61.

Sultan Haq fuhr mit einem Ruck aus seinem Traum hoch.

Er setzte sich auf und starrte in die Finsternis. Im Traum hatte er das Gesicht eines anderen Mannes gesehen. Blaue Augen. Blonde Haare. Schwarze Hornbrille. Es war das Gesicht von Dr. Revy, dem Schweizer Arzt, der es gewagt hatte, ihn und sein Land an diesem Abend so unverfroren zu beleidigen.

Haq hatte für den Mann die gleiche abgrundtiefe Verachtung empfunden, die er für alle Menschen aus dem Westen empfand. Wegen seines privilegierten Lebensstandards und seiner Arroganz, aber vor allem wegen seiner tiefverwurzelten, ungerechtfertigten Überheblichkeit. Das Gesicht starrte ihn wortlos an, schien ihm aber dennoch etwas sagen zu wollen. Wieder und wieder rief Haq sich die Züge des Mannes in Erinnerung und spürte, wie Frust in ihm aufstieg. Und noch etwas – die nagende Gewissheit, dass der andere ihn an der Nase herumführte. In Gedanken suchte er in Revys blauen Augen hinter der Hornbrille nach etwas, das ihm einen Hinweis geben konnte.

Der Verhörchef in Camp X-Ray hatte genauso blaue Augen und blonde Haare wie Revy gehabt. Wenn er Revys Gesichtszüge musterte, hatte er das Gefühl, wieder im Vernehmungsraum zu sitzen. Vor seinem inneren Auge sah er die grellen Scheinwerfer und die unersättlichen und unzufriedenen Gesichter seiner Peiniger mit ihrem stinkenden Atem und den nicht enden wollenden Fragen. Dann stülpten sie ihm die Kapuze über den Kopf und rissen ihn abrupt nach hinten. Ihm blieb gerade noch die Zeit für einen letzten, verzweifelten Atemzug, bevor die Welt um ihn herum in einem Meer aus Wasser versank. Wasser anstelle von Luft zum Atmen. Wasser anstelle von Licht. Der Tod in den erbarmungslosen Fluten, der ihn mit seinen kalten, gnadenlosen Fingern in die Tiefe ziehen wollte. Und oben in der Ecke plärrte der Fernseher auf voller Lautstärke und quälte seine Ohren, sobald sie ihm die Kapuze vom Kopf zogen und er wieder Luft bekam. Ohne Pause flackerten die immer gleichen, verhassten Bilder über den Bildschirm: quer durch die Innenstadt von New York tanzende Seeleute in Uniform, die fröhliche Lieder trällerten. Lieder, die von einer Zukunft voller Hoffnung handelten. Amerikanische Lieder.

Haq kniff die Augen zusammen, um die schrecklichen Erinnerungen auszublenden, doch die Bilder ließen sich nicht vertreiben. Bilder aus einer anderen Welt. Einer barbarischen, heuchlerischen Welt. Einer Welt, der Haq geschworen hatte, sie eines Tages zu vernichten.

Der Leiter des Verhörs war ein Schwächling gewesen, aber die blauen Augen, die sich heute Abend tief in sein Gedächtnis gebohrt hatten, waren nicht die eines schwachen Mannes, sondern die eines streitlustigen Widersachers. Haq hätte nur zu gerne gewusst, wozu Revy ihn herausforderte. Warum hatte Revy ihn aus seinen Träumen gerissen?

Haq glaubte an die Macht der Träume.

Revy verweigerte ihm die Antwort auf seine Fragen, und Haq wusste, dass der Mann ein Spiel mit ihm trieb und ihn dazu aufforderte, sein Geheimnis zu erraten.

Sultan Haq starrte so lange in die Dunkelheit, bis die Erinnerung an Revys Gesicht verblasste. Zurück blieb nur eine nagende Unruhe.