13.
Der Osprey MV-22 flog mit konstant hundertachtzig Knoten über die blau schimmernden Fluten des Persischen Golfs vom afghanischen Luftstützpunkt Bagram in Richtung Süd-Südwest. Jonathan Ransom saß auf einem der Fluggastsitze und beobachtete durch das Fenster, wie zwei F-18-Kampfjets in etwa anderthalb Kilometer Entfernung an ihnen vorbeizischten. Gerade überflogen sie mit dem Hubschrauber einen Flugzeugträger, auf dessen Fintail das Sternenbanner prangte. Seit zehn Minuten hatte Jonathan schon mehrere Schiffe der Carrier Task Force 50 auf dem Wasser gesichtet. Er wurde von einem Kriegsschauplatz direkt zum nächsten geflogen.
»Wir landen in sechs Minuten«, gab der Pilot über Kopfhörer bekannt.
Jonathan vergewisserte sich, dass die Gurte an den Schultern und um die Taille fest saßen. Der Osprey senkte die Nase und setzte zu einem steilen Landeanflug an. Jonathan hatte das Gefühl, unfreiwillig in einen starken Strudel gezogen zu werden.
Seit seiner Flucht mit dem Hubschrauber aus Tora Bora vor genau einer Woche war er von einem Ort zum nächsten gebracht worden. Zunächst nach Bagram, dann nach Camp Rhino. Von dort aus zur amerikanischen Botschaft in Kabul und schließlich wieder nach Bagram. An jedem Zwischenstopp hatte er eine Vernehmung über sich ergehen lassen müssen. So gut er konnte, hatte er die Ereignisse von Tora Bora geschildert. Auf die Frage, wann er nach Hause zurückkehren könne, hatte man ihm überall nur ausweichend geantwortet: »Bald.« Danach war er zur nächsten Station transportiert worden.
Die Kufen des Helikopters setzten auf. Zwei MPs geleiteten ihn zu einer Luke an der »Insel«, dem gewaltigen Turm, der auf dem Flugdeck in die Höhe ragte. Über einige Treppen gelangte Jonathan auf die Kommandobrücke und von dort aus weiter bis zu einer Kajüte, die mit einem Tisch, Stühlen und einer etwas verloren wirkenden amerikanischen Fahne in einer Ecke ausgestattet war. Kurz darauf ging die Kajütentür erneut auf, und ein stämmiger Mann mittleren Alters in einem zerknitterten grauen Anzug trat ein. Er hielt zwei Porzellanbecher in den Händen und hatte eine lederne Aktenmappe unter einen Arm geklemmt. »Sie mögen doch Tee, oder?«, fragte er und streckte Jonathan einen der Becher entgegen. »Ich habe Ihnen einen Darjeeling mitgebracht. Zwei Beutel und reichlich Zucker. Das dürfte Sie wieder auf die Beine bringen. Ich selbst trinke lieber Kaffee, egal welchen, Hauptsache, schwarz.«
Jonathan nahm den Becher und sah dem Mann zu, der umständlich seine Mappe und den Kaffeebecher auf dem Tisch abzustellen versuchte. Ein Teil des Kaffees schwappte dabei auf den Tisch. »Wollen Sie sich nicht setzen?«, fragte der Mann, während er einen Stuhl heranzog und sich darauf niederließ. »Nein? Wie Sie möchten. Sie haben hoffentlich nichts dagegen, dass ich mich setze. Meine Beine schwellen bei so langen Flügen immer an und tun dann höllisch weh.«
»Dann sollten Sie unbedingt während des Flugs aufstehen und ein wenig herumlaufen«, sagte Jonathan. »Das regt die Blutzirkulation an.«
»Ja, klingt irgendwie bekannt.«
Der Mann öffnete die Mappe und zog einen Notizblock und einige Papiere heraus, die er ordentlich vor sich auf dem Tisch arrangierte wie ein Beamter seine Formulare. Doch Jonathan ließ sich davon nicht täuschen. Wer auch immer dieser Mann sein mochte, ein gewöhnlicher Beamter war er nicht.
»Sie haben ja ganz schön was mitgemacht in der letzten Zeit«, fuhr der Mann fort. »Alles in Ordnung so weit?«
»Bei mir schon. Die anderen hatten nicht ganz so viel Glück.«
»Wären Sie so nett, mir die Ereignisse noch einmal genau zu schildern?«
»Wären Sie so nett, mir zu verraten, wer Sie eigentlich sind?«
»Was sollte das bringen? Sie wüssten ja nicht einmal, ob ich Ihnen meinen richtigen Namen nenne.«
»Sie sind Connor.«
Der Mann blickte ihn mit einem Ausdruck im Gesicht an, der bedeuten konnte, dass Jonathans Frage ihn entweder überraschte oder verwirrte. »Hat Emma Ihnen von mir erzählt?«
»Sie hat vielleicht beiläufig in London Ihren Namen erwähnt. Ich glaube, sie sagte, dass Sie ein richtiges Arschloch sind. Nachdem ich Sie gesehen habe, war es nicht schwer, mir den Rest zusammenzureimen.«
Jonathans Worte schienen Connor zu amüsieren. »Hat sie Ihnen noch mehr verraten?«
»Nur dass Sie hinter einem Mordanschlag auf Emma in Rom stecken.«
»Dass Sie verärgert sind, kann ich gut verstehen. Das würde wohl jedem so gehen, der unwissentlich manipuliert und getäuscht worden ist.«
»Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass Sie einen Mann beauftragt haben, meiner Frau ein Messer in den Rücken zu stoßen.«
»Darüber unterhalten wir uns später«, entgegnete Connor scharf. Der freundliche Ton war aus seiner Stimme verschwunden, und Jonathan merkte zum ersten Mal, dass er eine Respektsperson vor sich hatte. »Nehmen Sie Platz, Dr. Ransom. Ich bin nicht elftausend Kilometer weit geflogen, um Ihnen die Hand zu schütteln, anerkennend auf die Schulter zu klopfen und Ihnen einen Kuss auf die Wange zu drücken, weil Sie Ihrem Land so treu gedient haben. Wir beide haben ein paar wichtige Dinge miteinander zu besprechen.«
Jonathan folgte der Aufforderung und setzte sich. »Reichen Ihnen die acht Jahre noch immer nicht? Ich dachte, ich hätte meine Pflicht und Schuldigkeit getan.«
»Glauben Sie mir, wir sind Ihnen für Ihre Hilfe wirklich mehr als dankbar. Vor allem für Ihren Einsatz in der Schweiz. Das gilt ganz besonders für mich. Wenn es Sie tröstet, entschuldige ich mich gern in aller Form dafür, dass wir Sie erneut mit hineinziehen mussten. Mir ist durchaus bewusst, dass Sie nach Afghanistan gegangen sind, um all das hinter sich zu lassen.«
»Ich bin nach Afghanistan gegangen, um das zu tun, was ich am besten kann.«
»Nach dem zu urteilen, was mir über Ihr heroisches Verhalten in Tora Bora zu Ohren gekommen ist, sollten Sie vielleicht noch mal darüber nachdenken, wo Ihre wahren Fähigkeiten liegen.«
»Ich habe nur getan, was jeder in dieser Situation getan hätte.«
»Nicht viele Menschen hätten unter schwerem Beschuss für einen schwerverwundeten Soldaten das eigene Leben riskiert. In unserem Land erhält man für so etwas sogar die Tapferkeitsmedaille.«
»Darauf kann ich dankend verzichten.«
»Das weiß ich. Von mir würden Sie auch gar keine Medaille bekommen. Nur zu Ihrer Information, Dr. Ransom, der Mann, den wir dank Ihrer Hilfe eliminieren konnten, Abdul Haq, war ein richtiger Dreckskerl. Wir hatten bereits viele Monate lang vergeblich an ihn heranzukommen versucht. Mit Drohnen, Informanten und Kopfgeld. Alles vergebens. Dann erfuhren wir, dass er schwer erkrankt war, und wussten, dass das unsere Chance ist. Wie der Zufall so spielt, waren Sie gerade in Reichweite. Was hätten Sie denn an unserer Stelle gemacht?«
»Also so einfach läuft das Ganze? Und ich werde nicht mal gefragt?«
»Nein, Dr. Ransom. Manchmal lassen Ihnen andere eben einfach keine Wahl. Ist das Leben nicht hart und ungerecht?«
»Und Hamid?«
»Hamid war einer von uns. Er ist in Kabul aufgewachsen und anschließend nach San Francisco emigriert. Dort ist er zur Armee gegangen, um seinem Land zu dienen.«
»Haben Sie ihn bei der Armee angeworben?«
»Hamid war für uns ein Glücksfall, weil er eine außergewöhnliche Begabung hatte. Außerdem brauchte er uns so dringend wie wir ihn. Afghanistan ist ein besserer Ort ohne Mr. Abdul Haq.«
Jonathan setzte den Becher an die Lippen und trank ein paar Schlucke von dem warmen, süßen Tee. Vor seinem inneren Auge sah er Hamid, wie er seinem Griff entglitt und abstürzte. Auch Jonathan hätte um ein Haar dran glauben müssen. »Wissen Sie, was ich mich schon immer gefragt habe? Wie sind Sie vor all den Jahren eigentlich ausgerechnet auf mich gekommen?«
»Selbst wenn ich die Antwort wüsste, könnte ich es Ihnen nicht sagen.«
»Natürlich kennen Sie die Antwort«, entgegnete Jonathan. »Ein Typ wie Sie hat auf alles eine Antwort.«
»Darauf würde ich an Ihrer Stelle nicht wetten.«
Jonathan verkniff sich jeglichen Kommentar. »Und Emma? Wie ist es Ihnen gelungen, Sie auf Ihre Seite zu ziehen?«
»Wie schon gesagt, ich werde mit Ihnen nicht über die Vergangenheit Ihrer Frau und erst recht nicht über aktuelle Dinge diskutieren.« Connor unterbrach sich und stellte den Kaffeebecher ab. »Jedenfalls nicht gleich.«
Überrascht merkte Jonathan, dass sich das Kräfteverhältnis zwischen Connor und ihm ein wenig zu verändern schien. Wenn ihn nicht alles täuschte, hatte Connor ihm soeben eine Art Angebot gemacht. »Worauf wollen Sie hinaus?«
»Im Grunde bin ich hierhergekommen, um Sie um Hilfe zu bitten.«
»Ich soll Division helfen?«
Connor nickte.
»Ist das Ihr Ernst? Sie wollen wirklich, dass ich für Sie arbeite?«
»Wir sind der Meinung, dass Sie gewisse Fähigkeiten besitzen, die …«
»Kommt überhaupt nicht in Frage«, unterbrach ihn Jonathan.
»Lassen Sie mich wenigstens ausreden.«
»Nein und nochmals nein. Mit Division bin ich fertig. Nie wieder. Auf gar keinen Fall.«
»Ich habe eine ziemlich lange Reise hinter mir, um …«
»Tja, das nennt man dann wohl Pech.« Verärgert sprang Jonathan auf und kippte dabei den Stuhl um, auf dem er gesessen hatte. »Am besten steigen Sie gleich wieder in Ihr Flugzeug und fliegen den ganzen weiten Weg nach Hause zurück. Auf Nimmerwiedersehen.«
»Bitte, Dr. Ransom. Ich kann Ihre Verärgerung verstehen. Alles, was ich möchte, …«
»Ich hab doch gesagt, dass ich mit Ihnen fertig bin.«
Connor blickte Jonathan fest in die Augen. »Also schön«, sagte er. »Sie können sich darauf verlassen, dass Ihnen so etwas wie in Tora Bora nicht noch einmal passiert. Meine Männer an Bord dieses Schiffes werden Ihnen einige Papiere zum Unterzeichnen vorlegen. Danach steht es Ihnen frei zu gehen, wohin Sie wollen. Man wird dafür sorgen, dass Sie auf schnellstem Weg dorthin kommen, und Ihnen alles beschaffen, was Sie für Ihre Reise brauchen. Tickets, Pass, was auch immer. Außerdem bin ich befugt, Sie für Ihre Leistungen zu honorieren. Hier habe ich einen Scheck über vierzehntausend Dollar, ausgestellt auf Ihren Namen. So viel bekommt für gewöhnlich ein Major nach zwei Monaten Kriegseinsatz als Gefahrenzulage.«
»Behalten Sie Ihr Geld.«
»Es gehört aber Ihnen. Sie haben es sich verdient. Wenn Sie das Geld lieber für wohltätige Zwecke spenden wollen, ist das natürlich Ihre Sache.«
Connor legte einen Umschlag auf den Tisch, suchte seine Papiere zusammen und verstaute sie wieder in der Mappe. Dass er sich während des ganzen Gesprächs kein einziges Wort notiert hatte, war Jonathan nicht entgangen. Die ganze Sache war nichts weiter als eine Show, genau wie der schlecht sitzende Anzug, die abgewetzten Schuhe und das hemdsärmelige Auftreten. Er war die Stimme Amerikas.
Mit großer Mühe stand Connor auf und streckte dabei hilfesuchend die Hand aus, um die Balance nicht zu verlieren. Mit einem Satz war Jonathan an seiner Seite. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte er und stützte Connor am Arm.
»Es ist nur das Bein«, erwiderte Connor und schüttelte Jonathans Hand mit einer ungeduldigen Bewegung ab. »Durchblutungsstörungen, aber das sagte ich ja schon.«
Mit dem prüfenden Blick eines Arztes musterte Jonathan Connor wie einen Patienten. Er registrierte die geplatzten Äderchen auf den Wangen, die Tränensäcke unter den Augen und die deutlichen Anzeichen für eine ungesunde Ernährung und Lebensweise. Unmittelbar neben Connor stehend konnte er auch dessen kurze flache Atmung hören. »Haben Sie eine Ahnung, wo Emma gerade ist? Wenn ja, sagen Sie es mir bitte. Ich möchte nur wissen, ob es ihr gut geht.«
Connor stellte die Aktentasche zurück auf den Tisch. »Und wenn ich Ihnen sagen würde, dass alles, was Sie über Ihre Frau zu wissen glauben, vollkommen falsch ist?«
Nicht sicher, ob dies nur ein neuer Trick war, mit dem Connor ihn vor seinen Karren spannen wollte, zögerte Jonathan mit der Antwort. »Was denn zum Beispiel? Dass sie mich in Frankreich nicht zu töten versuchte?«
»Unter anderem, ja.«
»Ich würde Ihnen kein Wort glauben«, entgegnete Jonathan trotzig, aber ohne echte Überzeugung. Etwas an Connors Verhalten sagte ihm, dass dieser es ernst meinte und keine Spielchen mehr mit ihm spielte. Oder vielleicht war es auch genau andersherum. Vielleicht wollte Jonathan einfach nur glauben, dass Connor aufrichtig war.
»Was, wenn ich Ihnen sagen würde, dass Emma in großer Gefahr schwebt, vielleicht sogar in Lebensgefahr, und dass Sie der Einzige sind, der ihr noch helfen kann?«
Jonathan musterte Connor scharf und versuchte, hinter dessen Fassade zu blicken. Doch alles, was er sah, war ein Mann mit gut zwanzig Kilo Übergewicht, einem schlimmen Bein und einer Herzinsuffizienz, der ihm mit großer Wahrscheinlichkeit die Wahrheit sagte. »Nehmen Sie wieder Platz, Dr. Ransom.«