22

Am nächsten Morgen erfuhr ich aus den Nachrichten, dass ein Verdächtiger verhaftet worden war.

Ich hatte eine größtenteils schlaflose Nacht hinter mir, die meiste Zeit hatte ich auf einem Stuhl gesessen und gleichzeitig gehofft und gefürchtet, dass Mackenzie anrufen würde. Doch das Telefon war stumm geblieben. Um fünf Uhr war ich aufgestanden und hatte geduscht. Erst wollte ich das Radio nicht anmachen, weil ich wusste, was die zentrale Nachricht sein würde. Doch die Stille im Haus war bedrückend, und nichts zu hören war noch schlimmer. Als es Zeit für die Acht-Uhr-Nachrichten war, gab ich auf und schaltete das Radio ein.

Dennoch rechnete ich nicht damit, etwas Neues zu erfahren. Da ich mir gerade Kaffee machen wollte und die Maschine füllte, übertönte das Geräusch des laufenden Wasserhahns die ersten Sekunden der Sendung. Aber ich hörte die Worte »Verhaftung« und »Verdächtiger« und drehte aufgeregt das Wasser ab.

»… der Name wurde nicht bekannt gegeben, doch die Polizei bestätigt, dass gestern Abend in Verbindung mit der Entführung der Lehrerin Jenny Hammond ein Mann aus der Gegend verhaftet wurde …«

Der Nachrichtensprecher ging zum nächsten Thema über. Und was ist mit Jenny?, wollte ich schreien. Wenn jemand verhaftet worden war, warum hatte man sie dann nicht gefunden? Ich merkte, dass ich immer noch die Kaffeekanne umklammerte. Ich knallte sie auf den Tisch und schnappte mir das Telefon. Na los, geh ran, betete ich, nachdem ich Mackenzies Nummer gewählt hatte. Es klingelte lange, und als ich schon dachte, dass gleich seine Mailbox angeht, nahm er ab.

»Haben Sie sie gefunden?«, fragte ich, ehe er etwas sagen konnte.

»Dr. Hunter?«

»Haben Sie sie gefunden?«

»Nein. Hören Sie, ich kann jetzt nicht reden. Ich rufe Sie zurück …«

»Legen Sie nicht auf! Wen haben Sie verhaftet?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen.«

»Ach, um Himmels willen …!«

»Er steht nicht unter Anklage, deshalb geben wir seinen Namen noch nicht bekannt. Sie wissen doch, wie es läuft.« Er klang entschuldigend.

»Hat er Ihnen schon etwas gesagt?«

»Wir befragen ihn noch.«

Mit anderen Worten, nein. »Warum haben Sie mir nicht Bescheid gesagt? Sie wollten anrufen, sobald sich etwas getan hat!«

»Es war schon spät. Ich wollte Sie heute Morgen informieren.«

»Was, dachten Sie, Sie würden mich stören?«

»Hören Sie, ich weiß, dass Sie sich Sorgen machen, aber dies ist eine polizeiliche Ermittlung und …«

»Ich weiß, ich war daran beteiligt, erinnern Sie sich?«

»… und wenn es so weit ist, werde ich Ihnen alles berichten. Doch im Moment verhören wir einen Verdächtigen, und mehr darf ich nicht sagen.«

Ich unterdrückte das Verlangen, ihn anzubrüllen. Er war kein Typ, der auf Drohungen reagierte. »Im Radio wurde gesagt, es wäre ein Mann aus der Gegend«, sagte ich so ruhig wie möglich. »Über kurz oder lang wird also jeder im Dorf wissen, wer es ist, ob Sie es wollen oder nicht. Ich werde es also sowieso erfahren. Es bedeutet nur, dass ich mir in den nächsten Stunden den Kopf darüber zermartern werde.« Mit einem Mal hatte ich keine Kraft mehr zu diskutieren. »Bitte. Ich muss es wissen.«

Er zögerte. Ich sagte nichts und ließ ihm Zeit, zu einer Entscheidung zu kommen. Ich hörte ihn seufzen. »Warten Sie einen Moment.«

Die Sprechmuschel wurde zugehalten. Ich vermutete, dass er irgendwo hinging, wo ihn keiner hören konnte. Als er sich wieder meldete, war seine Stimme gedämpft.

»Das ist jetzt streng vertraulich, okay?« Ich antwortete erst gar nicht. »Es ist Ben Anders.«

Ich war auf einen Namen gefasst gewesen, den ich kannte. Aber nicht auf diesen.

»Dr. Hunter? Sind Sie noch da?«, fragte Mackenzie.

»Ben Anders?«, wiederholte ich fassungslos.

»Sein Wagen wurde in den frühen Morgenstunden, bevor Jenny Hammond verschwunden ist, in der Nähe ihres Hauses gesehen.«

»Und das ist alles?«

»Nein, das ist nicht alles«, blaffte er. »Im Kofferraum haben wir Material zum Bau von Fallen gefunden. Draht, Drahtscheren. Holzpfähle. Kein Zeug, das ein Aufseher eines Naturschutzgebietes normalerweise mit sich herumschleppt.«

Ich konnte es immer noch nicht glauben. Doch jetzt begann mein Gehirn zu arbeiten. »Wer hat seinen Wagen in der Nähe von Jennys Haus gesehen?«

»Das darf ich Ihnen nicht sagen.«

»Sie haben einen Tipp bekommen, richtig? Einen anonymen Tipp.«

»Wie kommen Sie darauf?« Seine Stimme wurde misstrauisch.

»Weil ich weiß, von wem er stammt«, sagte ich mit plötzlicher Überzeugung. »Von Carl Brenner. Erinnern Sie sich, wie ich Ihnen erzählt habe, dass Ben glaubte, er würde wildern? Vor ein paar Abenden hatten sie eine Prügelei. Brenner hat den Kürzeren gezogen.«

»Das heißt noch gar nichts«, sagte Mackenzie stur.

»Es heißt, dass Sie Brenner mal auf den Zahn fühlen sollten. Ich kann nicht glauben, dass Ben etwas damit zu tun hat.«

»Weshalb? Weil er ein Freund von Ihnen ist?« Mackenzie war jetzt wütend.

»Nein, weil ich glaube, dass man ihm etwas anhängen will.«

»Ach, und glauben Sie, auf die Idee wären wir nicht auch schon gekommen? Und bevor Sie fragen, Brenner hat zufällig ein wasserdichtes Alibi, was man von Ihrem Freund Anders nicht behaupten kann. Wussten Sie, dass er ein Exfreund von Sally Palmer war?«

Diese Neuigkeit fegte alles weg, was ich hätte sagen wollen.

»Sie hatten vor ein paar Jahren eine Beziehung«, fuhr Mackenzie fort. »Kurz bevor Sie ins Dorf gezogen sind, um genau zu sein.«

»Das wusste ich nicht«, sagte ich benommen.

»Vielleicht hat er vergessen, es zu erwähnen. Und ich wette, er hat auch vergessen zu erwähnen, dass er vor fünfzehn Jahren wegen sexueller Nötigung verhaftet worden ist, oder?«

Zum zweiten Mal fehlten mir die Worte.

»Wir hatten ihn schon im Auge, bevor wir den Tipp bekommen haben. So erstaunlich es auch sein mag, aber wir sind keine Vollidioten«, sagte Mackenzie kühl. »Und wenn Sie nun entschuldigen würden, ich habe zu tun.«

Ein Klicken, dann war die Verbindung unterbrochen. Ich legte auch auf. Ich wusste nicht mehr, was ich denken sollte. Normalerweise hätte ich geschworen, dass Ben unschuldig war. Und ich war weiterhin davon überzeugt, dass der anonyme Tipp von Carl Brenner kam. Der Mann war kleingeistig genug, dass er um jeden Preis seine Rechnung mit Ben begleichen wollte, egal, was für Konsequenzen das hatte.

Trotzdem hatten mich Mackenzies Worte erschüttert. Ich hatte keine Ahnung, dass Ben eine Beziehung mit Sally gehabt, geschweige denn, dass er sich schon einmal eines Sexualdeliktes schuldig gemacht hatte. Natürlich gab es keinen Grund, warum er mir das hätte erzählen sollen, und wahrscheinlich jeden Grund, es unter diesen Umständen nicht zu tun. Doch jetzt musste ich mich fragen, wie gut ich ihn eigentlich kannte. Die Welt ist voller Menschen, die nicht glauben wollen, dass jemand, den sie kennen, ein Mörder sein könnte. Zum ersten Mal fragte ich mich, ob ich einer von diesen Menschen war.

Doch wesentlich besorgniserregender war die Möglichkeit, dass die Polizei kostbare Zeit mit dem falschen Mann vergeudete. Urplötzlich hatte ich einen Entschluss gefasst. Ich nahm meine Wagenschlüssel und lief aus dem Haus. Wenn Brenner gelogen hatte, um Ben zu belasten, dann musste ihm klar gemacht werden, welchen Preis Jenny dafür bezahlen könnte. Ich musste es so oder so wissen und ihn, wenn nötig, davon überzeugen, die Wahrheit zu sagen. Sonst …

Ich wollte nicht daran denken, was sonst passieren würde. Die Sonne schien bereits heiß, als ich durch das Dorf fuhr. Es wimmelte noch mehr von Polizisten und Presse als je zuvor. Die Journalisten, Fotografen und Tontechniker standen verstimmt in Gruppen zusammen, frustriert von ihren Versuchen, die verschlossenen Einheimischen zu interviewen. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass sie wegen Jenny hier waren. Als ich an der Kirche vorbeifuhr, sah ich Scarsdale auf dem Friedhof. Aus einem Impuls heraus hielt ich an und stieg aus. Er sprach gerade mit Tom Mason und gab dem Gärtner mit erhobenem Finger Anweisungen. Als er mich kommen sah, hielt er inne, und sein Gesicht legte sich missmutig in Falten.

»Dr. Hunter«, grüßte er mich kalt.

»Sie müssen mir einen Gefallen tun«, sagte ich ohne Umschweife.

Er konnte seine Genugtuung kaum verbergen. »Einen Gefallen? Das ist ja etwas ganz Neues, dass Sie mich um etwas bitten müssen.«

Ich ließ ihn seinen Triumph auskosten. Es stand mehr auf dem Spiel als sein oder mein Stolz. Ohne zu fragen, was ich wollte, schaute er geziert auf seine Uhr.

»Aber was auch immer es ist, es wird warten müssen. Ich erwarte einen Anruf. Ich soll in Kürze ein Live-Interview im Radio geben.«

Zu jeder anderen Zeit hätte mich sein aufgeblasener Tonfall geärgert, doch jetzt nahm ich ihn kaum wahr. »Es ist wichtig.«

»Dann werden Sie ja warten können, nicht wahr?« Er legte seinen Kopf schief, als aus einer geöffneten Tür an der Seite der Kirche ein Telefonklingeln ertönte. »Entschuldigen Sie mich.«

Ich hätte ihn am liebsten an seinem staubigen Revers gepackt und geschüttelt. Stattdessen biss ich die Zähne zusammen, als er hineineilte. Ich war versucht, wieder zu gehen. Aber Scarsdales Anwesenheit könnte helfen, wenn ich Brenners Gewissen anrühren wollte, wie auch immer das aussehen mochte. Nachdem ich ihn in der vergangenen Nacht fast über den Haufen gefahren hatte, bezweifelte ich, dass er mir zuhören würde, wenn ich allein kam.

Das Geräusch der Gartenschere riss mich allmählich aus meiner Versenkung. Ich schaute hinüber zu Tom Mason, der bedächtig das Gras um ein Blumenbeet trimmte und so gut wie möglich so tat, als hätte er den Wortwechsel nicht gehört. Erst jetzt fiel mir ein, dass ich ihn nicht einmal gegrüßt hatte.

»Morgen, Tom«, sagte ich und versuchte, normal zu klingen. Ich schaute mich nach seinem Großvater um. »Wo ist George?«

»Noch im Bett.«

Ich hatte gar nicht gewusst, dass er krank war. Ein weiteres Zeichen dafür, wie ich die Arbeit in der Praxis hatte schleifen lassen. »Wieder sein Rücken?«

Er nickte. »Noch ein paar Tage und er ist wieder auf dem Damm.«

Ich hatte ein schlechtes Gewissen. Der gute George und sein Enkel waren zwar Henrys Patienten, aber für die Hausbesuche war ich zuständig. Und der alte Gärtner war ein solch fester Bestandteil von Manham, dass mir seine Abwesenheit hätte auffallen müssen. Wie viele andere Menschen hatte ich in letzter Zeit im Stich gelassen? Und ich tat es weiterhin, denn Henry musste während der Sprechstunde heute Morgen erneut ohne mich klarkommen.

Aber die Angst um Jenny drängte alles andere in den Hintergrund. Das Bedürfnis, etwas zu tun — irgendetwas —, begann überzusprudeln, während Scarsdales wichtigtuerischer Singsang durch die offene Tür getragen wurde. Mir war schwindelig vor lauter Ungeduld. Das Sonnenlicht auf dem Kirchhof erschien mir zu grell, und von den süßen Gerüchen in der Luft wurde mir übel. Irgendetwas zerrte an meinem Unterbewusstsein, aber was auch immer es war, es verschwand, als ich hörte, wie Scarsdale auflegte. Einen Moment später kehrte er mit selbstgerechter Miene aus dem Kirchenbüro zurück.

»Nun, Dr. Hunter. Sie haben mich um einen Gefallen gebeten.«

»Ich bin auf dem Weg zu Carl Brenner. Ich möchte, dass Sie mich begleiten.«

»Tatsächlich? Und warum sollte ich das tun?«

»Weil es wahrscheinlicher ist, dass er Ihnen zuhört.«

»Was soll ich ihm sagen?«

Ich schaute kurz zu dem Gärtner hinüber, aber er war, in seine Arbeit vertieft, weggegangen. »Die Polizei hat jemanden verhaftet. Ich glaube, die Beamten könnten aufgrund einer Aussage von Carl Brenner einen Fehler gemacht haben.«

»Dieser ›Fehler‹ hat nicht zufällig etwas mit Ben Anders zu tun?« Mein Gesichtsausdruck muss Antwort genug gewesen sein. Scarsdale sah zufrieden mit sich aus. »Es tut mir Leid, Sie zu enttäuschen, aber das ist nun wirklich keine Neuigkeit. Man hat gesehen, wie er abgeführt wurde. So etwas kann man kaum geheim halten.«

»Es spielt keine Rolle, wer es ist, ich glaube trotzdem, dass Brenner der Polizei falsche Informationen gegeben hat.«

»Darf ich fragen, warum?«

»Er hat eine Rechnung mit Ben offen. Das ist seine Chance, es ihm heimzuzahlen.«

»Aber das wissen Sie nicht mit Sicherheit, oder?« Scarsdale schürzte tadelnd seine Lippen. »Und Anders ist ein Freund von Ihnen, glaube ich.«

»Wenn er schuldig ist, dann hat er jede Strafe verdient. Doch wenn nicht, verschwendet die Polizei Zeit mit einer falschen Spur.«

»Das sollte die Polizei entscheiden und nicht der Landarzt.«

Ich versuchte, ruhig zu bleiben. »Bitte.«

»Tut mir Leid, Dr. Hunter, aber ich glaube nicht, dass Sie sich bewusst sind, um was Sie da bitten. Sie wollen, dass ich mich in eine polizeiliche Ermittlung einmische.«

»Ich will ein Leben retten!« Ich schrie fast. »Bitte«, wiederholte ich ruhiger. »Es geht nicht um mich. Vor ein paar Tagen saß Jenny Hammond in Ihrer Kirche, als Sie von der Notwendigkeit gesprochen haben, etwas zu tun. Vielleicht ist sie noch am Leben, aber viel Zeit hat sie nicht mehr. Es gibt kein … Ich kann nicht…«

Die Stimme versagte mir. Scarsdale beobachtete mich. Unfähig, weiter zu sprechen, schüttelte ich den Kopf und wandte mich ab.

»Wie kommen Sie darauf, dass Carl Brenner auf mich hören wird?«

Ich wartete einen Moment, um mich wieder zu fassen, ehe ich mich zu ihm umdrehte. »Sie haben diese Patrouillen veranlasst. Er wird eher auf Sie hören als auf mich.«

»Dieses dritte Opfer«, sagte er vorsichtig. »Sie kennen sie?«

Ich nickte nur. Er betrachtete mich eine Weile. In seinem Blick war etwas, das ich bei ihm noch nie gesehen hatte. Ich brauchte einen Augenblick, um es als Mitgefühl zu erkennen. Dann war es verschwunden und durch seinen gewohnten Hochmut ersetzt worden.

»Na gut«, sagte er.

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Ich war vorher noch nie im Haus der Brenners gewesen, es war jedoch eine Art regionales Wahrzeichen, das man kaum übersehen konnte. Es lag ungefähr eine Meile außerhalb des Dorfes an einem Feldweg, der den ganzen Sommer mit Schlaglöchern übersät war und während des restlichen Jahres nur aus schmutzigen Pfützen und Schlamm bestand. Die Felder in der Umgebung waren einst drainiertes Ackerland gewesen, mit der Zeit aber wieder verwildert. Mittendrin, umgeben von Gerümpel und Schutt, stand das Haus. Es war ein großes, verfallenes Gebäude, dass weder eine gerade Wand noch einen rechten Winkel zu haben schien. Über die Jahre waren Anbauten vorgenommen worden, baufällige Konstruktionen, die sich wie Blutegel an die Mauern klammerten. Das Dach war mit Wellblech ausgebessert und mit einer unpassend modernen und riesigen Satellitenschüssel geschmückt worden.

Scarsdale hatte während der kurzen Fahrt kein Wort gesagt. Im beengten Innenraum des Wagens war sein muffiger, leicht säuerlicher Geruch noch penetranter. Der Landrover holperte über den ausgefahrenen Weg zum Haus. Ein Hund kam auf uns zugelaufen und bellte wild, hielt aber Abstand, als wir aus dem Wagen stiegen. Als ich an die Vordertür klopfte, rieselten Splitter alter Farbe hinab. Sie wurde fast sofort von einer angegriffen aussehenden Frau geöffnet, in der ich Carl Brenners Mutter erkannte.

Sie war schrecklich dünn und hatte strähniges, graues Haar und blasse Haut, als wäre sie vom Leben ausgezehrt worden. Da sie Witwe war und angesichts des Naturells ihrer Kinder, die sie allein hatte großziehen müssen, war das wohl auch der Fall. Trotz der Hitze trug sie eine selbst gestrickte Jacke über einem verwaschenen Kleid. Sie zupfte daran, als sie uns wortlos anblinzelte.

»Ich bin Dr. Hunter«, sagte ich. Scarsdale musste nicht vorgestellt werden. »Ist Carl zu Hause?«

Keine Antwort. Erst als ich die Frage gerade wiederholen wollte, verschränkte sie die Arme vor der Brust.

»Er ist im Bett.« Sie sprach schnell, auf eine gleichzeitig aggressive und nervöse Weise.

»Wir müssen mit ihm reden. Es ist wichtig.«

»Er wird nicht gerne geweckt.«

Scarsdale trat vor. »Es wird nicht lange dauern, Mrs. Brenner. Aber es ist wichtig, dass wir mit ihm sprechen.«

Ich ärgerte mich kurz darüber, dass er die Kontrolle übernommen hatte, aber das ging schnell vorüber. Wichtig war nur, ins Haus zu kommen.

Widerwillig trat sie einen Schritt zurück, sodass wir eintreten konnten. »Warten Sie in der Küche. Ich hole ihn.«

Scarsdale ging zuerst ins Haus. Ich folgte ihm in den unordentlichen Flur. Es roch nach alten Möbeln und Bratkartoffeln. Als wir in die Küche gingen, wurde der Fettgestank intensiver. In einer Ecke lief ein kleiner Fernseher. Am Tisch, vor leeren Frühstückstellern, zankten sich ein halbwüchsiger Junge und ein Mädchen. Daneben saß Scott Brenner, einen Fuß bandagiert und auf einen Hocker gelagert, und sah mit einem Becher Tee in der Hand fern.

Als wir hereinkamen, verstummten sie und starrten uns an. »Morgen«, sagte ich verlegen zu Scott. An die Namen seiner halbwüchsigen Geschwister konnte ich mich nicht erinnern. Zum ersten Mal begann ich in Frage zu stellen, was ich vorhatte. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich jemanden zu Hause aufsuchte, um ihn der Lüge zu bezichtigen. Doch ich wollte keine Zweifel zulassen. Egal, ob es richtig oder falsch war, ich musste es tun.

Die Stille dehnte sich aus. Scarsdale stand im Zentrum des Raumes, so unbeeindruckt von seiner Umgebung wie eine Statue. Der Junge und das Mädchen glotzten uns weiter an. Scott starrte in seinen Schoß.

»Wie geht es Ihrem Fuß?«, fragte ich, um etwas zu sagen.

»In Ordnung.« Er betrachtete ihn und zuckte mit den Achseln. »Tut ein bisschen weh.«

Ich konnte sehen, dass der Verband schmutzig war. »Wann haben Sie den Verband das letzte Mal gewechselt?«

Er wurde rot. »Keine Ahnung.«

»Aber er wurde doch schon einmal gewechselt, oder?« Er antwortete nicht. »Es war eine schlimme Wunde, Sie müssen sich darum kümmern.«

»Ich komme ja schlecht irgendwo hin, oder?«, meinte er gekränkt.

»Wir hätten dafür sorgen können, dass jemand vorbeikommt. Oder Carl hätte Sie in die Praxis bringen können.«

Sein Gesicht verfinsterte sich. »Er war zu beschäftigt.«

Ja, dachte ich, das kann ich mir vorstellen. Doch es stand mir nicht zu, selbstgerecht zu sein. Dies war nur eine weitere Mahnung, wie sehr ich den Kontakt zu meinen Pflichten als Arzt verloren hatte. Man konnte hören, wie jemand die Treppe herunterkam, dann trat seine Mutter in die Küche.

»Melissa, Sean, raus mit euch«, wies sie die Teenager an.

»Wieso?«, wollte das Mädchen wissen.

»Weil ich es sage! Na los!«

Widerwillig schlurften sie hinaus. Ihre Mutter ging zur Spüle und ließ Wasser ein.

»Kommt er runter?«, fragte ich.

»Wenn er so weit ist.«

Mehr wollte sie anscheinend nicht sagen. Schlecht gelaunt begann sie einen Haufen Geschirr abzuwaschen, und außer dem Planschen des Wassers und dem Klappern des Bestecks und der Teller war es still in der Küche. Ich horchte, ob ich Geräusche auf der Treppe hörte, aber da war nichts.

»Und was soll ich nun machen?«, fragte Scott und starrte besorgt auf seinen Fuß.

Ich musste mich mühsam wieder auf ihn konzentrieren. Mir war bewusst, dass Scarsdale mich beobachtete. Für einen Moment kämpfte meine Ungeduld mit meinem Pflichtgefühl, dann gab ich nach. »Lassen Sie mich mal nachschauen.«

Die Wunde sah nicht so schlimm aus, wie es bei dem schmutzigen Zustand der Bandage hätte sein können. Sie heilte, und die Chancen standen gut, dass er seinen Fuß wieder vollständig benutzen konnte. Die Stiche sahen aus, als wären sie von einer ungeschickten Schwesternschülerin gemacht worden, doch die Ränder der Wunde begannen sauber zusammenzuwachsen. Ich holte meine Tasche aus dem Wagen und machte mich daran, die Wunde zu säubern und neu zu verbinden. Ich war fast fertig damit, als polternde Schritte Carl Brenners Kommen ankündigten.

Ich beendete meine Arbeit und stand auf, während er hereingeschlurft kam. Er trug dreckige Jeans und ein enges T-Shirt. Sein Oberkörper war blass, aber kräftig und mit drahtigen Muskeln überzogen. Er fixierte mich mit einem giftigen Blick und nickte dann Scarsdale mit so etwas wie widerwilligem Respekt zu. Er erinnerte mich an einen mürrischen Schüler, der vor einen strengen Rektor trat.

»Guten Morgen, Carl«, sagte Scarsdale und übernahm die Initiative. »Es tut uns Leid, dich zu stören.«

Seine Stimme hatte einen missbilligenden Unterton. Erst als Brenner das hörte, schien er sich seines Aufzugs bewusst zu werden.

»Ich bin gerade aufgestanden«, sagte er unnötigerweise. Seine Stimme klang noch verschlafen. »Bin erst spät nach Hause gekommen.«

Scarsdales Miene schien zu sagen, dass er darüber hinwegsehen würde. Nur dieses eine Mal. »Dr. Hunter will dich etwas fragen.«

Brenner versuchte nicht, seine Feindseligkeit zu verbergen, als er mich anstarrte. »Interessiert mich einen Schei …« Er bremste sich. »Interessiert mich nicht, was er will.«

Scarsdale erhob die Hände, ganz der geduldige Friedensstifter. »Mir ist klar, dass wir hier einfach so eindringen, aber er meint, es könnte wichtig sein. Ich möchte gerne, dass du ihm zuhörst.« Er wandte sich an mich und gab zu erkennen, dass er alles getan hatte, was in seiner Macht stand. Mir war bewusst, dass Scott und die Mutter mich beobachteten, als ich sprach.

»Sie wissen, dass Ben Anders verhaftet worden ist«, sagte ich. Brenner nahm sich Zeit mit der Antwort. Er lehnte sich gegen den Tisch und verschränkte seine Arme.

»Und?«

»Wissen Sie etwas darüber?«

»Warum sollte ich?«

»Die Polizei hat einen Tipp bekommen. Von Ihnen?«

Er wurde sofort aggressiv. »Was geht Sie das an?«

»Wenn es so war, würde ich gerne wissen, ob Sie ihn wirklich gesehen haben.«

Er kniff seine Augen zusammen. »Beschuldigen Sie mich?«

»Hören Sie, ich möchte einfach nicht, dass die Polizei Zeit verschwendet.«

»Wie kommen Sie darauf? Es wird Zeit, dass die Leute merken, was für ein Arschloch Anders ist.«

Scott wackelte unruhig auf seinem Stuhl umher. »Ich weiß nicht, Carl, vielleicht war er nicht …«

Brenner fauchte ihn an. »Wer hat dich gefragt, verflucht nochmal? Halt die Klappe.«

»Es geht doch nicht nur um Ben Anders«, sagte ich, während sein jüngerer Bruder zusammenzuckte und sich wegduckte. »Um Himmels willen, verstehen Sie das denn nicht?«

Brenner stieß sich mit geballten Fäusten vom Tisch ab. »Scheiße, für wen halten Sie sich eigentlich? Als wir sie gestern Abend angehalten haben, waren Sie zu hochnäsig, um mit uns zu reden. Und jetzt kommen Sie hierher und wollen mir erzählen, was ich zu tun habe?«

»Ich möchte nur, dass Sie die Wahrheit sagen.«

»Jetzt nennen Sie mich also einen Lügner?«

»Sie spielen mit dem Leben eines anderen Menschen!«

Er grinste gehässig. »Na und? Von mir aus können sie das Arschloch hängen.«

»Es geht mir nicht um ihn!«, rief ich. »Was ist mit der Frau? Was passiert solange mit ihr?«

Sein Grinsen verschwand. Er sah aus, als wäre ihm dieser Zusammenhang noch nie in den Sinn gekommen. Er zuckte mit den Achseln, doch nun war er defensiv.

»Sie ist wahrscheinlich schon tot.«

Scarsdale hielt mich zurück, als ich einen Schritt auf Brenner zumachte. Mit großer Mühe appellierte ich ein letztes Mal an Carl.

»Der Mörder hält seine Opfer drei Tage gefangen, ehe er sie tötet«, sagte ich und kämpfte darum, ruhig zu bleiben. »Er hält sie am Leben, damit er Gott weiß was mit ihnen anstellen kann. Heute ist der zweite Tag, und die Polizei versucht noch immer, Ben Anders zu einem Geständnis zu bewegen. Nur weil jemand gesagt hat, er hätte ihn vor Jenny Hammonds Haus gesehen.«

Ich konnte nicht mehr. »Bitte«, fuhr ich nach einem Augenblick fort. »Bitte, wenn Sie es waren, dann sagen Sie es der Polizei.«

Die anderen starrten mich fassungslos an. Niemand, der nichts mit der Ermittlung zu tun hatte, wusste, dass die Opfer gefangen gehalten worden waren. Mir war klar, dass Mackenzie an die Decke gehen würde, wenn er wusste, dass ich es diesen Leuten erzählt hatte. Es war mir egal. Meine ganze Aufmerksamkeit war auf Brenner konzentriert.

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen«, brummte er, doch ich konnte die Unsicherheit in seinem Gesicht sehen. Er konnte keinem von uns in die Augen sehen.

»Carl …?«, sagte seine Mutter zögernd.

»Ich sagte, ich habe keine Ahnung, okay?«, blaffte er, plötzlich wieder zornig. Er wandte sich an mich. »Sie haben Ihre Frage gestellt, jetzt verpissen Sie sich!«

Ich weiß nicht, was geschehen wäre, wenn Scarsdale nicht dabei gewesen wäre. Er trat schnell zwischen uns. »Jetzt reicht’s!« Er sah Brenner an. »Carl, ich verstehe, dass du aufgebracht bist, aber ich wäre dir dankbar, solche Worte nicht in meiner Anwesenheit zu benutzen. Auch nicht vor deiner Mutter.«

Brenner sah nach dieser Zurechtweisung alles andere als glücklich aus, doch Scarsdales Glaube an seine Autorität war unerschütterlich. Der Pfarrer wandte sich an mich.

»Dr. Hunter, Sie haben Ihre Antwort bekommen. Ich glaube, es gibt keinen Grund mehr für Sie, noch länger hier zu bleiben.«

Ich rührte mich nicht. Ich starrte Brenner an und war überzeugter denn je, dass er Ben aus purem Trotz belastet hatte. Beim Anblick seiner mürrischen Miene hätte ich am liebsten die Wahrheit aus ihm herausgeprügelt.

»Wenn ihr irgendetwas passiert«, sagte ich mit einer Stimme, die mir selbst fremd war, »wenn sie stirbt, weil Sie gelogen haben, dann bringe ich Sie eigenhändig um, das schwöre ich Ihnen.«

Die Drohung schien dem Raum alle Luft zu nehmen. Ich spürte, wie Scarsdale meinen Arm nahm und mich zur Tür lotste. »Kommen Sie, Dr. Hunter.«

Als ich an Scott Brenner vorbeikam, blieb ich einen Moment stehen. Leichenblass und mit großen Augen schaute er hoch zu mir. Dann hatte mich Scarsdale in den Flur gedrängt.

Schweigend gingen wir zurück zum Landrover. Erst als wir auf der Straße zurück ins Dorf waren, fühlte ich mich wieder dazu in der Lage zu sprechen.

»Er lügt.«

»Wenn ich gewusst hätte, dass Sie die Kontrolle verlieren, hätte ich niemals eingewilligt, Sie zu begleiten«, entgegnete Scarsdale erregt. »Ihr Verhalten war skandalös.«

Ich schaute ihn erstaunt an. »Skandalös? Er hat einen unschuldigen Mann verraten, ohne sich darum zu scheren, was deswegen passieren könnte!«

»Dafür haben Sie keinen Beweis.«

»Ach, hören Sie auf! Sie haben ihn doch gesehen!«

»Alles, was ich gesehen habe, waren zwei Männer, die die Beherrschung verloren haben.«

»Das ist doch nicht Ihr Ernst! Wollen Sie mir sagen, Sie glauben wirklich nicht, dass Brenner der Polizei den Tipp gegeben hat?«

»Es steht mir nicht zu, darüber zu urteilen.«

»Das verlange ich auch nicht. Kommen Sie einfach mit mir zur Polizei und sagen Sie den Beamten, dass Sie der Meinung sind, sie sollten mit Brenner sprechen!«

Er reagierte nicht sofort. Als er es tat, war es keine direkte Antwort. »Sie sagten vorhin, dass die Opfer nicht sofort getötet worden sind. Woher wissen Sie das?«

Aus Gewohnheit zögerte ich, doch nun war es mir egal, wer Bescheid wusste. Es spielte keine Rolle mehr. »Weil ich die Leichen untersucht habe.«

Überrascht wirbelte er zu mir herum. »Sie?«

»Ich war einmal ein Experte auf diesem Gebiet. Bevor ich hierher gezogen bin.«

Scarsdale brauchte einen Moment, um diese Neuigkeit zu verdauen. »Sie meinen, Sie waren an der Polizeiermittlung beteiligt?«

»Man hat mich um Hilfe gebeten, ja.«

»Verstehe.« Seiner Stimme war anzuhören, dass ihm die Sache nicht gefiel. »Und Sie haben beschlossen, das geheim zu halten.«

»Das ist eine heikle Arbeit. Ich wollte nicht, dass darüber geredet wird.«

»Natürlich. Wir sind schließlich nur dummes Volk vom Land. Ich nehme an, unsere Ignoranz hat Sie amüsiert?«

Zwei Farbflecken waren auf seinen Wangen entstanden. Die Sache missfiel ihm nicht nur, merkte ich, sondern er war wütend. Einen Augenblick lang verwirrte mich seine Reaktion, aber dann verstand ich. Er hatte seine wachsende Bedeutung im Dorf genossen und sich als Führer Manhams gesehen. Und jetzt musste er entdecken, dass die ganze Zeit noch jemand anderes eine zentrale Rolle gespielt hatte und in Informationen eingeweiht gewesen war, die man ihm vorenthalten hatte. Das war ein Schlag für seinen Stolz. Und, was noch schlimmer war, für sein Ego.

»So war es nicht«, sagte ich ihm.

»Nein? Komisch, dass Sie mir erst davon erzählt haben, als Sie etwas von mir wollten. Jetzt verstehe ich erst, wie naiv ich war. Aber ich kann Ihnen versichern, dass ich mich nicht mehr für dumm verkaufen lassen werde.«

»Niemand wollte Sie für dumm verkaufen. Sollte ich Sie gekränkt haben, tut es mir Leid, aber es geht doch nicht um uns!«

»Natürlich nicht. Und von nun an können Sie sicher sein, dass ich die Sache den Experten überlassen werde.« Er sagte es mit bitterem Spott. »Ich bin schließlich nur ein bescheidener Pfarrer.«

»Hören Sie, ich brauche Ihre Hilfe. Ich kann nicht …«

»Ich glaube nicht, dass wir uns noch etwas zu sagen haben«, entgegnete er.

Der Rest der Fahrt verlief schweigend.