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Der Nebel lag noch über dem Sumpf, als die junge Frau die Tür hinter sich schloss und sich auf ihren morgendlichen Lauf machte. Lyn Metcalf hatte einen lockeren, athletischen Laufstil. Obwohl die Zerrung in der Wade gut heilte, ging sie es zuerst langsam an und trabte entspannt los, als sie sich auf dem schmalen Weg von ihrem Haus entfernte. Nach einer Weile bog sie auf einen überwucherten Pfad, der durch das Marschland zum See führte.

Lange Grashalme, noch feucht und kalt vom Tau, schlugen ihr beim Laufen gegen die Beine. Sie holte tief Luft und genoss das Gefühl. Auch wenn es Montagmorgen war, einen besseren Start in die neue Woche konnte sie sich nicht vorstellen. Für sie war dies die schönste Zeit des Tages. Noch musste sie sich nicht um die Steuererklärungen von Bauern und kleinen Geschäftsleuten kümmern, die sich über ihre Ratschläge doch nur ärgerten, noch lag der Tag wie ein Versprechen vor ihr, und noch konnte ihr niemand die Laune verderben. Im Moment war alles frisch und klar, reduziert auf das rhythmische Federn ihrer Füße auf dem Weg und ihre gleichmäßigen Atemzüge.

Mit einunddreißig war Lyn stolz auf ihre Kondition. Stolz auf die Disziplin, mit der sie sich in Form hielt und dafür sorgte, dass sie immer noch gut aussah in ihren Laufshorts und dem knappen Top. Natürlich war sie nicht so selbstgefällig, das laut zu sagen. Aber sie genoss ihre Fitness, und das machte es ihr leichter, sich jeden Morgen zum Laufen zu motivieren. Sie genoss es, sich zu fordern, auszuprobieren, wo ihre Grenzen waren, um dann noch ein bisschen darüber hinauszugehen. Sie konnte sich keinen besseren Tagesbeginn vorstellen, als die Laufschuhe anzuziehen und ein paar Meilen zurückzulegen, während um sie herum die Welt langsam erwachte.

Na gut, außer Sex natürlich. Aber der Reiz daran war in letzter Zeit verblasst. Gut war er immer noch — beim Anblick, wie sich Marcus nach der Arbeit unter der Dusche den Baustaub abwusch und ihm die dunkle Behaarung im Wasser wie ein Otterpelz am Körper klebte, hatte sie immer noch Schmetterlinge im Bauch. Aber seit sie es nicht mehr nur zum Vergnügen taten, war die Freude daran für beide allmählich abgestumpft. Besonders, weil ihr Sex noch zu nichts geführt hatte.

Bisher.

Sie machte einen Satz über eine tiefe Furche im Weg, ohne ihren Trab zu unterbrechen, stets darauf bedacht, ihren Rhythmus nicht zu verlieren. Meinen Rhythmus verlieren, dachte sie erbittert. Ich wünschte, ich könnte. Was Rhythmen anging, war ihr Körper so regelmäßig wie ein Uhrwerk. Jeden einzelnen Monat, fast auf den Tag genau, begann die verhasste Blutung — das Ende eines weiteren Zyklus und eine neue Enttäuschung. Die Ärzte hatten gesagt, dass bei ihnen beiden alles in Ordnung wäre. Bei manchen Menschen dauerte es einfach länger als bei anderen; warum, das wusste niemand. Versuchen Sie es weiter, hatten sie gesagt. Und das hatten sie auch getan, anfänglich eifrig, darüber lachend, dass die Ärzte ihnen geraten hatten, was beide sowieso genossen. Fast so, als hätten sie es verschrieben bekommen, hatte Marcus gewitzelt. Doch mit der Zeit waren ihnen die Witze vergangen und durch eine Atmosphäre ersetzt worden, die im Ansatz bereits einer Verzweiflung glich. Und sie begann alles andere zu übertünchen und jeden Aspekt ihrer Beziehung zu verderben.

Zugeben wollte es keiner von beiden. Aber die Verstimmung war da. Sie wusste, dass Marcus schon genug Probleme damit hatte, dass sie im Steuerbüro mehr verdiente als er, der Bauarbeiter. Die gegenseitigen Vorwürfe hatten noch nicht begonnen, doch sie hatte Angst, dass es bald so weit sein könnte. Und sie wusste, dass sie genauso gut austeilen konnte wie Marcus. Nach außen hin versicherten sie sich, dass es keinen Grund zur Sorge gab, dass sie keine Eile hatten. Aber sie hatten es nun schon seit Jahren probiert, und in weiteren vier Jahren würde sie fünfunddreißig sein, ein Alter, das sie immer als Grenze gesehen hatte. Sie stellte eine schnelle Rechnung auf. Das sind noch achtundvierzig Menstruationen. Es erschien beängstigend wenig. Noch achtundvierzig mögliche Enttäuschungen, die zu denen kamen, die sie bereits hinter sich hatte. Doch diesen Monat war es anders. Diesen Monat ließ die Enttäuschung schon seit drei Tagen auf sich warten.

Sie unterdrückte schnell den aufflackernden Hoffnungsschimmer. Dafür war es noch zu früh. Sie hatte Marcus nicht einmal erzählt, dass ihre Periode noch nicht eingesetzt hatte. Weshalb sollte sie ihm umsonst Hoffnungen machen? Sie würde noch ein paar Tage warten und dann einen Test machen. Allein dieser Gedanke reichte aus, um ihr ein flaues Gefühl im Magen zu bereiten. Laufen, nicht denken, sagte sie sich streng.

Jetzt kam die Sonne heraus und brachte den Himmel direkt vor ihr zum Leuchten. Der Pfad führte an einer Böschung am See entlang, durch das Schilf hindurch und mündete dann in ein dunkles Waldgebiet. Nebel stieg züngelnd vom Wasser auf, als würde es gleich brennen. Das Geräusch eines springenden Fisches durchbrach die Stille mit einem unsichtbaren Klatschen. Sie liebte das, sie liebte den Sommer und sie liebte diese Landschaft. Sie war zwar hier geboren worden, doch zum Studium fort gewesen und oft und viel gereist. Aber jedes Mal war sie zurückgekommen. Das gelobte Land, hatte ihr Dad immer gesagt. Sie glaubte eigentlich nicht an Gott, aber sie wusste, was er meinte.

Jetzt kam sie zum Lieblingsabschnitt ihrer Laufstrecke. Sie folgte einem Pfad, der in den Wald abzweigte. Als sich die Bäume über ihr schlössen und sie in Schatten hüllten, verlangsamte sie ihren Schritt. Zu leicht konnte man im schummerigen Licht über eine Wurzel stolpern. So hatte sie sich auch die Zerrung in der Wade zugezogen, und es hatte fast zwei Monate gedauert, bis sie wieder laufen konnte.

Doch die Sonne begann bereits die Düsternis zu durchbrechen und den Baldachin aus Laub in ein schimmerndes Gitterwerk zu verwandeln. Der Wald war alt hier, eine Wildnis aus mit Kletterpflanzen umrankten Stämmen und einem sumpfigen, tückischen Boden. Dazwischen verlief ein Gewirr mäandernder Pfade, die einen Unachtsamen in die Tiefen des Forstes locken konnten, nur um sich dann abrupt zu verlieren. Als sie gerade in ihr Haus gezogen waren, hatte Lyn während eines ihrer morgendlichen Laufe den Fehler gemacht, den Wald erkunden zu wollen. Es hatte Stunden gedauert, ehe sie durch reines Glück wieder auf vertrautes Gelände gelangt war. Marcus war vor Sorge außer sich gewesen — und wütend —, als sie schließlich nach Hause gefunden hatte. Seitdem blieb sie immer auf demselben Pfad, der sie in den Wald hinein- und wieder hinausführte.

Auf halbem Wege ihrer Sechs-Meilen-Strecke befand sich eine kleine Lichtung, in deren Zentrum eine alte Steinsäule stand. Ob der Stein einmal Teil einer prähistorischen Anlage oder auch nur ein Torpfosten gewesen war, wusste niemand mehr. Überwachsen mit Moos und Gras, war seine Geschichte und sein Geheimnis längst vergessen. Aber er war eine praktische Wendemarke, und Lyn hatte es sich angewöhnt, seine raue Oberfläche zu tätscheln, bevor sie sich auf den Rückweg machte. Die Lichtung war nicht mehr weit, höchstens noch fünf Minuten. Tief, aber regelmäßig atmend dachte Lyn an das Frühstück, um sich zum schnelleren Laufen anzustacheln.

Sie war sich nicht sicher, wann das Unbehagen einsetzte. Es war eher ein ungutes Gefühl, ein unterschwelliger Juckreiz, der schließlich zu einem bewussten Gedanken wurde. Plötzlich schien der Wald unnatürlich ruhig zu sein. Bedrückend. Das dumpfe Geräusch ihrer Schritte auf dem Pfad klang in der Stille zu laut. Sie versuchte, das Gefühl zu ignorieren, doch es verging nicht. Es wurde noch intensiver. Sie unterdrückte den Impuls, sich umzudrehen. Was zum Teufel war los mit ihr? In den letzten zwei Jahren war sie diese Strecke doch fast jeden Morgen gelaufen. Noch nie war sie dabei beunruhigt gewesen.

Aber jetzt. Ihr Nacken kribbelte, als würde sie beobachtet werden. Sei nicht dumm, sagte sie sich. Doch der Drang, sich umzudrehen, wurde stärker. Sie hielt ihren Blick auf den Weg gerichtet. Das einzige größere Lebewesen, das sie jemals hier gesehen hatte, war ein Reh. Aber was auch immer es nun war, es fühlte sich nicht an wie ein Reh. Weil es auch keines ist. Es ist nichts. Nur deine Phantasie. Deine Periode ist drei Tage zu spät, und du lässt dich davon verrückt machen.

Der Gedanke lenkte sie ab, aber nur kurz. Sie riskierte einen kurzen Blick, lange genug, um nur dunkle Äste und den Pfad zu sehen, der sich aus ihrem Blickfeld schlängelte, ehe ihr Fuß gegen etwas stieß. Sie stolperte, ruderte mit den Armen, um ihr Gleichgewicht zu finden, und schaffte es mit pochendem Herzen, aufrecht zu bleiben. Idiotin! Doch jetzt lag die Lichtung genau vor ihr, eine Oase aus gesprenkelten Sonnenstrahlen im finsteren Wald. Sie legte einen kleinen Zwischenspurt ein, schlug mit der Hand auf die raue Oberfläche der Steinsäule und drehte sich schnell um.

Nichts. Nur düstere, im Schatten liegende Bäume.

Was hast du erwartet? Kobolde? Doch sie verließ die Lichtung noch nicht. Sie hörte kein Vogelgezwitscher, kein Insektensummen. Der Wald schien nachdenklich schweigend seinen Atem anzuhalten. Lyn hatte plötzlich Angst, die Stille zu durchbrechen, es widerstrebte ihr, die Zuflucht der Lichtung zu verlassen und erneut die Enge zwischen den Bäumen zu spüren. Und was hast du nun vor? Willst du den ganzen Tag hier bleiben?

Um sich gar keine Zeit zum Nachdenken zu lassen, stieß sie sich vom Stein ab. Noch fünf Minuten und sie wäre wieder draußen im Freien. Auf freiem Feld und unter freiem Himmel am offenen Wasser. Sie sah es in Gedanken vor sich. Die Unruhe war noch da, aber weniger eindringlich. Und der schattige Wald wurde lichter, die Sonne warf ihre Strahlen nun genau vor sie. Gerade als sie sich zu entspannen begann, sah sie etwas auf dem Boden liegen.

Sie blieb ein paar Meter davor stehen. Ausgebreitet wie eine Opfergabe lag in der Mitte des Weges ein totes Kaninchen. Nein, kein Kaninchen. Ein Hase, dessen weiches Fell mit Blut verfilzt war.

Er hatte eben noch nicht dort gelegen.

Schnell schaute sich Lyn um. Aber die Bäume gaben keinen Hinweis darauf, woher er gekommen war. Sie machte einen Schritt um den Hasen herum und lief dann weiter. Ein Fuchs, sagte sie sich, als sie wieder in ihren Rhythmus fand. Sie musste ihn gestört haben. Doch ein Fuchs hätte seine Beute nicht zurückgelassen, ob er gestört wurde oder nicht. Und der Hase sah nicht so aus, als wäre er einfach fallen gelassen worden. So, wie er dalag, sah es aus, als ob …

Es sah nach Absicht aus.

Aber das war Blödsinn. Sie schob den Gedanken beiseite, während sie den Pfad hinabstürmte. Und dann hatte sie den Wald hinter sich gelassen und war wieder im Freien, wo sich der See vor ihr ausbreitete. Die Angst, die sie noch vor wenigen Minuten gespürt hatte, verflog und verblasste mit j edem Schritt. Im Sonnenlicht erschien sie absurd. Sogar peinlich.

Später sollte sich ihr Mann Marcus daran erinnern, dass im Radio gerade die Lokalnachrichten liefen, als sie hereinkam. Während er Brot in den Toaster steckte und eine Banane in Scheiben schnitt, erzählte er Lyn, dass nur wenige Meilen entfernt eine Leiche gefunden worden war. Diese Information musste damals schon eine Assoziation in ihr geweckt haben, denn sie berichtete ihm von dem toten Hasen. Aber sie lachte und machte sich lustig darüber, wie unheimlich ihr zumute gewesen war. Als das Brot aus dem Toaster sprang, schien der Vorfall für beide bereits unwichtig zu sein.

Und nachdem sie aus der Dusche kam, wurde er nicht mehr erwähnt.