48.

In zwei Tagen würde er zu existieren aufhören.

Energisch trat Lord Balfour durch die Küchentür nach draußen und überquerte den gepflasterten Parkplatz. In der einen Hand hielt er einen Becher Chai und in der anderen eine schwarze Ledergerte. Er trug Freizeitkleidung: eine Leinenhose mit seinem erklärten Lieblingshemd, dem Poloshirt des Highgrove-Teams (zu dem auch William, Harry und Prinz Charles gehörten). Seine Stimmung war so übermütig, dass er seinem Friseur gestattet hatte, ihm das widerspenstige Haar zu glätten und zu scheiteln und anschließend den Schnurrbart zu trimmen. An diesem Tag erwartete er einen Gast, und das war eine Seltenheit, besonders, weil er aus Europa kam. Vergnügt pfiff er den »Colonel Bogey March« vor sich hin und wirkte ganz und gar nicht wie ein Mann, dessen Leben in Kürze enden würde.

In etwa einem halben Meter Abstand folgte ihm Mr. Singh. Seine Schritte waren sogar noch fester und entschiedener als die von Balfour. In seinen Händen hielt er keinen Becher mit Tee oder eine Ledergerte, sondern eine Kalaschnikow mit extralangem Magazin. Er trug seine übliche Arbeitskleidung: einen weißen Salwar Kameez mit dem Turban der Sikh. Anstatt ein fröhliches Lied zu pfeifen, hatte er sein Gesicht zu einer Grimasse verzogen. Jeden, der es gewagt hätte, ihm die Haare zu kämmen oder den Bart zu glätten, hätte Mr. Singh auf der Stelle umgebracht.

Auf dem Parkplatz standen die Range Rovers zum morgendlichen Wachsen und Polieren nebeneinander aufgereiht. Mit ihrem in der Morgensonne glänzenden weißen Lack wirkten sie wie ein Kampfgeschwader. Eine Gruppe junger Diener wartete ganz in der Nähe auf Balfours Anweisungen. Nachdem Balfour den Becher Tee an Mr. Singh weitergereicht hatte, begutachtete er mit stolz geschwellter Brust Wagen für Wagen und deutete auf die Stellen, die beim Polieren übersehen worden waren. Als er einen nicht wegpolierten Wasserfleck entdeckte, riss er dem zuständigen Jungen den Lederlappen aus der Hand und erledigte die Arbeit selbst. Zur Strafe für seine Nachlässigkeit erhielt der Junge mit der Ledergerte einen Schlag ins Gesicht.

Auch die Fahrgastzellen nahm Balfour genau unter die Lupe. In einem der Wagen fand er Politurflecken auf dem Rücksitz, in einem anderen Aschereste im Aschenbecher. Nichts entging seinen Argusaugen. Nur so konnte er sichergehen, dass das Personal immer auf Zack war. Noch zweimal holte er mit der Gerte aus und erteilte den Schuldigen eine schmerzhafte Lektion.

Als die Inspektion abgeschlossen war, rief Balfour den Aufseher der Truppe zu sich. »Sieh dich vor«, sagte er zu dem jungen Pakistani. »Eure Arbeit war alles andere als zufriedenstellend. Ihr könnt euch glücklich schätzen, dass ich euch die Wagen nicht noch einmal putzen lasse. Beim nächsten Mal erwarte ich eine deutliche Steigerung eurer Leistung.« Drohend hob er den Arm mit der Gerte, doch dann verzogen sich seine Lippen zu einem breiten Grinsen. Ehe der verdutzte Junge wusste, wie ihm geschah, hatte ihm Balfour einen 100-Dollar-Schein in die Hand gedrückt. Nach einer tiefen Verbeugung stammelte der Aufseher die Worte, die ihm eingebläut worden waren: »Ergebensten Dank, Mylord.«

Nur Balfour wusste, dass es kein nächstes Mal geben würde. In zwei Tagen schlug Lord Balfours letztes Stündlein.

Balfour verließ den Parkplatz und überquerte auf dem Weg zu den Pferdeställen eine Wiese von der Größe eines Cricketfelds, die er auf den Namen Runnymede getauft hatte. Er besaß zurzeit zwölf Pferde: sechs Araber, die für seinen Geschmack etwas zu launisch und schreckhaft waren, zwei Hannoveraner, drei belgische Warmblüter und sein persönliches Lieblingspferd, ein geschecktes Quarterhorse mit Namen Sundance, das er vor sechs Jahren vom hiesigen CIA-Residenten als Dank dafür erhalten hatte, dass er den Nachschub für die US-Soldaten von Kasachstan nach Bagram brachte. Die Stallknechte führten Sundance auf der großen Reitbahn an der Longe, und Balfour bewunderte den prächtigen Wallach vom Zaun aus.

»Möchten Sie heute Morgen ausreiten, Mylord?«, erkundigte sich einer der Stallknechte.

»Heute nicht«, erwiderte Balfour. »Aber ich erwarte einen Gast, der ein erfahrener Reiter ist. Sorg dafür, dass Inferno morgen um Punkt zehn gesattelt und gezäumt für einen kurzen Querfeldeinritt bereitsteht.«

Inferno war ein Hannoveraner Schlachtross und der einzige Hengst im Stall.

Balfour drehte eine Runde durch den Stall und strich seinen Lieblingen zärtlich über die Nüstern. In etwa einem Monat, wenn die Behörden die Suche nach ihm aufgegeben und ihn für tot erklärt hätten, würden die Pferde zu verschiedenen Anwesen von pakistanischen Generälen gebracht, mit denen er ein Abkommen getroffen hatte. Er würde jedes einzelne von ihnen schmerzlich vermissen.

Als er einen Blick zurück in Richtung Wiese warf, entdeckte er die Mädchen, die von ihrer morgendlichen Joggingrunde zurückkehrten. An der Spitze liefen die Amerikanerinnen, Kelly und Robin, gefolgt von Anisa, Ochsana und Greta. Das Schlusslicht bildete wie immer Petra, die einstige Miss Bulgarien und Zweitplatzierte der Wahl zur Miss Universum.

»Na los, schwing die Hufe«, rief Balfour ihr zu. »Dein Arsch ist so fett wie der eines Elefanten.«

Mit Frauen musste man genauso umspringen wie mit Tieren. Sie brauchten tägliches Training, etwas zu essen und Disziplin. Die Mädchen vermittelte ihm eine Londoner Agentur, zu deren Kunden auch der Sultan von Brunei zählte. Für ihre Dienste bezogen die Mädchen ein Gehalt von zehn- bis fünfzehntausend Dollar im Monat. Die meisten von ihnen blieben neunzig Tage. Mahlzeiten, Unterkunft und Kleidung wurden gestellt. Außerdem gab es reichlich Gelegenheiten für die Frauen, sich kleine Extras in Form von Juwelen, Drogen und Barem zu verdienen.

Petra brach ihren Lauf einfach ab und ging das letzte Stück im Schritttempo hinter den anderen her. Das brachte für Balfour das Fass endgültig zum Überlaufen. Er bezahlte sie doch nicht mit seinem hartverdienten Geld, damit sie sich bei ihm auf die faule Haut legte. Am liebsten hätte er diese bulgarische Schnecke mit seiner Gerte angetrieben.

Doch dann kam ihm eine viel bessere Idee.

»Mr. Singh, wären Sie bitte so nett, unserer Miss Bulgarien ein wenig Feuer unter dem Hintern zu machen?«

Singh hob die Kalaschnikow an die Schulter und feuerte eine Garbe in das Gras direkt hinter dem Mädchen. Miss Bulgarien stieß einen entsetzten Schrei aus und sprintete in panischer Angst los.

»Na also, geht doch!«, rief Balfour ihr nach. Er lief ihr ein Stück nach, um ganz sicherzugehen, dass sie ihr Tempo nicht wieder verlangsamte, brach aber bald ab, weil ihm die Puste ausging.

Anschließend kehrte Balfour mit Mr. Singh auf demselben Pfad, auf dem sie gekommen waren, wieder zum Haupthaus zurück. Unmittelbar vor dem Parkplatz statteten sie den Securitymännern im Wachhäuschen noch einen kurzen Besuch ab. Die beiden Wachen hockten vor einer Wand aus Monitoren, auf denen Liveaufnahmen von Kameras in und um Blenheim zu sehen waren. Nachdem die ISI-Agenten abgezogen worden waren, hatte Balfour sämtliche Sicherheitsvorkehrungen verschärft. Fahrzeuge von Besuchern mussten ab sofort draußen dreißig Meter vor dem Haupttor abgestellt werden. Ein wechselndes Team aus zwei Mann mit Stinger-Raketen bezog rund um die Uhr auf dem Dach Stellung, und die Patrouillen auf dem Grundstück wurden verdoppelt.

»Sie können jederzeit kommen«, hatte er den Wachen mitgeteilt und ihnen dabei auf die Schultern geklopft. »Also seid wachsam.«

Mit »sie« waren die Agenten des indischen Geheimdiensts RAW gemeint, deren erklärtes Ziel es war, dafür zu sorgen, dass der wohl berüchtigste Sohn des Landes vor einem heimischen Gericht für die Waffenlieferung an jene Terroristen zur Rechenschaft gezogen wurde, die in Mumbai fast zweihundert Menschen getötet hatten. Gerüchten zufolge planten die Inder einen Überraschungsangriff.

Nachdem Balfour sich mit eigenen Augen davon überzeugt hatte, dass alles in bester Ordnung und seine Sicherheit für die kommenden Stunden gewährleistet war, verließ er mit Mr. Singh die Security-Zentrale und ging zurück zum Haupthaus. An der Eingangstür hielten zwei seiner Männer Wache. Balfour überprüfte ihre Waffen und Magazine und trat danach ins Haus. Neben der Tür am Ende eines langen Flurs standen zwei weitere Wachmänner. Auch bei ihnen überprüfte Balfour Waffen und Magazine, bevor er ins Zimmer ging.

Hinter der Tür befand sich ein großer, offen gestalteter Raum mit Betonfußboden und hoher Decke. Außer einer Werkbank aus Stahl, die sich über die gesamte Länge einer Wand zog, befanden sich keine weiteren Möbel im Raum. In einer Art Wiege, die mit Eisenketten an einem Deckenbalken befestigt war, lag der Sprengkopf.

»Und, wie weit seid ihr?«, erkundigte sich Balfour.

Die beiden Atomphysiker strahlten über das ganze Gesicht. »Das gute Stück ist so gut wie neu.«

»Habt ihr die Bombe scharf gekriegt?«

»Das haben wir.«

»Großartig.«

Balfour verließ die Werkstatt und ging zurück zum Hauptflügel, wo er die Stufen zu seinem Arbeitszimmer hochstieg. Mit einer Handbewegung gab er Singh zu verstehen, dass er die Tür schließen sollte, und wählte dann eine Telefonnummer. »Ja«, meldete sich eine inzwischen vertraute und auf Anhieb unsympathische Stimme.

»Hallo, Sheikh«, begrüßte er seinen neuesten und letzten Klienten, den er zum ersten Mal als Prinz Raschids Gast auf dem Flugplatz von Sharjah getroffen hatte. »Der Teppich kann termingerecht geliefert werden.«

»Befindet er sich in gutem Zustand?«

»Er ist so gut wie neu.«

»Das freut mich zu hören.«

»Sie können ihn morgen Mittag um zwölf am Flugplatz von Pindi in meinem Lager zum vereinbarten Preis in Empfang nehmen. Wird Ihr Bruder wie geplant eintreffen?«

»Ja, und er möchte Ihnen noch einmal für Ihre freundliche Einladung, in Ihrem Haus zu übernachten, danken. Was die Übergabe angeht«, fügte der Sheikh hinzu, »konnten Sie alle abgesprochenen Arrangements für uns treffen?«

»Aber natürlich. Ihr Bruder kann den Teppich ohne Probleme mitnehmen. Ich habe für alles gesorgt und entsprechende Vorkehrungen getroffen.«

»Ausgezeichnet. Also dann bis morgen.«

Balfour beendete das Gespräch. Beim Blick auf die Uhr wurde er unruhig. »Kurz vor zehn«, sagte er zu Singh gewandt. »Sie müssen sofort aufbrechen. Dr. Revys Flieger landet um zwölf.«