34.

Emma zog die Kapuze ihres Anoraks noch ein Stück tiefer ins Gesicht und verfluchte im Stillen das Wetter. Die Schlechtwetterfront, die aus östlicher Richtung herangezogen war, als sie von Chitral aus aufgebrochen waren, hatte sich schneller über ihnen zusammengebraut als gedacht. Die Temperatur war um elf Grad gefallen, und seit einer Stunde schneite es ununterbrochen.

Während sie ihr Eisgerät tief in den Gletscher grub, beobachtete sie, wie der Rest des Teams an ihr vorbeizog. »Genug Sauerstoff für heute?«, fragte sie den einen der beiden Atomphysiker und klopfte ihm kameradschaftlich auf den Rücken.

Der Ingenieur stieß einen Grunzlaut aus, behielt aber sein Tempo bei.

»Bald sind wir da«, rief Emma ihm aufmunternd hinterher. »Nur noch über diesen Berghang.«

Das war natürlich eine Notlüge, aber der Erfolg beim Klettern hing zu neunzig Prozent von der inneren Einstellung ab. Es war wesentlich leichter, wenn man die Strecke in kurze, überschaubare Abschnitte einteilte. Emma blieb, wo sie war, und ließ die anderen passieren: den Bergführer, die Träger mit ihren vierzig Kilo schweren Lastpaketen, in denen die Zeltausrüstung, die Essensrationen und natürlich die Werkzeugkisten zum Öffnen des Marschflugkörpers und Ausbauen des Atomsprengkopfs verstaut waren. Den Schluss bildete der zweite Atomphysiker, den Emma besonders aufmerksam beobachtete. Die Anstrengungen und Strapazen der Expedition waren ihm deutlich ins Gesicht geschrieben, und seine Bewegungen waren steif und unsicher. Vor Beginn der Expedition hatte Emma den schlanken Mann mit dem aufgeweckten Blick und seriösen Auftreten für fit gehalten, doch der Eindruck hatte getäuscht. Seine körperliche Verfassung war besorgniserregend.

Seit sechs Stunden waren sie jetzt unterwegs und hatten jede Stunde eine kurze Pause eingelegt. Nachdem sie das Basiscamp in viereinhalbtausend Meter Höhe verlassen hatten, hatte der Weg sie zunächst einen moderat ansteigenden Berghang hinauf über ein festes, gut begehbares Schneefeld geführt. Die erste Herausforderung erwartete sie nach rund drei Kilometern, als der Schnee einem Gletscherbruch wich. Emma versammelte das Team um sich, um alle anzuseilen und mit Steigeisen auszurüsten. Danach hämmerte sie ihnen ein, dass sie jeden, der auf das Sicherungsseil trete, höchstpersönlich über die nächste Kante stoßen würde. Danach schwiegen alle, und der ernste Teil des Aufstiegs begann.

Der Gletscherbruch sah aus wie eine gigantische, mit Rissen übersäte Marmortreppe, die über eine Strecke von einigen Kilometern einen Höhenunterschied von zweihundertfünfzig Metern überwand. Die allgegenwärtige Angst beim Sprung über eine Gletscherspalte oder dem lauten, bedrohlichen Ächzen des Eises, das unter ihren Füßen zu brechen schien, sorgte dafür, dass alle hoch konzentriert bei der Sache waren. Zum Glück kamen sie unbeschadet über den Gletscher. Danach führte die Route sie wieder auf festem Schnee bogenförmig an der Flanke des Berges entlang.

Gegen Mittag legten sie eine längere Pause ein, um eine Mahlzeit aus Lammdörrfleisch, Reis und Bohnen zu sich zu nehmen. Emma hatte verdrängt, wie viel Zeit es kostete, in dieser Höhe eine warme Mahlzeit zuzubereiten. Bis sie Wasser zum Kochen brachten, vergingen geschlagene dreißig Minuten. Bis der Reis fertig war, dauerte es noch einmal so lange. Da fingen die Männer an zu murren. Der stämmige Atomphysiker hatte sich Blasen gelaufen. Emma stach sie auf und verarztete sie mit Salbe und Blasenpflastern. Der zweite Atomphysiker litt unter Wadenkrämpfen, die Emma durch Massage beseitigte. Dabei presste sie die Daumen so fest in die Waden des Mannes, dass diesem die Tränen in die Augen schossen.

Die Ingenieure waren nicht die Einzigen, die etwas zu meckern hatten. Der Bergführer fing an, sich darüber zu beklagen, dass sie so viele Pausen machten, und verlangte, dass man ihm den Rest seines Lohns auszahlte. Doch Emma hatte auch für dieses Problem eine Lösung parat. Sie ging mit dem Bergführer ein Stück außer Hörweite, packte ihn bei den Eiern und drückte zu.

»Sie werden uns auf dem kürzesten Weg zur Cruise Missile führen«, wies sie ihn an. »Keinerlei Verzögerungen und keine Ausflüchte, dass Sie sich verlaufen haben, oder Ähnliches. Wenn Sie versuchen, irgendwelche Spielchen mit mir zu treiben, werde ich nicht nur dafür sorgen, dass Balfour Ihnen keinen Penny zahlt« – an dieser Stelle lockerte Emma ihren Griff, zog blitzschnell die Uzi und presste dem Bergführer den Lauf an die Stirn, »sondern ich jage Ihnen auch mit Vergnügen eine Kugel in Ihren gierigen, kleinen Schädel.«

Nachdem die Waffe wieder sicher in ihrem Holster verstaut war, gab Emma dem Bergführer einen Klaps auf die Wange. »Balfour hat mich nicht mit der Leitung der Expedition beauftragt, weil er scharf auf meinen Arsch und meine Titten ist. Haben wir uns verstanden?«

»Ja, Ma’am.«

Emma zog ihren Eispickel aus dem Eis und deutete damit auf die anderen Teammitglieder. »Sogar die Träger werden müde«, sagte sie zum Bergführer. »Wenn wir nicht in zwei bis drei Stunden unser Ziel erreicht haben, sehe ich schwarz.«

»Es nicht mehr sein weit«, sagte der Bergführer und legte vorsichtshalber eine schützende Hand vor sein bestes Stück. »Hinter Bergkamm sein kleine Tal. Marschflugkörper auf andere Seite von Tal.«

»Können wir es vor Anbruch der Dunkelheit bis dorthin schaffen?«

»Wenn wir beeilen uns, ja.«

»Wo können wir die Nacht verbringen?«

»In Nähe von Marschflugkörper sein Höhlen.«

Emma packte den Bergführer am Kragen seines Parkas. »Sind Sie ganz sicher, dass das hier der richtige Weg ist?«

Der Mann nickte eifrig.

»Also dann los«, befahl Emma.

Besorgt betrachtete sie die schwarzen Wolken und die umherwirbelnden dicken Schneeflocken. Drei Stunden waren eine Ewigkeit, wenn die Kräfte aufgezehrt waren. Die ganze Expedition war von Anfang an viel zu ambitioniert gewesen. Zwei Tage reichten kaum aus, um eine eintägige Tour zu planen, geschweige denn eine Bergbesteigung mit einem achtköpfigen Team. Andererseits hatten sie keine andere Wahl gehabt. Balfour hatte darauf bestanden, den Sprengkopf auf dem schnellsten Weg vom Berg runterzuholen, und Emma teilte seine Ansicht, dass die Zeit drängte. Connors Verrat beherrschte immer noch ihr Denken und Handeln. Nur die Bombe konnte auf längere Sicht ihr eigenes Überleben sichern.

Emma blieb noch einen Moment am Hang stehen und beobachtete den mühsamen Aufstieg ihres Teams. Bei der Mittagsmahlzeit hatte sie den Männern ein leichtes Amphetamin in den Tee geschüttet, doch die Wirkung würde bald nachlassen. Nach einem letzten Blick auf die Uhr setzte sie sich wieder in Bewegung.

Noch drei Stunden.

Ein nahezu aussichtsloses Unterfangen.

Der dünne Ingenieur war der Erste, der zusammenbrach. Emma gönnte ihm zehn Minuten Pause. Sie zog ihm die Schuhe aus, massierte ihm die Füße, kochte noch eine Tasse von ihrem Spezialtee und zwang ihn, sie bis auf den letzten Schluck auszutrinken. Aber es half alles nichts, der Mann war fix und fertig. Er hatte jenen verlorenen, abwesenden Blick in den Augen, den Emma nur allzu gut kannte. Vor ihren Augen erstreckte sich das hochgelegene Gebirgstal wie eine riesige weiße Schüssel ohne Felsen oder Bäume. Dahinter türmten sich in der Ferne die steilen Flanken des Tirich Mir und verschwanden in den Wolken.

Emmas Blick wanderte zurück zum Ingenieur und zu den anderen Männern, die geduldig darauf warteten, dass es weiterging. Die Träger hatten nicht einmal ihr Gepäck abgesetzt. Eben erst hatten sie den Kamm bezwungen, doch alle Orientierungspunkte für eine halbwegs sichere Überquerung des Hochtals lagen unter dem Neuschnee begraben. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als sich auf gut Glück einen Weg zu suchen. Eisige Windböen peitschten ihnen ins Gesicht. Emma biss die Zähne zusammen. Der Sturm wurde von Minute zu Minute schlimmer.

Mit ausgestrecktem Arm zeigte der Bergführer auf einen Felsen am Ende des Tals, der wie ein Horn geformt war. »Fünf Kilometer«, sagte er.

Emma gab ihren Rucksack an den kräftigsten Träger weiter und zwang den völlig entkräfteten Ingenieur aufzustehen. Dann ging sie in die Hocke, wies den Ingenieur an, auf ihren Rücken zu klettern, und stemmte sich mit ihrer Last wieder hoch. Rund vierundsechzig Kilo, schätzte Emma, während sie die Arme um die spindeldürren Beine des Mannes verschränkte. Die anderen starrten sie mit seltsamen Blicken an.

»Wer zuletzt am Horn ist, hat verloren«, sagte Emma und wandte sich dann an den Bergführer. »Auf geht’s!«

Um 16.50 Uhr, bei Einbruch der Dunkelheit, erreichten sie den Felsen, der wie ein Horn aussah. Emma setzte den Ingenieur ab und brach erschöpft zusammen. Zwei Minuten blieb sie auf dem Rücken liegen, bevor sie sich mit eisernem Willen zwang aufzustehen. Einen Moment lang wurde ihr schwarz vor Augen, und sie begriff, dass sie drauf und dran war, vor Erschöpfung umzukippen. Aber sie ließ sich nichts anmerken und eilte stattdessen von einem Expeditionsteilnehmer zum nächsten, überprüfte, ob es ihnen gut ging, befahl ihnen, genug zu trinken, half ihnen, Energieriegel in unordentlich gepackten Rucksäcken zu finden, und sprach ihnen Mut zu. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass jeder etwas aß und trank, kramte sie für sich einen TrailMix aus dem Rucksack und spülte ihn mit einem Liter Wasser hinunter.

Anschließend bat sie die Träger, in der Höhle Feuer zu machen, und nahm dann die Ingenieure und den Bergführer beiseite. »Bald wird es draußen stockdunkel sein«, sagte sie, »aber vorher sollten unsere beiden Freunde aus Abdul Kadir Khans Werkstatt hier noch einen Blick auf unseren Hauptgewinn werfen.«

»Nur hundert Meter«, erwiderte der Bergführer. »Ich Ihnen zeigen.«

Die Bombe war ein ganzes Stück größer als gedacht. Emma hatte sich im Internet Bilder von Cruise Missiles dieses Typs angesehen, aber dass sie derart imposant und bedrohlich aussahen, damit hatte sie nicht gerechnet. Es handelte sich um eine 6,35 Meter lange und 1429 Kilogramm schwere Boeing AGM-86 mit einem Durchmesser von 0,62 Metern.

Der Bergführer befreite den Marschflugkörper vom Neuschnee und zog das Tarnnetz beiseite, das er vorsichtshalber zusammen mit seinem Bruder darübergespannt hatte. Der Marschflugkörper war haifischgrau und hatte, wie Passagierflugzeuge, eine abgeflachte Spitze. Seine langen, schmalen Flügel, die ihn bei seinem Flug auf Kurs halten sollten, waren nicht ausgeklappt, sondern an der Unterseite verborgen. An der Basis der Heckflosse befand sich ein runder, länglicher Ansaugschacht. An einer Längsseite prangte in schwarzen Großbuchstaben »US Air Force«, und am einen Ende waren etwas kleiner die Seriennummer und andere technische Informationen zu lesen. Doch die Blicke von Emma und ihren Begleitern wurden wie magisch von dem gelb-schwarzen Warnschild angezogen, das zusammen mit den Worten »Achtung, Gefahr: Enthält radioaktives Material. Schwere gesundheitliche Schäden und Todesfolge bei unsachgemäßer Handhabung« an drei Stellen des Rumpfs angebracht war.

Ein klassischer Fall von Untertreibung, dachte Emma.

Der stämmige Ingenieur zog einen Geigerzähler aus dem Rucksack und hielt ihn an die Stelle des Marschflugkörpers, an der sich der Sprengkopf befand. Die Nadel schlug heftig aus und pendelte sich schließlich im roten Bereich ein.

»Uran 235«, stellte der Atomphysiker mit einem Blick auf den Isotopen-Chromatografen fest. »Mit unverändert starker Strahlung.«

»Was ist mit dem Tritium?«, erkundigte sich der dünne Ingenieur nach dem gasförmigen Wasserstoff, mit dem die Kettenreaktion ausgelöst wurde.

»Neunzig Prozent.«

»Mein Gott.«

»Was bedeutet das?«, fragte Emma.

»Dass die Bombe noch scharf ist und jederzeit gezündet werden kann.«