde ganz in ihrer Nähe eine Maschinengewehrsalve abgefeuert. Das Rattern der Waffe war so laut, dass Jonathan schmerzhaft das Gesicht verzog und Hamid vor Schreck aufschrie. Aminas Vater griff wortlos nach der leblosen Hand seiner Tochter und starrte auf den Boden.

Hamid stürzte zum Fenster. Er zog sein Handy aus der Tasche und umklammerte es, als hinge sein Leben davon ab. »Warum hören sie nicht auf zu schießen? Niemand dort draußen leistet ihnen noch Widerstand.«

»Komm zurück«, sagte Jonathan. »Ein Anruf kann uns jetzt auch nicht mehr helfen.«

Hamid verkniff sich die Antwort und steckte das Handy wieder ein. Mit gesenktem Kopf schlich er zurück zum OP-Tisch.

»Als Nächstes werden wir das Loch im Gaumen schließen, damit das Mädchen wieder feste Nahrung zu sich nehmen kann«, sagte Jonathan. »Zieh eine Spritze mit fünf Kubikzentimeter Lidocain auf.«

Hamid gab keine Antwort. Sein Blick war starr auf das Fenster gerichtet. Am anderen Ende des Dorfes stieg eine Rauchsäule auf. »Das ist ganz in der Nähe von unserem Haus.«

Jonathan warf einen kurzen Blick aus dem Fenster. »Lidocain, Hamid. Fünf Kubikzentimeter.«

Irgendwo draußen blökte unablässig ein Kamel. Dann ertönte ein Schuss, und das Tier verstummte. Mit heulenden Motoren näherten sich mehrere Fahrzeuge auf der holprigen Straße.

»Hamid.«

»Ja, Dr. Jonathan.«

»Lidocain.«

Hamid reichte ihm die Spritze.

»Habe ich dir eigentlich erzählt, warum ich nach Afghanistan gekommen bin?«, fragte Jonathan.

Hamid blickte ihm ins Gesicht. »Um das hier zu tun. Um zu helfen, meine ich.«

Jonathan machte sich wieder an die Arbeit. »Das ist nur einer der Gründe. Es gab noch andere. Vor allem wollte ich einiges wiedergutmachen.«

»Wiedergutmachen, Dr. Jonathan? Hast du denn etwas Schlimmes getan?«

»Nicht nur ich, sondern auch meine Frau.«

»Du hast doch gesagt, dass du nicht verheiratet bist.«

»Das war eine Lüge. Ich war acht Jahre lang verheiratet. Offiziell bin ich das immer noch, aber nach all dem, was meine Frau getan hat, hat sich das Ganze für mich erledigt. Die ganzen Jahre war ich mit einer Geheimagentin der Regierung verheiratet und hatte keine Ahnung. Sie hat mich geheiratet, weil meine Arbeit bei Ärzte ohne Grenzen für sie die ideale Tarnung war und sie an die politischen Unruheherde in Afrika, dem Mittleren Osten und Europa gebracht hat, wo sie ungestört ihre Aufträge durchführen konnte.

»Aufträge? Was meinst du damit?«

»Bombenattentate, räuberische Erpressung, Auftragsmorde.«

»Sie hat Leute umgebracht?«

»Das hat sie. Sie hat für einen Geheimdienst namens Division gearbeitet … Sie war ihre beste Agentin.« Jonathan legte eine Pause ein und senkte die Stimme. »Auch ich habe Menschen getötet. Ich musste es tun. Es ging nicht anders. Trotzdem macht es mir immer noch zu schaffen. Es gäbe noch viel dazu zu sagen, aber genau das ist der Grund, weshalb ich hier bin. Um für ihre und meine Schuld zu büßen. Wenn ich schon so naiv war, nicht mitzubekommen, dass die Frau, mit der ich das Bett geteilt habe, eine Spionin ist, sollte ich mich zumindest zum Teil für ihre Taten mitverantwortlich fühlen. Stell dir vor, bis vor drei Monaten kannte ich noch nicht einmal ihren richtigen Namen. Sie heißt Lara und ist Russin. Sie ist nicht einmal Amerikanerin. Verrückt, oder?«

Vor dem Fenster hielten zwei mit Maschinengewehren bestückte Pick-ups. Talibankämpfer sprangen von der Ladefläche und stürmten in die Krankenstation. Die Tür des OP-Raums wurde aufgerissen. Ein groß gewachsener Mann mit dem Auftreten eines machtgewohnten Führers trat ein. In der Hand trug er ein Jagdgewehr mit Zielfernrohr. Ein kleinerer Mann folgte ihm dicht auf den Fersen. Er nahm Hamid in den Polizeigriff und zwang ihn auf die Knie. Sechs kampfbereite Krieger stürmten in den Raum und richteten ihre Waffen auf Jonathan.

Jonathan trat einen Schritt zur Seite. »Ich operiere gerade«, sagte er ruhig. »Lassen Sie meinen Assistenten los, und verlassen Sie bitte den Raum.«

Der hochgewachsene Anführer kümmerte sich nicht um Jonathans Einwände und rührte sich nicht von der Stelle. »Sie sind der Heiler, von dem alle erzählen«, stellte er in fehlerfreiem Amerikanisch fest.

Jonathan musterte ihn eingehend. Seit Wochen hatte ihn niemand mehr auf Amerikanisch angesprochen. »Ich bin Arzt.«

»Ich muss Sie bitten, mit mir zu kommen.«

»Wir können unser Gespräch gerne fortführen, wenn ich hier fertig bin.«

»Sie werden jetzt sofort mitkommen.«

Einer der Taliban trat an den OP-Tisch, zog eine Pistole aus dem Gürtel und drückte den Lauf gegen Aminas Stirn. Sein Blick wanderte erwartungsvoll zum Gesicht des Anführers.

Dieser schlug die Hand des Mannes mit der Waffe weg und blickte Jonathan direkt in die Augen. »Wie lange wird das hier noch dauern?«

»Drei Stunden. Ich habe Sie bereits einmal gebeten, den OP-Raum zu verlassen. Jetzt muss ich wohl noch deutlicher werden. Verschwinden Sie auf der Stelle, und nehmen Sie Ihre Männer mit.«

»Eine ziemlich gewagte Antwort für einen Mann in Ihrer Lage, Dr. …«

»Ransom. Und mit wem habe ich das Vergnügen?«, konterte Jonathan, obwohl er die Antwort bereits kannte. Die langen, gekrümmten Fingernägel des Mannes waren ihm ebenso wenig entgangen wie die klobige Casio G-Force an dessen Arm und die Gravur »W. Barnes USMC« auf dem Gewehr. »Ich nehme mal an, dass Ihr Name nicht Barnes lautet.«

»Mein Name ist Sultan Haq.« Haq gab den Befehl, Hamid loszulassen, und reichte einem der Männer sein Gewehr. »Wer ist das Mädchen?«

»Sie heißt Amina und hatte einen Unfall.« Jonathan erklärte, was geschehen war und wie er versuchte, ihr Gesicht chirurgisch wiederherzustellen. Haq hörte ihm so aufmerksam zu wie ein Assistenzarzt bei der Visite seinem Chefarzt.

»Sie sind ausgesprochen begabt«, sagte der Habicht. »Das ist nicht zu leugnen. Sie können das Gesicht des Mädchens weiteroperieren. Aber ihre Hände können noch warten.«

»Das Mädchen hat lange genug gewartet«, sagte Jonathan.

Einer von Haqs Kämpfern platzte unvermittelt ins Zimmer. »Eine Drohne«, rief er aufgeregt, stürzte zum Fenster und deutete mit dem Finger zum Himmel.

Haqs Männer redeten wild durcheinander. Einige verließen eilig die Krankenstation und rannten zu Fuß zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Andere ballten die Hände zu Fäusten und richteten sie mit lauten Drohungen und Beschimpfungen gegen Jonathan. Nur Sultan Haq blieb ungerührt stehen. Er musterte Jonathan skeptisch und abschätzend. »Sind Sie von der CIA?«, fragte er schließlich noch genauso gleichmütig.

»Nein.«

»Vom MI6? Oder vielleicht vom Mossad? Sind Sie hier, um mich zu töten?«

»Nein.«

»Warum haben Sie sich dann in dieses abgelegene Dorf gewagt, fernab jeder Hilfe?«

Jonathan betrachtete das schlafende Mädchen auf dem OP-Tisch. »Um ihr zu helfen.«

»Dann sind Sie wahrhaftig ein Kreuzritter«, stellte Haq bewundernd fest.

Ein dreckverschmiertes Gesicht blickte von draußen durch das Fenster. »Falscher Alarm«, rief der Mann. »Keine Drohne. Nur ein Kampfjet. Er hat abgedreht und fliegt in Richtung Norden.«

Haq legte eine Hand auf Jonathans Schulter. »Das ist Ihr Glückstag. Das gilt aber nicht für ihn.« Er wandte sich abrupt um, zog eine Pistole aus dem Gürtel und richtete den Lauf auf Hamids Stirn. »Dr. Ransom, Sie haben genau fünfzehn Minuten, um die OP zu beenden. Andernfalls erschieße ich ihn. Dauert die OP länger als dreißig Minuten, erschieße ich auch das Mädchen. Sie sind mein Gefangener und werden tun, was ich Ihnen sage.«