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Der menschlicher Körper beginnt fünf Minuten nach dem Tod zu verwesen. Der Körper, einst die Hülle des Lebens, macht nun die letzte Metamorphose durch. Er beginnt sich selbst zu verdauen. Die Zellen lösen sich von innen nach außen auf. Das Gewebe wird erst flüssig, dann gasförmig.
Kaum ist das Leben aus dem Körper gewichen, wird er zu einem gigantischen Festschmaus für andere Organismen. Zuerst für Bakterien, dann für Insekten. Fliegen. Aus den gelegten Eiern schlüpfen Larven, die sich an der nährreichen Substanz laben und dann abwandern. Sie verlassen die Leiche in Reih und Glied und folgen einander in einer ordentlichen Linie, die sich immer nach Süden bewegt. Manchmal nach Südosten oder Südwesten, aber niemals nach Norden. Niemand weiß, warum.
Mittlerweile sind die Proteine der Muskeln zerfallen und haben einen für die Vegetation tödlichen Chemiecocktail produziert. Durch die Larven, die über das Gras krabbeln, entsteht so eine Nabelschnur des Todes, die sich zu ihrem Ausgangspunkt zurückspannt. Unter den entsprechenden Bedingungen — warm und trocken beispielsweise, ohne Regen — kann sie meterlang werden, eine dicke, braune Schlangenlinie, die vor fetten gelben Larven zu pulsieren scheint. Ein sonderbarer Anblick, der jeden Neugierigen dazu veranlassen würde, dieses Phänomen zurück zu seinem Ursprung zu verfolgen. Und so entdeckten die Yates-Brüder, was von Sally Palmer übrig geblieben war.
Neil und Sam stießen am Rande von Farnley Wood auf die Madenspur, dort, wo der Wald an den Sumpf grenzt. Es war die zweite Juliwoche, und schon jetzt hatte man den Eindruck, der unnatürliche Sommer dauerte eine Ewigkeit. Die scheinbar pausenlose Hitze hatte die Bäume ausgeblichen und den Boden ausgetrocknet und knochenhart gemacht. Die Jungs waren auf dem Weg zum Willow Hole, einem mit Schilf umgebenen Teich, der in der Gegend als Schwimmbad benutzt wurde. Dort wollten sie sich mit Freunden treffen und den ganzen Sonntagnachmittag von einem überhängenden Baum in das lauwarme, grüne Wasser springen. Das hatten sie jedenfalls vorgehabt.
Ich sehe sie vor mir, gelangweilt und lustlos, erschlagen von der Hitze und ungeduldig miteinander. Neil, mit elf drei Jahre älter als sein Bruder, geht wohl etwas voraus, um Sam seine Ungeduld zu demonstrieren. Er hat einen Stock in der Hand, mit dem er auf die Büsche und Äste eindrischt, an denen er vorbeikommt. Sam trottet hinter ihm her und schnieft ab und zu. Nicht aufgrund einer Sommererkältung, sondern wegen des Heuschnupfens, durch den er auch die roten Augen hat. Ein leichtes Antihistamin würde ihm helfen, doch zu diesem Zeitpunkt weiß er das noch nicht. Er schnieft in jedem Sommer. Ganz der Schatten seines Bruders, geht er mit gesenktem Kopf, weshalb ihm und nicht Neil die Madenspur auffällt.
Er bleibt stehen und untersucht sie, ehe er seinen Bruder zurückruft. Neil ist genervt, doch Sam hat offensichtlich etwas entdeckt. Er versucht, sich unbeeindruckt zu geben, aber die wuselige Linie aus Maden fasziniert ihn genauso wie seinen Bruder. Die beiden beugen sich über die Larven, streichen dunkles Haar aus ihren ähnlichen Gesichtern und rümpfen die Nase bei dem Ammoniakgeruch. Und obwohl sich später beide nicht mehr erinnern konnten, wer die Idee hatte, nachzuschauen, woher die Tiere kamen, stelle ich mir vor, dass es Neil war. Da er die Madenspur übersehen hatte, wird er darauf erpicht gewesen sein, seine Vormachtstellung wieder einzunehmen. Also macht sich Neil als Erster auf und geht in Richtung der gelben Sumpfgrasbüschel, von woher die Larven strömen, und überlässt es Sam, ihm zu folgen.
Ob sie den Gestank wahrnahmen, als sie näher kamen? Wahrscheinlich. Er war bestimmt streng genug, um selbst in Sams verstopfte Nase zu dringen. Und wahrscheinlich wussten sie, was es war. Da die beiden keine Stadtjungs sind, wird ihnen der Kreislauf von Leben und Tod bekannt gewesen sein. Außerdem werden die Fliegen sie stutzig gemacht haben, das monotone Summen, das die Hitze erfüllte. Doch die Leiche, die sie entdeckten, war weder ein Schaf noch ein Reh und auch kein Hund, wie sie vielleicht erwartet hatten.
Sally Palmer war nackt und auch im hellen Sonnenlicht nicht mehr zu erkennen. Ihr Körper war durch und durch von Ungeziefer befallen, das unter ihrer Haut brodelte und aus Mund und Nase und anderen, unnatürlicheren Körperöffnungen hervorquoll. Die Larven, die aus ihr hervorströmten, sammelten sich am Boden, ehe sie in dieser Linie davonkrabbelten, die sich nun vor den Yates-Brüdern erstreckte.
Es spielt vermutlich kaum eine Rolle, wer zuerst davonrannte, doch ich glaube, dass es Neil war. Sam musste sich wohl wie immer nach dem großen Bruder richten und versuchen, bei dem Wettlauf nicht abgehängt zu werden, der sie zuerst nach Hause führte und dann auf das Polizeirevier.
Und schließlich zu mir.
Neben einem leichten Beruhigungsmittel gab ich Sam auch ein Antihistamin gegen seinen Heuschnupfen. Aber da war er nicht mehr der Einzige mit roten Augen. Auch Neil hatte die Entdeckung durcheinander gebracht, obwohl er schon versuchte, sich jugendlich abgeklärt zu geben. Deshalb war es auch vor allem er, der mir erzählte, was geschehen war, wobei er die krude Erinnerung bereits zu einer erträglicheren, wiedererzählbaren Geschichte umformte. Und später, nachdem die tragischen Ereignisse dieses unnatürlich heißen Sommers die Runde gemacht hatten, Jahre später sollte Neil noch immer seine Geschichte erzählen, denn er war für immer derjenige geworden, mit dessen Entdeckung alles begonnen hatte.
Aber das stimmte nicht. Es war nur so, dass wir bis dahin nicht erkannt hatten, was mitten unter uns lebte.